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Document 52022SC0428

ARBEITSUNTERLAGE DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN EVALUIERUNG (ZUSAMMENFASSUNG) Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer

SWD/2022/428 final

Brüssel, den 19.12.2022

SWD(2022) 428 final

ARBEITSUNTERLAGE DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN

EVALUIERUNG (ZUSAMMENFASSUNG)

Richtlinie 2011/36/EU

zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer

{COM(2022) 732 final} - {SEC(2022) 445 final} - {SWD(2022) 425 final} - {SWD(2022) 426 final} - {SWD(2022) 427 final}


1. Einleitung

Menschenhandel ist eine besonders schwere Straftat und stellt einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Grundrechte dar, der nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich verboten ist. Die Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels 1 bildet seit dem Jahr 2011 das Rückgrat der Anstrengungen der EU im Kampf gegen den Menschenhandel. 2 In der EU-Strategie für eine Sicherheitsunion 3 wies die Kommission auf die hohe Beteiligung der organisierten Kriminalität am Menschenhandel und den hohen menschlichen Preis hin, den diese Straftat fordert. In der am 14. April 2021 angenommenen Strategie der EU zur Bekämpfung des Menschenhandels 2021–2025 4 räumte die Kommission ein, dass die Richtlinie möglicherweise nicht mehr für ihre Zwecke geeignet ist. Infolgedessen wurde in der Strategie als eine der wichtigsten Maßnahmen festgelegt, die Umsetzung der Richtlinie zur Bekämpfung des Menschenhandels zu bewerten und gegebenenfalls auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Bewertung eine Überarbeitung vorzuschlagen.

Die Bewertung basiert auf einer umfassenden Sekundärforschung, für die unter anderem die zweijährlichen Berichte der Kommission über die Fortschritte bei der Bekämpfung des Menschenhandels und EU-weite Datenerhebungen herangezogen und eingehende Konsultationen der Interessenträger durchgeführt wurden, unter anderem und insbesondere der Mitgliedstaaten, der EU-Agenturen und von Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Bewertung betrifft den Zeitraum zwischen dem Ende der Umsetzungsfrist am 6. April 2013 und dem Ende der öffentlichen Konsultation am 22. März 2022.

2. Entwicklung der Problematik im Bewertungszeitraum

Den von Eurostat erhobenen Daten zufolge wurden im Berichtszeitraum 2013–2020 55 314 Opfer des Menschenhandels registriert. Die tatsächliche Zahl der Opfer des Menschenhandels in der EU ist jedoch wahrscheinlich deutlich höher, da in diesen Daten lediglich die von Registrierungsstellen erfassten Opfer berücksichtigt werden. Sexuelle Ausbeutung war im Berichtszeitraum durchgehend der häufigste Zweck des Menschenhandels; bei der überwiegenden Mehrheit der Opfer handelte es sich um Frauen und Mädchen (93 %). Die Ausbeutung der Arbeitskraft nahm im Zeitverlauf zu und war mit 20 % aller Registrierungen durchgehend die zweithäufigste Form der Ausbeutung. Die Zahl der minderjährigen Opfer stieg ebenfalls und machte etwa ein Fünftel (21 %) aller in der EU registrierten Opfer aus. Drei Viertel (75 %) der Opfer des Menschenhandels waren Frauen und Mädchen.

Mehr als die Hälfte (56 %) der registrierten Opfer waren EU-Bürgerinnen oder ‑Bürger, 44 % waren Drittstaatsangehörige. 36 % aller registrierten Opfer waren Staatsangehörige des Landes, in dem sie registriert wurden.

Die Zahl der Verfolgungen und Verurteilungen war nach wie vor gering, insbesondere im Vergleich zur Zahl der Opfer; dadurch wird möglicherweise die Entwicklung einer Kultur der Straflosigkeit der Menschenhändler begünstigt. Im Berichtszeitraum wurden 40 028 Personen eines Menschenhandelsdelikts verdächtigt, 21 824 Personen strafrechtlich verfolgt und 11 319 Personen verurteilt.

Menschenhandel ist noch immer mit einem geringen Risiko und hohen Gewinnen verbunden und bringt jährlich schätzungsweise etwa 29,4 Mrd. EUR 5 ein. Die jährlichen Gewinne aus dem Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung werden auf etwa 14 Mrd. EUR 6 geschätzt.

Seit der Verabschiedung der Richtlinie wurde die sozioökonomische Lage durch mehrere bedeutende Entwicklungen beeinträchtigt, was erhebliche Auswirkungen auf den Menschenhandel hatte.

Die technologischen Entwicklungen und die zunehmende Nutzung der sozialen Medien eröffneten den Menschenhändlern neue Möglichkeiten, sodass sie mittlerweile ihre Opfer im Internet anwerben und mit Online-Streams und der umfassenden Verbreitung von ausbeuterischen Inhalten ein deutlich größeres Publikum erreichen können. 7 Der Menschenhandel, insbesondere der Menschenhandel zum Zwecke der Ausbeutung der Arbeitskraft und der sexuellen Ausbeutung, wird voraussichtlich zunehmen, da der wirtschaftliche Abschwung infolge der COVID-19-Pandemie eine steigende Nachfrage nach billigen Arbeitskräften und sexuellen Diensten nach sich ziehen könnte. 8 Aus dem Krieg in der Ukraine entstanden den Menschenhändlern weitere Möglichkeiten, sich die prekäre Situation der vor der militärischen Aggression fliehenden Menschen, bei denen es sich hauptsächlich um Frauen und Minderjährige handelt, zunutze zu machen. 9  

Nach Angaben von Europol ist der Menschenhandel eine der Hauptaktivitäten der in der EU operierenden Gruppen organisierter Kriminalität, und auch die Nachfrage nach sexueller Ausbeutung und Ausbeutung der Arbeitskraft wird nicht abreißen. 10

3. Wesentliche Ergebnisse der Bewertung

3.1 Wirksamkeit

Die Richtlinie ist mit Blick auf die Bekämpfung des Menschenhandels insgesamt wirksam. Mit ihr wurde auf EU-Ebene eine gemeinsame Basis für das Vorgehen gegen diese Straftat geschaffen und eine stärkere Harmonisierung der nationalen strafrechtlichen Bestimmungen erreicht. Allerdings bestehen noch immer Probleme hinsichtlich der Auslegung des Begriffs des Menschenhandels in den einzelnen Mitgliedstaaten, durch welche die Wirksamkeit der Richtlinie unter anderem mit Blick auf den grenzüberschreitenden Menschenhandel und bestimmte Formen der Ausbeutung beeinträchtigt wird, die in der Begriffsbestimmung des Menschenhandels nicht erfasst sind.

Es wurde eine Reihe von Defiziten im Zusammenhang mit Ermittlungen und Strafverfolgungen wegen Menschenhandelsdelikten festgestellt, insbesondere wenn es um den Ausbau der Kapazitäten der Strafverfolgungs- und Justizbehörden für die Durchführung von Finanzermittlungen, die Bewältigung der mit der zunehmenden Digitalisierung des Menschenhandels verbundenen Herausforderungen und die Beschlagnahme und Einziehung der Tatwerkzeuge und Erträge aus dem Menschenhandel geht. Ein wichtiger Bereich, in dem Verbesserungen vonnöten sind, betrifft abschreckendere Maßnahmen gegen juristische Personen mit dem Ziel der Verhütung, Aufdeckung und Bekämpfung des Menschenhandels.

Die Bewertung ergab, dass sich Probleme im Zusammenhang mit der Unterstützung und Betreuung sowie dem Schutz der Opfer im Wesentlichen aus der lückenhaften Umsetzung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten insbesondere in den folgenden Bereichen ergeben:

-Anwendung der Grundsätze des Verzichts auf Strafverfolgung und der Straffreiheit der Opfer;

-Schutz der Opfer in Strafverfahren;

-Bereitstellung von auf die spezifischen Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Opfer, insbesondere Minderjähriger und schutzbedürftiger Personengruppen, zugeschnittenen Unterstützungs- und Betreuungsdienste;

-Zugang zu Entschädigung.

Die Richtlinie hat mit dazu beigetragen, dass Mechanismen für die frühzeitige Erkennung der Opfer und ihre Verweisung an Unterstützungs-, Betreuungs- und Schutzdienste eingerichtet wurden. Hinsichtlich der Funktionsweise dieser Mechanismen und ihrer Koordinierung auf nationaler und grenzüberschreitender Ebene bestehen jedoch weiterhin einige Lücken, durch welche die Erkennung der Opfer und ihre Verweisung an geeignete Dienste, die ihren besonderen Bedürfnissen Rechnung tragen, beeinträchtigt werden könnten.

Auch im Hinblick auf die Verringerung der Nachfrage durch Rechtsvorschriften zeigt die Richtlinie nur begrenzte Wirkung. Die fakultative Bestimmung, nach der die wissentliche Inanspruchnahme der von Opfern des Menschenhandels erbrachten Dienste unter Strafe gestellt werden sollte, wurde bislang nicht von allen Mitgliedstaaten umgesetzt, und die Mitgliedstaaten, in denen eine Umsetzung erfolgt ist, verfolgen diesbezüglich sehr unterschiedliche Ansätze. Im Zuge der Bewertung wurde festgestellt, dass es oftmals schwierig ist, die Kenntnis nachzuweisen, wenngleich die Daten nicht den Schluss zulassen, dass eine Streichung des Erfordernisses der Kenntnis eine höhere Zahl von Strafverfolgungen und Verurteilungen nach sich zöge. Die Interessenträger waren unterschiedlicher Meinung zu der Frage, ob diese Maßnahme tatsächlich eine Verringerung der Nachfrage zur Folge hätte.

Grundsätzlich ist aufgrund der bestehenden Lücken in der Erhebung von Daten über den Menschenhandel nur in begrenztem Maße eine Bewertung der Wirksamkeit der Richtlinie möglich, da die Daten unter Umständen nicht uneingeschränkt zuverlässig und vergleichbar sind. Die Einschätzung der Bedrohungslage und des Ausmaßes des Menschenhandels wird durch die Schwierigkeiten bei der Aufdeckung und die geringe Zahl der Meldungen seitens der Opfer beeinträchtigt, die oftmals emotional oder wirtschaftlich von den Menschenhändlern abhängig sind.

3.2 Effizienz

Es wurde festgestellt, dass die Richtlinie effizient ist, dass also die mit ihrer Verabschiedung, Umsetzung und Durchführung verbundenen Kosten durch ihren Nutzen aufgewogen wurden. Die Bewertung ergab, dass durch die Nichtdurchführung der Richtlinie erhebliche Kosten entstanden sind, da der Menschenhandel mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten verbunden ist, die sich aus Maßnahmen zu seiner Bekämpfung, der Bereitstellung von Unterstützungs‑, Betreuungs- und Schutzdiensten sowie der entgangenen Wirtschaftsleistung und dem Verlust an Lebensqualität für die Opfer ergeben. Ungeachtet der Kostenwirksamkeit der Richtlinie werden auf nationaler Ebene keine angemessenen Finanzmittel für die Bekämpfung des Menschenhandels bereitgestellt, wodurch seine Verhütung, die einschlägigen Ermittlungen und Strafverfolgungen sowie die Unterstützung und Betreuung der Opfer beeinträchtigt werden.

3.3 Kohärenz

Es wurde festgestellt, dass die Richtlinie mit allen einschlägigen EU- und internationalen Initiativen in Einklang steht, die im Rahmen der Bewertung berücksichtigt wurden. Hinsichtlich der Kohärenz mit der Richtlinie 2009/52/EG 11 (Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber) besteht jedoch Verbesserungsbedarf.

3.4 Mehrwert

Im Zuge der Bewertung wurde deutlich, dass durch die Richtlinie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit – unter anderem mit Unterstützung der EU-Agenturen – verbessert und somit ein EU-Mehrwert hinsichtlich der Bekämpfung des Menschenhandels geschaffen wurde. Des Weiteren trug die Richtlinie in den Mitgliedstaaten und auf EU-Ebene zur Förderung der institutionellen Entwicklungen im Bereich der Bekämpfung des Menschenhandels bei, insbesondere mit Blick auf die Einrichtung der nationalen Berichterstatter oder gleichwertiger Mechanismen, die Schaffung des Amtes eines EU-Koordinators für die Bekämpfung des Menschenhandels und die Überwachung der Entwicklungen im Bereich des Menschenhandels auf der Grundlage der Berichterstattung und – ungeachtet der oben erwähnten Lücken – der EU-weiten Datenerhebung.

3.5 Relevanz

Schließlich ergab die Bewertung, dass die Ziele der Richtlinie nach wie vor relevant sind, wenngleich mehrere Entwicklungen der letzten Jahre ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Die Tatsache, dass in jeder Phase des Menschenhandels Technologien eingesetzt werden, gibt Anlass zu großer Besorgnis und stellt eine wachsende Bedrohung dar. Zahlreiche Interessenträger wiesen darauf hin, dass dieser Aspekt in der Richtlinie berücksichtigt und die Fähigkeit der einschlägigen Akteure, im Internet gegen Menschenhandel vorzugehen, ausgebaut werden muss. Des Weiteren wurde im Rahmen der Bewertung deutlich, dass die Richtlinie für den Privatsektor weniger relevant war, insbesondere für Arbeitgeber und Technologieunternehmen.

4. Schlussfolgerungen

Die Richtlinie ist ein wichtiger Meilenstein für die Bekämpfung des Menschenhandels. Im Zuge der Bewertung wurde deutlich, dass die allgemeinen Ziele der Richtlinie, d. h. die Bekämpfung der organisierten und sonstigen Kriminalität, insbesondere von Menschenhandel und Straftaten gegen Kinder, durch die Schaffung eines kohärenteren Rahmens für die Bekämpfung des Menschenhandels und 2) die Steigerung der Wirksamkeit des Rechtsrahmens erreicht wurden. Allerdings wurde bei der Bewertung auch eine Reihe von Defiziten festgestellt, durch welche die vollständige Ausschöpfung ihres Potenzials insbesondere hinsichtlich der Prävention, der Strafverfolgung, der Unterstützung der Opfer und der Überwachung verhindert wird. Auf dieser Grundlage können die Defizite entweder durch eine Verbesserung der Durchführung der Richtlinie oder aber durch die stärkere Berücksichtigung bestimmter rechtlicher Aspekte oder die Aktualisierung der bestimmte Aspekte betreffenden Vorschriften behoben werden.

Die Richtlinie hat dazu beigetragen, auf EU-Ebene eine gemeinsame Basis für die Definition des Straftatbestands, die Festlegung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Strafen und die Einführung von Bestimmungen zur Verhütung des Menschenhandels, zur Unterstützung und Betreuung der Opfer sowie zu deren Schutz zu schaffen. In der Richtlinie sind ein geschlechtsspezifischer und opferorientierter Ansatz sowie spezifische Maßnahmen für Kinder vorgesehen. Des Weiteren bewirkt sie eine bessere Koordinierung auf EU-Ebene und eine verstärkte Überwachung der Entwicklungen im Bereich des Menschenhandels.

Die Ergebnisse der Bewertung bestätigen weitgehend die in der Strategie der EU zur Bekämpfung des Menschenhandels 2021–2025 ermittelten Herausforderungen und verbesserungswürdigen Bereiche. Die wichtigsten Maßnahmen der EU-Strategie sind somit äußerst relevant für die Verbesserung der Durchführung der Richtlinie in den Mitgliedstaaten.

(1)

Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates ( ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1).

(2)

Die Richtlinie trat am 5. April 2011 in Kraft, und die Frist für ihre Umsetzung durch die Mitgliedstaaten endete am 6. April 2013.

(3)

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – EU-Strategie für eine Sicherheitsunion, COM(2020) 605 final. Abrufbar unter: Link .

(4)

Strategie der EU zur Bekämpfung des Menschenhandels 2021–2025, COM(2021) 171 final .

(5)

Europol, The trafficking in human beings financial business model, 2015. Abrufbar unter: Link .

(6)

Dies ist eine hohe Schätzung, bei der auch die verborgenen Opfer berücksichtigt werden. Die mittlere Schätzung beläuft sich auf etwa 7 Mrd. EUR. Europäische Kommission, Generaldirektion Migration und Inneres, Mapping the risk of serious and organised crime infiltrating legitimate businesses: final report , Disley, E., Blondes, E., Hulme, S. (Hg.), Amt für Veröffentlichungen, 2021, S. 10.

(7)

Europol, The challenges of countering human trafficking in the digital era, 2020. Abrufbar unter: Link .

(8)

Europol, Beyond the pandemic – How Covid-19 will shape the serious and organized crime landscape in the EU, 2020. Abrufbar unter: Link .

(9)

A Common Anti-Trafficking Plan to address the risks of trafficking in human beings and support potential victims among those fleeing the war in Ukraine. Abrufbar unter: Link .

(10)

Richtlinie 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen ( ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24).

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