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Document 52022IE3263

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit vermitteln“ (Initiativstellungnahme)

    EESC 2022/03263

    ABl. C 100 vom 16.3.2023, p. 24–30 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    16.3.2023   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 100/24


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit vermitteln“

    (Initiativstellungnahme)

    (2023/C 100/04)

    Berichterstatter:

    Cristian PÎRVULESCU

    Ko-Berichterstatter:

    José Antonio MORENO DÍAZ

    Beschluss des Plenums

    20.1.2022

    Rechtsgrundlage

    Artikel 52 Absatz 2 der Geschäftsordnung

     

    Initiativstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    23.11.2022

    Verabschiedung im Plenum

    14.12.2022

    Plenartagung Nr.

    574

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    199/3/4

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die Europäische Union fußt auf gemeinsamen Werten, die in Artikel 2 EUV verankert sind: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind Teil der Europäischen Identität.

    1.2.

    Gemäß der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einem wesentlichen und verbindlichen Dokument, gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität und beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit (1). Die verstärkte Anwendung der Charta ist sowohl eine Verpflichtung als auch eine sinnvolle Möglichkeit, die Menschen zu schützen und ihnen die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte bewusst zu machen. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt zwar sämtliche einschlägige Bemühungen, betont aber die Notwendigkeit einer aktiven und direkten Kommunikation aller Organe und Einrichtungen der EU mit der Öffentlichkeit. Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sind von maßgeblicher Bedeutung und müssen Teil der gemeinsamen staatsbürgerlichen und demokratischen Kultur in Europa werden.

    1.3.

    Die Venedig-Kommission des Europarats hat die wesentlichen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit klar definiert: Rechtmäßigkeit, Rechtssicherheit, Verhinderung von Machtmissbrauch, Gleichheit vor dem Gesetz und Nichtdiskriminierung sowie Zugang zur Justiz (2). Es handelt sich um eindeutige Kriterien, mit denen die Übereinstimmung staatlicher Maßnahmen mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit bewertet werden kann und die vom Europäischen Gerichtshof gebilligt wurden (3).

    1.4.

    Der EWSA fordert alle EU-Institutionen auf, eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu verfolgen. Die EU ist rechtlich dazu verpflichtet, sich für die Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Grundrechte einzusetzen — ungeachtet der Absichten verschiedener politischer Akteure, die dieses Ziel möglicherweise unterminieren.

    1.5.

    Der EWSA verweist auf das Urteil des Gerichtshofs, wonach der Haushalt eines der Instrumente ist, die der Verpflichtung aller Mitgliedstaaten zur Einhaltung der Grundwerte der EU, einschließlich der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, praktische Wirkung verleihen (4).

    1.6.

    Der Jahresbericht der Europäischen Kommission zur Rechtsstaatlichkeit ist ein wertvolles Instrument, das Rückschritte bei Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Grundrechtsschutz verhindern kann. Um zielführend zu sein, muss dieses Instrument jedoch überarbeitet werden. Es sollte so angepasst werden, dass es alle in Artikel 2 EUV genannten Werte, rechtlichen und/oder finanziellen Maßnahmen umfasst, falls die länderspezifischen Empfehlungen nicht vollständig beachtet werden, wie auch eine fünfte Säule, um die nationalen Entwicklungen in Bezug auf den zivilgesellschaftlichen Raum zu überwachen (5).

    1.7.

    Der EWSA hat bereits betont, dass der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle beim Erhalt der Demokratie in Europa zukommt und dass nur eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft Demokratie und Freiheit verteidigen und Europa vor Autoritarismus bewahren kann (6). Darüber hinaus gibt es keine Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie und Grundrechte und umgekehrt; diese drei Konzepte sind untrennbar miteinander verbunden (7). Daher fordert der EWSA alle Interessenträger auf, nicht länger von einer sogenannten illiberalen Demokratie zu sprechen — selbst wenn sie es tun, um diesen Begriff zu kritisieren. Es gibt keine Demokratie ohne liberale Grundsätze.

    1.8.

    An den Anstrengungen zur konkreten Verwirklichung der Rechtsstaatlichkeit sollten mehr Akteure beteiligt werden: Sozialpartner, Berufsverbände wie Anwaltskammern und -vereinigungen sowie Basisorganisationen, die sich für schutzbedürftige Menschen und von Beeinträchtigung, Benachteiligung und Diskriminierung besonders bedrohte Gruppen einsetzen.

    1.9.

    Manche mögen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte als Begriffe wahrnehmen, die allzu abstrakt, wirklichkeitsfern, fachtheoretisch und legalistisch sind. Die wirksame Vermittlung von Rechtsstaatlichkeit erfordert die Konzentration auf gemeinsame Werte und nachvollziehbare Konzepte von Fairness und Gerechtigkeit. Ebenfalls kann es hilfreich sein, die Geschichte eines Menschen zu erzählen, die veranschaulicht, was hinter den Fakten und Statistiken steckt: nämlich ein Gesicht und eine Persönlichkeit.

    1.10.

    Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in den Lehrplänen von Schulen und Hochschulen zu verankern. Politische Bildung sollte ein Pflichtfach sein, das so früh wie möglich und über mehrere Jahre hinweg unterrichtet wird. Darüber hinaus müssen die EU und die Mitgliedstaaten Mittel für die angemessene Ausbildung von Lehrkräften im Bereich der politischen Bildung bereitstellen.

    1.11.

    Der Menschenrechtsrahmen beruht auf dem Grundsatz der Rechenschaftspflicht und erfordert daher Maßnahmen, mit denen ermittelt werden soll, wer für welches Ergebnis verantwortlich ist bzw. welche politischen Veränderungen wünschenswert sind. Es ist auch wichtig, Themen zu ermitteln, die für die breite Öffentlichkeit von großem Interesse sind, wie z. B. Zugang zu Energie, Verkehr, regionale Gleichbehandlung, Arbeit, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und verschiedene andere öffentliche Dienstleistungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene.

    1.12.

    Ein starker Wohlfahrtsstaat ist — unabhängig von seinen verschiedenen Ausprägungen in Europa — dem Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit förderlich. Dieser Zusammenhang wird im Rahmen der europäischen Säule sozialer Rechte anerkannt, die ein wesentliches politisches Instrument für eine inklusivere Union darstellt.

    1.13.

    Bürgerbewegungen und Personen mit Armutserfahrungen müssen im Mittelpunkt eines demokratischen Plädoyers für die Menschenrechte stehen. Die beste Methode zur Verteidigung der Menschenrechte, insbesondere der sozialen Rechte, besteht darin, jenen, die am stärksten von Ungleichheit, Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, im öffentlichen Raum und in politischen Debatten Gehör zu verschaffen.

    2.   Allgemeine Bemerkungen

    2.1.

    Der EWSA bekräftigt seinen in der Stellungnahme SOC/598 (2018) formulierten Standpunkt: „Das Rechtsstaatsprinzip bildet jedoch mit den Garantien zum Schutz der pluralistischen Demokratie und der Achtung der Grundrechte ein eng verwobenes und untrennbares Beziehungsdreieck. Die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, dass die Regierungen die Standards bezüglich der Grundrechte achten, und eine pluralistische Demokratie sorgt dafür, dass die Regierungen so handeln, dass das Wohlergehen der Menschen in ihren Staaten gefördert wird. Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist für sich genommen noch keine Garantie dafür, dass Recht und Gesetze im Einklang mit den Grundrechten stehen oder dass sie in einem inklusiven und rechtmäßigen Verfahren auf der Grundlage einer fundierten, pluralistischen und ausgewogenen öffentlichen Debatte und Partizipation festgelegt wurden. Um eine reine ‚Herrschaft mittels des Rechts‘ zu vermeiden, müssen neben der Rechtsstaatlichkeit die Grundrechte geachtet und pluralistische demokratische Standards aufrechterhalten werden.“ (8)

    2.2.

    Wie die Kommission in ihren Berichten über die Rechtsstaatlichkeit von 2021 und 2022 festgestellt hat, sind u. a. folgende Aspekte notwendig, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die öffentlichen Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten: Vorhandensein eines unabhängigen Justizsystems mit einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, um die Einhaltung des EU-Rechts zu gewährleisten; starkes öffentliches Engagement für die Bekämpfung von Korruption und die Gewährleistung der demokratischen Rechenschaftspflicht; Medienpluralismus und Medienfreiheit, einschließlich der Transparenz der Eigentumsverhältnisse im Medienbereich; transparente konstitutionelle und institutionelle Verfahren zur Gewährleistung von Kontrollen und Gegenkontrollen unter aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft; Stärkung der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit (9). In ihrem Bericht von 2022 unterstreicht die Kommission, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine erhebliche Bedrohung für die Werte der EU und die regelbasierte Weltordnung darstellt: Mit dieser Aggression wird in grober Weise gegen das Völkerrecht und die Grundsätze der UN-Charta verstoßen und die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Sicherheit und Stabilität in Europa und auf der ganzen Welt gefährdet (10).

    2.3.

    Es gibt keine demokratische und repräsentative Regel, die herangezogen werden könnte, um Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte zu rechtfertigen. Die EU-Institutionen und insbesondere die Europäische Kommission müssen alle ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen, um die Integrität der Grundsätze der EU wiederherzustellen.

    2.4.

    Zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsaktivisten spielen eine wesentliche Rolle als Kontrollinstanz vor Ort — insbesondere dann, wenn sich die rechtstaatliche Situation verschlechtert und die Menschenrechte missachtet werden (11). Autoritäre Regierungen bedrohen zivilgesellschaftliche Organisationen nicht nur durch die Einschränkung und Verschiebung der für ihre Tätigkeiten verfügbaren Räume, sondern auch durch persönliche Drohungen und Verfolgung, finanzielle Beschränkungen oder ungenügenden Schutz vor körperlichen oder verbalen Angriffen (12).

    2.5.

    Wie bereits zuvor festgestellt, sollte insgesamt die Fähigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschenrechtsverteidiger, im Rahmen der Grundrechtecharta tätig zu werden, erheblich verbessert werden, und zwar durch ein Paket, das Schulungen und Wissenstransfer, organisatorische und finanzielle Unterstützung sowie den Schutz vor Angriffen und negativen Kampagnen umfasst (13). Zu diesem Zweck ersucht der EWSA die Kommission, eine umfassende Strategie für die europäische Zivilgesellschaft vorzuschlagen, die als Richtschnur für die Zusammenarbeit, den Kapazitätsaufbau und die wirksame Vermittlung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte dienen sollte.

    2.6.

    Nach Ansicht des EWSA leisten zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger einen wesentlichen Beitrag dazu, dass schutzbedürftige Gruppen ernste Bedrohungen für ihre Sicherheit, ihr Wohlergehen und ihre Menschenwürde bewältigen können. Alle Menschen können eines Tages in eine Situation geraten, in der sie Schutz bedürfen. In vielen Fällen überschneiden sich die Gründe der Benachteiligung und führen zu struktureller Marginalisierung und Diskriminierung.

    2.7.

    Die Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte sollten mit Blick auf die Demokratie gewährleistet werden, insbesondere was die Förderung freier und fairer Wahlen und einer starken demokratischen Teilhabe angeht (14). Wer in der Lage ist, die Rechtsstaatlichkeit in Frage zu stellen, versucht auch, gegen die politische Opposition und unabhängige Massenmedien vorzugehen. Der Aktionsplan für Demokratie in Europa (EDAP) ist ein notwendiger Schritt in diese Richtung.

    2.8.

    Die Sozialpartner spielen bei der Vermittlung von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten eine maßgebliche Rolle. Die Verschlechterung des politischen und rechtlichen Klimas in einem Land wirkt sich auf sämtliche Arbeitsbereiche aus. Betriebe, KMU und Sozialunternehmen können ohne Rechtsstaatlichkeit und Systeme zum Schutz der Grundrechte nicht wirksam funktionieren. Die Sozialpartner sollten verbindliche Schritte unternehmen, um ihre Integrität und ihren Wirkungsgrad zu verbessern. Die Arbeitnehmer müssen die Freiheit haben, eine Gewerkschaft ihrer Wahl zu gründen und ihr beizutreten, und die Gewerkschaften müssen frei agieren können (15). Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen und im Falle von Interessenkonflikten Arbeitskampfmaßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen zu ergreifen, einschließlich Streiks (16).

    2.9.

    Die Agentur für Grundrechte verfügt über beträchtliche Kapazitäten zur Sammlung relevanter Informationen. Sie hat bereits eine umfassende Wissensbasis aufgebaut, die von allen interessierten Akteuren genutzt werden kann. Ihre soliden Fachkenntnisse sollten die Grundlage für eine Verstärkung ihrer Öffentlichkeitsarbeit bilden. Die Agentur sollte mehr Mittel für die öffentliche Kommunikation in allen EU-Mitgliedstaaten erhalten. Es bedarf der Zusammenarbeit mit spezialisierten Einrichtungen wie dem Europarat und dem OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR).

    2.10.

    Die EU ist auch ein globaler Akteur und hat eine Verantwortung für die Achtung von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten, die für ihre Identität und Rolle auf internationaler Ebene von zentraler Bedeutung ist. Alle außenpolitischen Strategien, Programme, Instrumente und Maßnahmen sollten die Tatsache widerspiegeln, dass es sich hier um eine Kernfrage für die EU handelt, die auch für eine demokratische und friedliche Welt wichtig ist.

    3.   Besondere Bemerkungen

    3.1.   Positives Narrativ und positive Kontextualisierung

    3.1.1.

    Die politische Bildung in Bezug auf die Grundsätze der Demokratie, die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit sollte auf allen Ebenen intensiviert werden. Die Kommission sollte ebenso mit einer ehrgeizigen Kommunikationsagenda weiterhin zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit beitragen (17).

    3.1.2.

    Der Gründungsmythos der EU allein reicht heute nicht mehr aus, um auf die Menschen in Europa zu wirken. Die EU sollte Narrative für eine erstrebenswerte Zukunft entwickeln und Kerngrundsätze, die im Prozess der europäischen Integration eine wichtige Rolle gespielt haben, wie u. a. die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, wieder in den Vordergrund rücken (18). Dies ist vor dem Hintergrund der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine besonders wichtig.

    3.1.3.

    Der Menschenrechtsrahmen beruht auf dem Grundsatz der Rechenschaftspflicht und erfordert daher Maßnahmen, mit denen ermittelt werden soll, wer für welches Ergebnis bzw. welche angestrebten politischen Veränderungen verantwortlich ist. Es ist auch wichtig, Themen zu ermitteln, die für die breite Öffentlichkeit von großem Interesse sind, wie z. B. Zugang zu Verkehrsmitteln, Energie, Arbeit, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und verschiedene andere öffentliche Dienstleistungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Man darf sich nicht auf Kritik an Situationen beschränken, die nicht im Einklang mit Menschenrechtsstandards stehen. Vielmehr sollte man ein Zukunftsszenario beschreiben, zu dem Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte beitragen können, wobei positive Assoziationen in der Öffentlichkeit hervorgerufen werden sollten (19).

    3.1.4.

    Es gibt keine Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie und Grundrechte und umgekehrt; diese drei Konzepte sind untrennbar miteinander verbunden (20). Daher fordert der EWSA alle Interessenträger auf, nicht länger von einer sogenannten illiberalen Demokratie zu sprechen — selbst wenn sie es tun, um diesen Begriff zu kritisieren. Es gibt keine Demokratie ohne liberale Grundsätze. Die illiberale Demokratie ist keine Alternative oder schon gar keine verwässerte Form der Demokratie. Illiberale Demokratie ist keine Demokratie.

    3.2.   Notwendige Maßnahmen und relevante Politikbereiche

    3.2.1.

    Wie der EWSA bereits zuvor festgestellt hat, besteht ein Zusammenhang zwischen einer von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommenen oder tatsächlichen mangelnden Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand einerseits und einer negativen Einstellung gegenüber öffentlichen Institutionen und Grundprinzipien andererseits (21).

    3.2.2.

    Um die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit zu verfechten, müssen Maßnahmen gefunden werden, die den Alltag der Menschen verbessern können.

    3.2.3.

    Ein starker Wohlfahrtsstaat ist — unabhängig von seinen verschiedenen Ausprägungen in Europa — dem Schutz der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit förderlich. Diese Verflechtung wird in der europäischen Säule sozialer Rechte anerkannt, einem wesentlichen politischen Instrument für den Aufbau einer inklusiveren Union (22). Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf eine gerechte Entlohnung, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht (6. Grundsatz der Säule), und jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen (14. Grundsatz) (23).

    3.2.4.

    Die COVID-19-Pandemie erinnert daran, wie wichtig ein universelles, zugängliches und gerechtes Gesundheitswesen ist. Der EWSA bekräftigt seinen in der Stellungnahme SOC/691 (2022) formulierten Standpunkt: „Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten eine umfassende gesellschaftliche Reflexion über die Ursprünge der Krise und die Frage einleiten, warum die meisten europäischen Gesundheitssysteme aufgrund der Pandemie an den Rand des Zusammenbruchs geraten sind. Eine jahrelange Sparpolitik hat zu einem allgemeinen Investitionsrückgang im Gesundheitssektor und bei anderen wichtigen sozialen Dienstleistungen (Hilfe für abhängige und schutzbedürftige Personen, Pflegeheime usw.) geführt. Dadurch wurde eine Zeitbombe gelegt, die angesichts der großen Herausforderungen im Gesundheitsbereich explodiert ist.“ (24)

    3.2.5.

    Die Pandemie ist nicht die einzige Krise, die sich auf die Grundrechte auswirkt. Der Krieg in der Ukraine gefährdet Millionen von Menschen in der Ukraine und der ganzen Welt. Der Klimawandel und die damit verbundenen Herausforderungen und Extremereignisse wie Waldbrände betreffen Menschen überall in Europa auf unmittelbare Weise. Viele Menschen in Europa haben mit steigenden Energiepreisen zu kämpfen. Die europäischen Handlungsinstrumente sollten aktualisiert und entsprechend angepasst werden.

    3.2.6.

    Maßnahmen, insbesondere wirtschaftspolitische Reformmaßnahmen, sollten auf systematischen Ex-ante- und Ex-post-Folgenabschätzungen (25) der Menschenrechtslage beruhen‚ um sachkundige und alle einbeziehende nationale Debatten über die Vermittlung zwischen politischen Weichenstellungen und deren Anpassung zu begünstigen (26).

    3.2.7.

    Titel III (Gleichheit) und Titel IV (Solidarität) der Grundrechtecharta als Kernelemente der demokratischen und wertebasierten Legitimation der EU sollten stärker in den Vordergrund gerückt werden (27). Alle in der Charta anerkannten Menschenrechte sind unteilbar, voneinander abhängig und gleichermaßen bedeutsam. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer wegweisenden Rechtssache festgestellt hat, gibt es keine unverkennbare Trennlinie zwischen sozioökonomischen Rechten und bürgerlichen und politischen Rechten (28).

    3.2.8.

    Eine weitere Zusammenarbeit zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten wäre wünschenswert, um sicherzustellen, dass alle Bürger und Einwohner sämtliche Rechte genießen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Sozialcharta (in ihren vielfältigen Ausprägungen) und den einschlägigen UN-Menschenrechtsübereinkommen anerkannt sind. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, bei der Gestaltung, Auslegung und Umsetzung des EU-Rechts der europäischen Säule sozialer Rechte und der Europäischen Sozialcharta gebührend Rechnung zu tragen.

    3.2.9.

    Der EWSA ersucht alle Mitgliedstaaten, die (überarbeitete) Europäische Sozialcharta von 1996 zu unterzeichnen und zu ratifizieren und das Kollektivbeschwerdeverfahren des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte zu akzeptieren.

    3.2.10.

    Der EWSA unterstützt die Initiative der Kommission, die es ermöglichen soll, wirtschaftliche Abhilfemaßnahmen gegenüber einem Mitgliedstaat zu ergreifen, der schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Werte nach Artikel 2 EUV begeht (29). „[…] Die Kommission [muss] angemessene personelle und finanzielle Ressourcen bereitstellen und Hinweise auf mögliche Verstöße konsequent verfolgen. Hierbei muss die Kommission strikt objektive Kriterien anwenden und Verstöße in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen untersuchen (30)“.

    3.3.   Ein demokratisches Plädoyer für die Menschenrechte und die Bedeutung gelebter Demokratie

    3.3.1.

    Einer breit angelegten Umfrage der Agentur für Grundrechte zufolge sind fast neun von zehn Personen in der EU der Ansicht, dass die Menschenrechte für die Schaffung einer gerechteren Gesellschaft wichtig sind (31). Die Europäerinnen und Europäer glauben, dass die Menschenrechte eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen können.

    3.3.2.

    Zur Verwirklichung der Menschenrechte in ganz Europa müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Relevanz der Menschenrechte — beispielsweise der sozialen Rechte wie Arbeit, soziale Sicherheit, Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung — für alle Personen in ihrem Alltag und an den für sie wichtigsten Orten sowie innerhalb ihrer lokalen Gemeinschaft — herauszustellen (32).

    3.3.3.

    Bürgerbewegungen und Personen mit Armutserfahrungen müssen im Mittelpunkt eines demokratischen Plädoyers für die Menschenrechte stehen. Die beste Methode zur Verteidigung der Menschenrechte, insbesondere der sozialen Rechte, besteht darin, jenen, die am stärksten von Ungleichheit, Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, im öffentlichen Raum und in politischen Debatten Gehör zu verschaffen. Ebenfalls kann es hilfreich sein, die Geschichte eines Menschen zu erzählen, die veranschaulicht, was hinter den Fakten und Statistiken steckt: nämlich ein Gesicht und eine Persönlichkeit. Wenn wir die Sozialrechte ernst nehmen möchten, dann brauchen wir nicht nur verschiedene politische Maßnahmen, sondern auch inklusivere Prozesse zu ihrer Umsetzung (33).

    3.3.4.

    Die europäische Gesellschaft kann sich keine trügerische Wahl zwischen „Rechten“ einerseits und „Demokratie“ andererseits leisten. Die Wahrung der Menschenrechte setzt voraus, sie populär zu machen, indem eine Bewegung aufgebaut und gefördert wird, die sich für die Rechte auf lokaler, nationaler und globaler Ebene einsetzt.

    3.3.5.

    Zivilgesellschaftliche Gruppen müssen in diesem Prozess eine Führungsrolle übernehmen, und die Behörden der EU und der Mitgliedstaaten müssen das demokratische Plädoyer für die Menschenrechte fördern, indem sie transparent handeln und respektieren, dass sie von der Zivilgesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden können. Die nationalen Menschenrechtsinstitutionen sollten gestärkt werden und die Bürgerinnen und Bürger für die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe sensibilisieren.

    Brüssel, den 14. Dezember 2022

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 391).

    (2)  Venedig-Kommission des Europarats, Verzeichnis der Kriterien zur Bewertung der Rechtsstaatlichkeit, verabschiedet auf der 106. Plenarsitzung, 2016.

    (3)  Urteil vom 16. Februar 2022 in der Rechtssache C-157/21, Polen gegen Parlament und Rat, EU:C:2022:98, Urteil des EuGH, Randnr. 325.

    (4)  Polen gegen Parlament und Rat, C-157/21, Randnr. 130/131, Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn gegen Parlament und Rat, C-156/21, EU:C:2022:97, Urteil des EuGH, Randnr. 116-117.

    (5)  Laurent Pech/Petra Bard: Rule of Law Report and the EU Monitoring and Enforcement of Article 2 TEU Values, Bericht für den EP-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und den EP-Ausschuss für konstitutionelle Fragen, Februar 2022, S. 12/13.

    (6)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine widerstandsfähige Demokratie durch eine starke und vielfältige Zivilgesellschaft“(Initiativstellungnahme) (ABl. C 228 vom 5.7.2019, S. 24).

    (7)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 8).

    (8)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in den Mitgliedstaaten“ (COM(2018) 324 final — 2018/0136 (COD)) (ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 173).

    (9)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Bericht über die Rechtstaatlichkeit 2021. Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union (COM(2021) 700 final).

    (10)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Bericht über die Rechtstaatlichkeit 2022: Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union, (COM(2022) 500 final).

    (11)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat: Die weitere Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der Union — Aktuelle Lage und mögliche nächste Schritte“ (COM(2019) 163 final) (ABl. C 282 vom 20.8.2019, S. 39).

    (12)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 97 vom 24.3 2020, S. 53) Absatz 1.6.

    (13)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU (COM(2020) 711 final) (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50).

    (14)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Europäischer Aktionsplan für Demokratie“ (COM(2020) 790 final) (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 56).

    (15)  Artikel 8 Absatz 2 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

    (16)  Artikel 28 der EU-Grundrechtecharta.

    (17)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Europäischer Aktionsplan für Demokratie“ (COM(2020) 790 final) (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 56).

    (18)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 53).

    (19)  EU-Agentur für Grundrechte (FRA): 10 Tipps. So vermitteln Sie Menschenrechte wirkungsvoll, 2018; Europäisches Netzwerk nationaler Menschenrechtsinstitutionen (ENNHRI): Tips for Effective Messaging about Economic & Social Rights, 2019.

    (20)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Ein EU-Kontrollmechanismus für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 34 vom 2.2.2017, S. 8).

    (21)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 53).

    (22)  Europäische Kommission: Die europäische Säule sozialer Rechte in 20 Grundsätzen.

    (23)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1).

    (24)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen von COVID-19 auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Zukunft der Demokratie (Initiativstellungnahme) (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 11).

    (25)  Unabhängiger Experte der Vereinten Nationen für die Auswirkungen der Auslandsverschuldung und anderer damit zusammenhängender internationaler finanzieller Verpflichtungen von Staaten auf die uneingeschränkte Wahrnehmung aller Menschenrechte, insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte: Guiding Principles for human rights impact assessments for economic reform policies, VN-Dok. A/HRC/40/57, 19. Dezember 2018.

    (26)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Populismus und Grundrechte im stadtnahen und ländlichen Raum“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 97 vom 24.3.2020, S. 53).

    (27)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU (COM(2020) 711 final) (ABl. C 341 vom 24.8.2021, S. 50).

    (28)  Airey gegen Irland, Urteil in der Hauptsache, Beschwerde Nr. 6289/73 (1979), Urteil des EGMR vom 9. Oktober 1979, Randnr. 26.

    (29)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu den Auswirkungen von COVID-19 auf Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der EU und die Zukunft der Demokratie (Initiativstellungnahme) (ABl. C 275 vom 18.7.2022, S. 11).

    (30)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema ‚Rechtsstaatlichkeit und Aufbaufonds‘ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 194 vom 12.5.2022, S. 27).

    (31)  Agentur für Grundrechte (FRA): Menschenrechte tragen für viele Europäerinnen und Europäer zu einer gerechteren Gesellschaft bei — doch es bleibt noch viel zu tun, Pressemitteilung vom 24. Juni 2020.

    (32)  Casla, Koldo und Barker, Lyle: Human Rights Local, Blog des Zentrums für Menschenrechte — Universität Essex, 17. Januar 2022.

    (33)  Casla, Koldo: Nothing about us, without us, is really for us, Global Policy, 14. Oktober 2019.


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