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Document 52020IR2612

    Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Gleichwertige Lebensverhältnisse — eine gemeinsame Aufgabe für alle Verwaltungsebenen in Europa

    COR 2020/02612

    ABl. C 440 vom 18.12.2020, p. 4–9 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    18.12.2020   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 440/4


    Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Gleichwertige Lebensverhältnisse — eine gemeinsame Aufgabe für alle Verwaltungsebenen in Europa

    (2020/C 440/02)

    Berichterstatter:

    Bernd LANGE (DE/EVP) Landrat des Landkreises Görlitz

    POLITISCHE EMPFEHLUNGEN

    DER EUROPÄISCHE AUSSCHUSS DER REGIONEN

    1.

    bringt seine Besorgnis über die wachsenden wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Ungleichheiten innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedstaaten zum Ausdruck. Die jüngsten Entwicklungen in Europa haben gezeigt, dass die Unterschiede zwischen den Orten und zwischen den Menschen in Bezug auf wirtschaftliche Entwicklung, Beschäftigung und Wohlergehen zunehmen. Diese Unterschiede treten auf allen Ebenen auf, von der sublokalen bis zur europäischen Ebene, und haben ein kritisches Niveau erreicht. Die laufende Debatte über die zurückgelassenen oder „vergessenen“ Orte zeigt deutlich, dass ein stärker standortorientierter Ansatz erforderlich ist, um den entwicklungspolitischen Herausforderungen dieser Orte zu begegnen;

    2.

    weist darauf hin, dass durch die COVID-19-Pandemie in den Mitgliedstaaten die bestehenden Herausforderungen durch die Krise in den meisten Gebieten weiter verstärkt werden. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen und die daraus resultierenden Voraussetzungen für die Erholung sind in den unterschiedlichen Territorien sehr heterogen;

    3.

    bekräftigt, dass aus diesem Grund dem Ziel des territorialen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts gemäß Artikel 174 AEUV weiterhin eine hohe Priorität der Europäischen Union zukommen muss. Zu diesem horizontalen Ziel müssen neben der europäischen Regionalpolitik und der Gemeinsamen Agrarpolitik auch alle anderen Politikbereiche (z. B. die Verkehrs-, Umwelt-, Sozial- und Energiepolitik) der Union beitragen; dies gilt insbesondere auch für die Maßnahmen der EU zum europäischen Grünen Deal und zur weiteren Digitalisierung;

    4.

    weist auf die besondere Situation der Gebiete in äußerster Randlage hin, die in Artikel 349 AEUV anerkannt wird, und unterstreicht die Verpflichtung der EU zur Entwicklung dieser Gebiete durch spezifische Maßnahmen, die ihnen und der gesamten EU zugutekommen;

    5.

    hebt hervor, dass 2017 in der EU jeweils ein Drittel der Bevölkerung in Großstädten mit mehr als 100 000 Einwohnern, in Städten mit einer Größe von 10 000 bis 100 000 Einwohnern sowie in Kleinstädten und ländlichen Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern lebte (1). Die Präsidentin der Europäischen Kommission hat in ihren Leitlinien (2) darauf hingewiesen, dass in den kommunalen Gebietskörperschaften im ländlichen Raum über 50 % der Europäerinnen und Europäer leben;

    6.

    weist darauf hin, dass die europäische Strukturpolitik sich in der Vergangenheit primär mit einer Kohäsion regionaler Gebietskörperschaften (NUTS-1 bzw. NUTS-2) untereinander befasst hat, die Auswirkungen der Maßnahmen auf die darunterliegenden kommunalen Ebenen aber nicht immer ausreichend untersucht und berücksichtigt wurden;

    7.

    stellt fest, dass in den vergangenen Jahren in verschiedenen Mitgliedstaaten und Regionen verstärkte Nettomigrationsströme aus ländlichen in städtische Gebiete zu beobachten waren (3), und ist der Auffassung, dass EU-Maßnahmen mit Blick auf die sich daraus ergebenden Herausforderungen und Chancen einen Beitrag leisten sollten;

    8.

    ist besorgt, dass eine weiter fortschreitende Abwanderung in großstädtische Räume vielerorts zu erheblichen Herausforderungen für die jeweiligen urbanen Zentren, wie z. B. mangelndem Wohnraum, steigenden Mieten, Überlastung der öffentlichen Infrastruktur und sozialen Problemen, führt. Als Folge der Abwanderung kommt es im ländlichen Raum für kleine und mittelgroße Städte und Gemeinden und die dort ansässigen Unternehmen zu großen Herausforderungen. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Infrastruktur und die Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen werden dadurch erschwert, dass die Anzahl der Nutzer ab-, ihr Alter jedoch immer stärker zunimmt und sie mehr Dienstleistungen benötigen, und Unternehmen sind häufig mit einem Fachkräftemangel konfrontiert;

    9.

    verweist in diesem Zusammenhang auf die AdR-Stellungnahme zum Thema „Demografischer Wandel: Vorschläge zur Messung und Bewältigung der negativen Auswirkungen in den Regionen der EU“ (4), die zurzeit ausgearbeitet wird, und die AdR-Stellungnahme zum Thema „Die Herausforderungen für die Metropolregionen und ihre Position in der künftigen Kohäsionspolitik nach 2020“ (5);

    10.

    erinnert daran, dass die Territoriale Agenda der Europäischen Union 2020 als erste von insgesamt sechs Prioritäten die Förderung einer polyzentrischen und ausgewogenen Raumentwicklung vorsieht (6) und dass diesem Ziel auch im Entwurf der Territorialen Agenda 2030 weiterhin eine hohe Bedeutung zukommt;

    11.

    stellt fest, dass auf Ebene der Europäischen Union derzeit kein bereichsübergreifender Ansatz besteht, mit dem durch eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in allen Regionen die Beweggründe für eine Abwanderung und unkontrollierte Urbanisierung bzw. De-Urbanisierung angegangen werden;

    12.

    bekräftigt die hohe Relevanz des Ziels 11 „nachhaltige Städte und Gemeinden“ der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDG), das für jede Art von Umfeld Gültigkeit entfalten muss;

    13.

    ist der Ansicht, dass die flächendeckend erreichbare öffentliche Punktinfrastruktur ebenso wie die flächendeckend verfügbare öffentliche Netzinfrastruktur und flächendeckende öffentliche Dienstleistungen unverzichtbare Voraussetzungen für hochwertige Lebensverhältnisse und eine nachhaltige Entwicklung in allen Gebieten der Europäischen Union sind. In diesem Zusammenhang wird erneut darauf hingewiesen, dass sich die strukturellen Voraussetzungen zwischen und innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten und sogar innerhalb der Regionen stark unterscheiden;

    14.

    ist der Ansicht, dass die Europäische Union bei ihren Maßnahmen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Unterstützung für dicht besiedelte städtische Räume und der für ländliche Gebiete, die häufig primär unter landwirtschaftlichen Aspekten betrachtet werden, sicherstellen sollte; bedauert diesbezüglich den vergleichsweise geringen Einsatz des ESF und des EFRE in ländlichen Gebieten (7) (8);

    15.

    befürchtet, dass die COVID-19-Krise gerade in kleineren, abgelegenen und isolierten sowie finanziell schwächeren Kommunen und Regionen die Bereitstellung und Unterhaltung öffentlicher Infrastruktur und die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen weiter erschwert, da diese Gebietskörperschaften in besonderem Ausmaß von einem Einbruch der Steuereinnahmen betroffen sein dürften, wodurch die gegenläufigen Entwicklungen der vergangenen Jahre weiter befeuert werden könnten; betont, dass es in der Regel die besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppen sind, die den Rückgang der öffentlichen Investitionen in Infrastruktur und Dienstleistungen am stärksten zu spüren bekommen;

    Nationale Strategien für eine ausgewogene territoriale Entwicklung

    16.

    ist der Ansicht, dass sich die Politiken der Europäischen Union und jene der Mitgliedstaaten stets ergänzen sollten. Keinesfalls dürfen sie sich widersprechen oder gegenläufige Ziele verfolgen; betont daher, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht Überregulierung vermeiden sollten;

    17.

    ruft daher die Mitgliedstaaten dazu auf, in engem Zusammenwirken mit den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften auch die nationalen Politiken zum Zusammenhalt weiter zu entwickeln und diese mit den Anstrengungen auf europäischer Ebene im Sinne des Partnerschaftsprinzips und der Multi-Level-Governance zu verzahnen;

    18.

    weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es in verschiedenen Mitgliedstaaten bereits Ansätze auf nationaler Ebene gibt, die auf eine ausgewogene Strukturpolitik abzielen, die allen Gebieten zugutekommen soll. Während einige Staaten allgemeine Prinzipien für die Entwicklung aller Gebiete (9) vorschlagen, werden in anderen Gebieten der EU spezifische Pläne für bestimmte Gebietstypen aufgestellt (10) (11);

    19.

    betont, dass es bei den genannten nationalen Strategien nicht primär um eine wirtschaftliche Kohäsion im Sinne der ökonomischen Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr um die Schaffung eines gewissen Standards für öffentliche Verwaltung, Infrastruktur und Dienstleistungen geht, die den Grundstein für die weitere sozioökonomische Entwicklung bieten;

    20.

    stellt fest, dass eine dezentralisierte Verwaltung in der Regel in allen nationalen Strategien als wesentliche Voraussetzung für lebenswerte Territorien genannt wird. Um eine bürgernahe Verwaltung zu gewährleisten und die demokratische Teilhabe zu garantieren, sind die kommunalen und regionalen Strukturen wesentlich;

    21.

    erkennt an, dass in allen erwähnten nationalen Politiken im Vergleich zur europäischen Politik der Fokus stärker auf kleinere Kommunen (Gemeinden, Gemeindeverbände, Klein- und Mittelstädte usw.) im ländlichen Raum gelegt wird, um sie zu stärken und auf diese Weise ihre Attraktivität zu erhöhen. Alle Strategien betrachten ländliche Gebiete primär als Lebens- und Wirtschaftsräume und sehen strukturpolitische Maßnahmen zur Entwicklung dieser Räume vor;

    22.

    begrüßt insbesondere die sektorspezifischen Ansätze, die die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Strategien verfolgen. Trotz der Heterogenität der Territorien wird deutlich, dass sich die Herausforderungen in den unterschiedlichen Mitgliedstaaten ähneln;

    23.

    betont, dass alle nationalen Ansätze die Digitalisierung als wesentlichen Aspekt benennen. Durch die Verfügbarkeit flächendeckender digitaler Infrastruktur und digitaler öffentlicher Dienstleistungen können Arbeitsplätze auch außerhalb städtischer Zentren geschaffen und erhalten werden, was wiederum eine Abwanderung von Arbeitskräften in die Großstädte begrenzen könnte; unterstreicht, dass eine Zunahme der Telearbeit, wie sie während der COVID-19-Pandemie verzeichnet wurde, Arbeitnehmern mehr Flexibilität bei der Wahl ihres Wohnorts bieten könnte; betont in diesem Zusammenhang seine Erwartung, dass durch die stetige Digitalisierung vieler Arbeitsbereiche Standortvorteile durch räumliche Nähe zum Arbeitsplatz in vielen Bereichen langfristig weniger wichtig werden; unterstreicht, dass dieser Trend die Mobilitätspolitik nicht beeinträchtigen darf, insbesondere darf er nicht zu Lasten der Maßnahmen gehen, die die Umweltauswirkungen des Berufspendelverkehrs und von Geschäftsreisen begrenzen sollen;

    24.

    hält es für notwendig, dass die am weitesten von Ballungszentren entfernten und dünner besiedelten Gebiete über das gleiche Maß an digitaler Konnektivität verfügen, um die Einführung von öffentlichen Online-Diensten und Telearbeit zu erleichtern, die als Instrumente dienen, um diese Gebiete zu Anziehungspunkten für Menschen und Talente zu machen;

    25.

    begrüßt, dass alle Strategien sich auch mit Aspekten der Daseinsvorsorge, insbesondere mit Blick auf die Sicherstellung von Gesundheits-, Pflege- und sozialen Diensten, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie Angeboten zum Schutz älterer Menschen und der Integration befassen. Gleichberechtigung sollte als Leitprinzip dienen, wenn es darum geht, öffentliche Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen, und zwar unabhängig von ihrem Wohnort;

    26.

    ersucht daher den künftigen deutschen, portugiesischen und slowenischen Ratsvorsitz, als Beitrag zur Umsetzung der künftigen Territorialen Agenda 2030 eine Diskussion und einen Erfahrungsaustausch darüber einzuleiten, wie die Strukturpolitik der EU und die nationalen Regionalentwicklungspolitiken am besten miteinander kombiniert werden können, um die territorialen Ungleichheiten zu verringern und die Lebensbedingungen überall in Europa zu verbessern;

    Allgemeine Empfehlungen für die europäische Politik

    27.

    fordert die Europäische Kommission auf, die nationalen Ansätze aufzugreifen und als Konkretisierung der Artikel 174 und 349 AEUV das Ziel der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ auf europäischer Ebene zu verankern;

    28.

    unterstreicht den Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten im Bereich der Daseinsvorsorge. Auf der nationalen, regionalen oder lokalen Ebene ergriffene Maßnahmen sollten im Sinne des Subsidiaritätsprinzips durch einen europäischen Rahmen lediglich flankiert werden;

    29.

    fordert eine langfristige europäische Strategie für die territoriale Entwicklung, die die Wechselwirkungen zwischen Agglomerationsräumen, städtischen und ländlichen Räumen berücksichtigt;

    30.

    fordert die Europäische Kommission auf, nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten zu betrachten, sondern auch die Bemühungen im Bereich der Daseinsvorsorge zu berücksichtigen und anzuerkennen, insbesondere in weniger dicht bzw. dünn besiedelten Gebieten oder Gebieten in äußerster Randlage, in denen die Menschen sehr verstreut leben;

    31.

    ist der Ansicht, dass die Schaffung von geeigneten strukturellen Voraussetzungen in allen Mitgliedstaaten und allen Gebietskörperschaften für eine nachhaltige sozioökonomische Entwicklung der Europäischen Union unumgänglich ist. Die Strukturfonds können hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten, dürfen aber nicht das alleinige Mittel zur Förderung einer ausgewogenen Entwicklung bleiben. Alle Politikbereiche — darunter auch die von der Europäischen Kommission angekündigte „Vision für die ländlichen Räume“ — sollten zu dieser horizontalen Zielsetzung beitragen;

    32.

    betont, dass ein solches Ziel eine detaillierte Betrachtung territorialer Auswirkungen europäischer Maßnahmen erforderlich machen würde. Das gilt sowohl in der prä- als auch in der postlegislativen Phase;

    33.

    empfiehlt daher, das im Rahmen der EU-Städteagenda vorgeschlagene „urban proofing“ für europapolitische Maßnahmen auf ein „territorial proofing“, also eine integrierte Prüfung der Umsetzbarkeit in dichter (d. h. städtischen) und dünner besiedelten (d. h. ländlichen) Gebieten unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Besonderheiten, zu erweitern und durch eine territoriale Folgenabschätzung zu ergänzen. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass die regulatorischen Vorgaben zielgenau wirken und eine unkontrollierte Urbanisierung bzw. De-Urbanisierung nicht noch weiter befördern;

    34.

    ist der Ansicht, dass Klein- und Mittelstädten als Ankerpunkten in nicht verdichteten Räumen eine größere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Die Kommunen erbringen wesentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge und stellen den Bürgerinnen und Bürgern unverzichtbare Infrastrukturen zur Verfügung, die die Attraktivität der ländlichen Räume entscheidend verbessern;

    35.

    bekräftigt, dass auch größere Städte weiterhin vor großen Herausforderungen stehen und daher die finanzielle und organisatorische Unterstützung der Europäischen Union benötigen. Die einzelnen Gebietstypen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die EU-Städteagenda und die daraus resultierenden Partnerschaften werden als gutes Beispiel für eine mögliche Zusammenarbeit zwischen der europäischen und der lokalen Ebene anerkannt;

    36.

    fordert die Europäische Kommission auf, die systematische Erhebung vergleichbarer statistischer Daten zur Bewertung der Entwicklung ländlicher Gebiete unterhalb der NUTS-2-Ebene zu verbessern, ohne dabei den Verwaltungsaufwand für die kommunale Ebene zu erhöhen;

    37.

    empfiehlt den Vorsitzenden der interfraktionellen Arbeitsgruppen im Europäischen Parlament, Vertreter des AdR umfassend in die Arbeit der interfraktionellen Arbeitsgruppen zur städtischen und ländlichen Entwicklung einzubinden und so einen Austausch zu konkreten Herausforderungen zu befördern;

    38.

    betont, dass bei künftig einzusetzenden Arbeits- und Expertengruppen der Europäischen Union eine ausgewogene Beteiligung von Vertretern von Gebietskörperschaften unterschiedlicher Verwaltungsebenen und verschiedener Größe aus städtischen und ländlichen Gebieten gewährleistet sein muss. Für und von größeren Städten entwickelte Ansätze lassen sich aufgrund der unterschiedlichen organisatorischen und finanziellen Situation in der Regel nicht auf kleinere Gebietskörperschaften übertragen;

    39.

    fordert, dass alle Generaldirektionen der Europäischen Kommission und die Ausschüsse des Europäischen Parlaments die Wechselwirkungen zwischen städtischen und ländlichen Räumen umfassend berücksichtigen und kohärente europäische Politiken schaffen, die in ausgewogener Weise in allen Gebietstypen wirken;

    40.

    fordert alle Generaldirektionen der Europäischen Kommission und die Ausschüsse des Europäischen Parlaments auf, die Vorteile einer Zusammenarbeit institutioneller wie auch funktionaler Art in Bereichen wie Planung, Mobilität, Umwelt, Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge und öffentlichen Investitionen stärker anzuerkennen. Diese Zusammenarbeit ermöglicht Größenvorteile und die Stärkung von Verbindungen und des territorialen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zwischen städtischen, stadtnahen und ländlichen Gebieten, die Teil einer funktionalen Gebiets- oder regionalen Einheit sind;

    41.

    fordert einen umfassenden Ansatz auf EU-Ebene, der den Herausforderungen für die grenzübergreifende Zusammenarbeit von Städten, Regionen und Gemeinden Rechnung trägt und das Potenzial stärkt, das diese Zusammenarbeit im Hinblick auf die Verringerung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Siedlungsarten birgt;

    Empfehlungen zur europäischen Regionalpolitik

    42.

    ist der Ansicht, dass die europäische Regionalpolitik — in der Bemühung um Konvergenz und Entwicklung der Regionen der EU — primär darauf ausgerichtet werden sollte, in allen Gebieten die strukturellen Grundlagen für ein ausgewogenes Wachstum zu schaffen. Eine nachhaltige und langfristige sozioökonomische Entwicklung kann nur in jenen Gebieten stattfinden, in denen Bürgerinnen und Bürger ebenso wie Unternehmen die notwendigen Voraussetzungen vorfinden; betont, dass diesbezüglich stärkere Anreize für Unternehmen in ländlichen Gebieten erforderlich sind;

    43.

    bekräftigt, dass das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse auch im Rahmen der thematischen Konzentration der ESIF (und des ELER) berücksichtigt werden sollte. Die ESIF sollten in allen Regionen eine Förderung der erforderlichen kommunalen und regionalen Infrastruktur und öffentlicher Dienstleistungen ermöglichen. Die Herausnahme des ELER aus den gemeinsamen Bestimmungen zu den Strukturfonds ist dabei kontraproduktiv. Durch die Trennung wird eine kohärente fondsübergreifende Förderung in städtischen und ländlichen Gebiete unnötig erschwert;

    44.

    nimmt in diesem Zusammenhang die besondere Zuweisung für städtische Gebiete im Rahmen des EFRE zur Kenntnis, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass eine solche Zuweisung auch ein Gegenstück in vergleichbarer Dimension für ländliche Gebiete erforderlich macht; hält es langfristig für sinnvoller, eine eigene Zuweisung für die flächendeckende Bereitstellung von jenen Diensten vorzusehen, die zu einer ausgewogenen territorialen Entwicklung und der Förderung der Resilienz aller Gebietskörperschaften beitragen (Breitbandinfrastruktur, Krankenhäuser bzw. Gesundheitsversorgung, Verkehrsinfrastruktur usw.). Auf diese Weise wird die Basis für eine Ansiedlung von Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen auch außerhalb der städtischen Zentren befördert, was wiederum Arbeitsplätze schafft und den Abwanderungsdruck in die Städte reduziert;

    45.

    ist der Ansicht, dass mit Blick auf die geringe Rentabilität öffentlicher Dienstleistungen in weniger dicht besiedelten Gebieten bei der Strukturfondsförderung primär Zuschüsse eingesetzt werden sollten;

    46.

    ist der Ansicht, dass die Strukturfondsförderung verstärkt auf die Schaffung und Erhaltung der technologischen Infrastruktur — sowohl der Telekommunikation als auch der digitalen Dienste — abzielen sollte, die für eine ausgewogene territoriale Entwicklung notwendig ist. Zu diesem Zweck sollten öffentlich-private Partnerschaften gefördert werden, wobei der öffentliche Sektor bei der Durchführung entsprechender Investitionsmaßnahmen federführend ist;

    47.

    ersucht die Europäische Kommission, das Thema im anstehenden 8. Kohäsionsbericht anzusprechen, der im September 2021 erwartet wird;

    48.

    fordert eine stärkere Verknüpfung der neuen Territorialen Agenda 2030 der EU mit der neuen Kohäsionspolitik 2021–2027, um einen strategischen territorialen Orientierungsrahmen für die Kohäsionspolitik und so ein grünes und gerechtes Europa zu schaffen, in dem es keine strukturschwachen Gebiete mehr gibt;

    Empfehlungen zu weiteren Politikbereichen

    49.

    betont, dass auch europäische Vorgaben zur Verkehrspolitik stärker auf ihre Auswirkungen hinsichtlich einer ausgewogenen Ansiedlung von Menschen abgestimmt werden sollten. Das betrifft die Planung des ÖPNV, den Schienenverkehr, aber auch den Einsatz von Ridesharing-Diensten. Ridesharing-Dienste sind bisher primär in städtischen Räumen angesiedelt, weil in ländlichen Gebieten die geringere Bevölkerungsdichte zu geringeren Einnahmen führt. Langfristig sollte die flächendeckende Erbringung von entsprechenden Verkehrsdienstleistungen ggf. durch gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen geprüft werden;

    50.

    stellt fest, dass europäische Vorgaben im Verkehrsbereich (insbesondere zum Emissions- und Klimaschutz) für den ÖPNV im ländlichen Bereich häufig deutlich größere Herausforderungen darstellen als für Betreiber in städtischen Gebieten. Auch eine Umstellung auf emissionsarme Technologien ist derzeit aufgrund technologischer Voraussetzungen und Marktverfügbarkeiten — aufgrund der höheren Kosten, begrenzten Reichweiten und teilweise auch längeren Ladezeiten insbesondere bei Bussen — vor allem in weniger dicht besiedelten und gebirgigen Gebieten nicht überall möglich. Gleichzeitig werden europäische Fördermittel primär für städtische Mobilität zur Verfügung gestellt, da in Städten in der Regel höhere Schadstoffwerte gemessen werden. Um überall einen funktionierenden ÖPNV zu schaffen und zu erhalten, sollten die Vorgaben entweder unterschiedliche Maßnahmen für die einzelnen Gebietstypen vorsehen oder es sollten für jene Gebiete, in denen die Finanzierung besonders erschwert ist (etwa ländliche Gebiete, entlegene Gebiete, Gebiete in äußerster Randlage sowie Insel- und Bergregionen) zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden;

    51.

    betont, dass das mobile Arbeiten nicht erst seit der COVID-19-Pandemie eine wesentliche Rolle spielt. Auch digitale Behördendienste können nur dort angeboten und angenommen werden, wo sowohl die Anbieter als auch die Benutzer entsprechender Dienstleistungen auch über leistungsfähige Breitbandverbindungen verfügen;

    52.

    ist der Ansicht, dass beim Breitband- und Mobilfunkausbau bzw. 5G und 6G immer das Ziel einer den europäischen Emissionsnormen genügenden, flächendeckenden Verfügbarkeit verfolgt werden sollte. Dabei sollte der Ausbau primär privatwirtschaftlich erfolgen. In Gebieten, in denen ein flächendeckender Glasfaserausbau aus wirtschaftlichen Gründen nur mit finanzieller Unterstützung der öffentlichen Hand möglich ist, sollten kommunale und regionale Gebietskörperschaften in die Lage versetzt werden, diese rechtssicher und zielgerichtet durchzuführen.

    Brüssel, den 14. Oktober 2020

    Der Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen

    Apostolos TZITZIKOSTAS


    (1)  „Die Unterschiede bestimmen die Vielfalt in Europa — Ein Atlas ausgewählter Aspekte der räumlichen Strukturen und Entwicklungen“, Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung.

    (2)  https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/political-guidelines-next-commission_de.pdf.

    (3)  https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Archive:Statistics_on_rural_areas_in_the_EU#Further_Eurostat_information.

    (4)  COR-2019-04647-00-00-PAC.

    (5)  COR-2019-01896-00-00-AC (ABl. C 79 vom 10.3.2020, S. 8).

    (6)  https://ec.europa.eu/regional_policy/en/information/publications/communications/2011/territorial-agenda-of-the-european-union-2020.

    (7)  „Evolution of the Budget Dedicated for Rural Development Policy“ [Entwicklung des Haushalts für die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums], Studie für die Fachkommission für natürliche Ressourcen, Progress Consulting, 2016 (aktualisiert 2020).

    (8)  „EU Cohesion Policy in non-urban areas“ [EU-Kohäsionspolitik in nichtstädtischen Gebieten], Studie für den REGI-Ausschuss des Europäischen Parlaments, EPRC, 2020.

    (9)  Abschlussbericht der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“, Deutschland.

    (10)  „Ruralités: une ambition à partager 200 propositions pour un agenda rural“, Frankreich.

    (11)  „Masterplan für den ländlichen Raum“, Republik Österreich.


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