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Document 52020AE1913

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Sozialer Dialog als wichtiger Pfeiler wirtschaftlicher Nachhaltigkeit und Resilienz von Volkswirtschaften, unter Berücksichtigung des Einflusses lebendigen zivilgesellschaftlichen Dialogs in den Mitgliedstaaten“ (Sondierungsstellungnahme)

EESC 2020/01913

ABl. C 10 vom 11.1.2021, p. 14–26 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

11.1.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 10/14


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Sozialer Dialog als wichtiger Pfeiler wirtschaftlicher Nachhaltigkeit und Resilienz von Volkswirtschaften, unter Berücksichtigung des Einflusses lebendigen zivilgesellschaftlichen Dialogs in den Mitgliedstaaten“

(Sondierungsstellungnahme)

(2021/C 10/03)

Berichterstatter:

Cinzia DEL RIO

Vladimíra DRBALOVÁ

René BLIJLEVENS

Ersuchen des deutschen Ratsvorsitzes

Schreiben vom 18.2.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

9.9.2020

Verabschiedung im Plenum

29.10.2020

Plenartagung Nr.

555

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

252/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der soziale Dialog spielt auf nationaler und europäischer Ebene eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung einer Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik, die die Aufwärtskonvergenz bei den Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Mitgliedstaaten fördert. Das Krisenmanagement, die Antizipation und Bewältigung des Wandels, langfristige Planung, Innovationsfähigkeit und Begleitung des ökologischen und digitalen Wandels, eine gute Unternehmensführung und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern — auf der Grundlage des Rechts der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung — sind Teil des europäischen Rahmens, mit dem wirksam auf die Herausforderungen für Europa reagiert und auch die COVID-19-Krise bewältigt werden kann.

1.2.

Der soziale Dialog entwickelt sich: Die zunehmend globalisierten und vernetzten Volkswirtschaften und Produktionsprozesse sowie die Auswirkungen des Handels führen zu verstärkten länderübergreifenden Beziehungen mit multinationalen Unternehmen und globalen Lieferketten auf verschiedenen Ebenen, für die ein gemeinsames und koordiniertes Vorgehen auf europäischer Ebene gebraucht wird.

1.3.

Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) muss ein wirksamer sozialer Dialog folgende Aspekte umfassen: repräsentative und legitimierte Sozialpartner mit dem Wissen, den technischen Fähigkeiten und rechtzeitigem Zugang zu Informationen für die Mitwirkung; den politischen Willen und die Bereitschaft zur Teilnahme am sozialen Dialog; die Achtung des grundlegenden Rechts der Sozialpartner auf Autonomie, der Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf Tarifverhandlungen, die das Herzstück der Arbeitsbeziehungen bilden, sowie günstige rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen, die den sozialen Dialog mit gut funktionierenden Institutionen unterstützen.

1.4.

Der europäische soziale Dialog ist als unabdingbarer Bestandteil des europäischen Sozialmodells im Vertrag verankert, wird durch EU-Rechtsvorschriften unterstützt und in der europäischen Säule sozialer Rechte anerkannt. Der EWSA fordert die europäischen Sozialpartner auf, das ihnen durch den Vertrag gebotene Potenzial voll zu nutzen, um durch Verhandlungen die neuen Herausforderungen anzugehen, die sich aus dem raschen Wandel des Arbeitsmarkts ergeben.

1.5.

Mit dem Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte wird sondiert, wie der soziale Dialog und die Tarifverhandlungen gestärkt werden können. Die Einbeziehung der Sozialpartner in das Europäische Semester sollte als ausschlaggebender Faktor für wirksame Ergebnisse begriffen werden. Allerdings zeigen die vorliegenden Daten, dass eine solche Beteiligung in einigen Ländern trotz direkter länderspezifischer Empfehlungen der Europäischen Kommission nur in Ansätzen bzw. gar nicht vorhanden ist. Angesichts der wichtigen Rolle, die dem Europäischen Semester bei der Umsetzung des MFR 2021-2027 und des Programms „Next Generation EU“ zukommen soll, ruft der EWSA dazu auf, einen Mechanismus einzuführen, der den Sozialpartnern das Recht gewährt, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene angehört zu werden.

1.6.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission dringend auf, in Absprache mit den Sozialpartnern auf europäischer Ebene wie in Artikel 155 Absatz 2 AEUV vorgesehen, über europäische Initiativen klare und transparente Kriterien für die Durchführung sektoraler Vereinbarungen der Sozialpartner aufzustellen.

1.7.

Frühere Krisen haben Folgendes gezeigt: Länder, die über gut etablierte Institutionen des sozialen Dialogs und wirksame Systeme der Arbeitsbeziehungen verfügen, sind im Regelfall eher dazu in der Lage, rasche und wirksame dreigliedrige Reaktionen festlegen. Für die Bewältigung der unmittelbaren Folgen der Krise sind neben einer längerfristigen Planung des Wiederaufbaus für den Erhalt von Arbeitsplätzen und die Förderung der Beschäftigung durch nachhaltige Unternehmen und soziale Investitionen die unverzügliche und wirksame Einbeziehung der Sozialpartner und staatliche Hilfe entscheidend.

1.8.

Auf allen Ebenen sollte der Tarifbindung und Tarifverhandlungen Vorrang eingeräumt werden. Die Politik sollte sich zum Ziel setzen, gefährdete Gruppen von Arbeitnehmern und Bürgern in die Sozialsysteme zu integrieren.

1.9.

Eine gute Unternehmensführung auf der Grundlage des sozialen Dialogs, von Tarifverhandlungen und der Achtung des Rechts der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung kann es ermöglichen, positive wirtschaftliche Ziele sowie soziale und ökologische Ziele zu erreichen. Wenn es dem Management ermöglicht wird, fundierte Entscheidungen in Angelegenheiten zu treffen, die für Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter von unmittelbarem Interesse sind, trägt dies zu einem nachhaltigen und gerechteren Geschäftsmodell bei. Dies wiederum trägt zur Förderung des europäischen Gesellschaftsmodells bei, das als Triebkraft für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen gilt.

1.10.

Die Globalisierung und die zunehmend grenzübergreifenden Produktionsprozesse haben sich auf die Gestaltung des Informationsflusses bezüglich der Unternehmen ausgewirkt. Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung wird in den EU-Rechtsvorschriften anerkannt und ist für einen wirksamen sozialen Dialog von grundlegender Bedeutung; die Qualität und Wirksamkeit der Europäischen Betriebsräte bei transnationalen Umstrukturierungen müssen verbessert werden; die Demokratie bei der Arbeit muss durch die Behebung von Schwachstellen gestärkt werden, und außerdem müssen Durchsetzungsmaßnahmen sowie wirksame und verhältnismäßige Sanktionen eingeführt werden. Der EWSA hat bereits einen harmonisierten Rahmen auf EU-Ebene für die Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Leitungsorganen gefordert, der gleichzeitig den Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten und auf Unternehmensebene Rechnung trägt. Leider wurde dieser Vorschlag in dem angenommenen Paket zum europäischen Gesellschaftsrecht nicht aufgegriffen.

1.11.

Der EWSA spricht sich für flexible, zielführende Lösungen auf der Grundlage von Verhandlungen aus, die auf geeigneter Ebene zwischen der Unternehmensleitung und den Beschäftigten stattfinden und in denen die konkreten Modalitäten für Unterrichtung, Anhörung und Mitwirkung festgelegt werden, wobei gleiche Ausgangsbedingungen und ein angemessener Mindestschutz zu gewährleisten sind.

1.12.

Der EWSA fordert Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene, um die Achtung des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung während Umstrukturierungsprozessen infolge der COVID-19-Krise zu gewährleisten.

1.13.

Für die Bewältigung der Krise infolge der Pandemie empfiehlt der EWSA Folgendes: 1) die angemessene Beteiligung der Sozialpartner an der Konzipierung und Umsetzung nationaler Konjunkturprogramme, 2) eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern und der Europäischen Kommission bei der Sicherstellung einer kohärenten Nutzung von EU-Mitteln und 3) sollte die Europäische Kommission dem gemeinsamen Vorschlag der europäischen Sozialpartner folgen und sich für ein neues, zeitlich befristetes Finanzierungsinstrument stark machen, um die außerordentlichen Tätigkeiten zu unterstützen, die in der Erholungsphase durchgeführt werden müssen.

2.   Sozialer Dialog: Wie er weiter gefördert und verbreitet werden kann

2.1.

Der deutsche Ratsvorsitz forderte den EWSA in seinem Ersuchen auf, in dieser Stellungnahme schwerpunktmäßig zu untersuchen, wie insbesondere die dreigliedrigen Formen des sozialen Dialogs über Tarifverhandlungen hinausgehen können. Der dreigliedrige soziale Dialog ist ebenso wie der zweigliedrige soziale Dialog ein Schlüsselinstrument für eine gute Steuerung jeder Art von Wandel.

2.2.

Um einschätzen zu können, welche Rolle der soziale Dialog und partizipative Modelle für das Erzielen von Fortschritten bei der wirtschaftlichen und sozialen Aufwärtskonvergenz spielen und in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen einen Beitrag zur Reaktion auf die Auswirkungen von COVID-19 auf unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften leisten können, wird zunächst darauf eingegangen, wie sich das Konzept des sozialen Dialogs auf internationaler und europäischer Ebene entwickelt hat.

2.3.

Die Rolle von autonomen und repräsentativen Sozialpartnern wurde in den grundlegenden Übereinkommen der IAO von Anfang an umfassend anerkannt, die Rolle des sozialen Dialogs bei der Gestaltung und Überwachung der Umsetzung von sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen hat sich aber entsprechend dem Wandel in unseren Gesellschaften und der rasch voranschreitenden Globalisierung weiterentwickelt. Durch die Notwendigkeit, alle Interessenträger (1) länderübergreifend sowie auf nationaler und lokaler Ebene einzubeziehen, entstehen neue Formen der Konsultation und Teilhabe bei der Politikgestaltung, die je nach den nationalen Gegebenheiten oder auch regionalen Entwicklungen wie der europäischen Integration auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden können.

2.4.

Laut IAO-Definition (2) umfasst der soziale Dialog alle Arten von Verhandlungen, Konsultationen und Informationsaustausch zwischen den Vertretern von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitischen Fragen von gemeinsamem Interesse. Der soziale Dialog kann dreigliedrig (mit direkter Beteiligung der Regierung), zweigliedrig (zwischen Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer) oder in jüngster Zeit auch grenzüberschreitend (3) sein — im Kontext einer zunehmend globalisierten und vernetzten Wirtschaft mit einem länderübergreifenden sozialen Dialog in multinationalen Unternehmen und globalen Lieferketten.

2.5.

Der EWSA befasst sich derzeit mit der Notwendigkeit eines kohärenten Ansatzes auf EU-Ebene, um die Achtung der Menschenrechte, die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und nachhaltige Investitionen in Geschäftstätigkeiten weltweit miteinander zu verknüpfen und die Auswirkungen der zunehmenden länderübergreifenden Beziehungen zu multinationalen Unternehmen anzugehen, in die Sozialpartner involviert sind. Diese Themen sind für einige spezifische Stellungnahmen besonders relevant, etwa für die Stellungnahme zur verbindlichen Sorgfaltspflicht und die Stellungnahme zu menschenwürdiger Arbeit in globalen Lieferketten, um die der deutsche Ratsvorsitz und das EP den EWSA im Anschluss an die auf den G7- und G20-Gipfeltreffen in den Jahren 2015 und 2016 angestoßenen Debatten ersucht hatten. Die Europäische Union verfügt über einen Rechtsrahmen mit grundlegenden wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Standards, die ein Schlüsselelement der europäischen Wettbewerbsfähigkeit sind.

2.6.

Die größte Herausforderung besteht allerdings darin, diesen Dialog durch einen institutionellen Rahmen zu unterstützen, damit ein regelmäßiger Dialog und Konsultationen mit allen Interessenträgern garantiert sind. Leider ist das in den meisten Ländern weltweit und in mehreren europäischen Ländern, in denen der soziale Dialog in der Praxis nur ansatzweise oder sporadisch stattfindet, nicht der Fall. Der Staat spielt in dreigliedrigen Strukturen eine entscheidende Rolle und darf nicht passiv sein (4). Dem Staat obliegt es, die entsprechenden Voraussetzungen und die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für diese Konsultationen zu schaffen und für ein politisches und gesellschaftliches Klima zu sorgen, das den repräsentativen und legitimierten Sozialpartnern in Anerkennung ihrer Rolle die Teilhabe ermöglicht. Tatsächlich wurde der soziale Dialog in einigen europäischen Ländern geschwächt und die Autonomie der Sozialpartner untergraben (5).

2.7.

Konsequentes und entschlossenes Handeln der EU für mehr Unterstützung bei der Konsultation wäre sehr willkommen (6).

2.8.

Der EWSA verfolgt in zahlreichen Stellungnahmen regelmäßig die Entwicklung, Durchsetzung und Qualität des sozialen Dialogs. Die Sozialpartner spielen bei der Gestaltung und der Umsetzung politischer Maßnahmen mit unmittelbaren oder mittelbaren Auswirkungen auf Beschäftigung und Arbeitsmärkte eine besondere Rolle (7). Der EWSA begrüßt auch die befürwortende Haltung von Eurofound: „Der soziale Dialog muss gefördert und unterstützt werden. Gleichzeitig müssen aber auch die Autonomie der Sozialpartner und Tarifverhandlungen geachtet und die Kapazitäten der Sozialpartner gestärkt werden, damit sie sich am sozialen Dialog beteiligen können. Zu diesem Zweck benötigen sie Kenntnisse und Schulungsmaßnahmen sowie einen geeigneten politischen und rechtlichen Rahmen, in dem alle sozialen Interessenträger wirksam tätig sein können (8). Der zweigliedrige soziale Dialog und zweigliedrige Tarifverhandlungen auf allen Ebenen sind das Herzstück der nationalen Systeme der Arbeitsbeziehungen und spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsmarktes. Der zweigliedrige soziale Dialog sollte durch einen angemessen institutionellen Rahmen unterstützt werden, wobei das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie der Sozialpartner zu achten sind.

2.9.

In die Dialogmechanismen auf nationaler Ebene können nationale dreigliedrige Wirtschafts- und Arbeitsräte einbezogen werden, an denen verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen oder Wirtschafts- und Sozialräte mitwirken können. Diese sollten mit Hilfe von Gruppen mit Bürgerbeteiligung die Ansichten der europäischen Gesellschaft in Wirtschafts- und Sozialfragen vermitteln, um diese Form des Dialogs aufzubauen mit dem Ziel, gemeinsam die Herausforderungen für unsere Wirtschaft und Gesellschaft zu meistern. Diese Gremien wurden jedoch nicht in allen EU-Ländern eingerichtet, außerdem sollte die Verbindungsgruppe des EWSA stärker an der Koordinierung beteiligt werden.

3.   Der europäische soziale Dialog: eine Säule des Sozialmodells der EU

3.1.

Der soziale Dialog ist ein unabdingbarer Bestandteil des europäischen Sozialmodells. Am Beginn standen die „Val Duchesse“-Dialoge im Jahr 1985. Aber erst im Vertrag von Maastricht wurden die Hinweise der Sozialpartner im Hinblick auf den Aufbau eines europäischen branchenübergreifenden sozialen Dialogs, wie wir ihn heute kennen, berücksichtigt.

3.2.

Die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (9) verankerte Förderung des Dialogs zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gilt als gemeinsames Ziel der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten. Wenn Sozialpartner auf branchenübergreifender oder sektoraler Ebene gemeinsam handeln und Vereinbarungen unterzeichnen, haben sie Teil an der Ausgestaltung der EU-Rechtsvorschriften in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten und deren Umsetzung auf nationaler Ebene. Das tun sie, indem sie der Gesetzgebungsinitiative der Kommission (auch in Ergänzung zum Europäischen Parlament) folgen, oder aber durch eigenständige Initiativen auf der Grundlage eines dreijährigen Arbeitsprogramms, das von den europäischen Sozialpartnern festgelegt wird. Darüber hinaus garantiert der AEUV die Rolle und Autonomie der europäischen Sozialpartner.

3.3.

Der europäische soziale Dialog hat in seiner Entwicklung in den vergangenen zwanzig Jahren Höhen und Tiefen erlebt. Infolge des Ausbruchs der Krise im Euro-Währungsgebiet im Jahr 2009 hat sich der europäische soziale Dialog insgesamt deutlich verschlechtert.

3.4.

Der EWSA weist in seiner Stellungnahme (10) zu den beschäftigungspolitischen Leitlinien 2020 der EU nachdrücklich auf Leitlinie 7 „Verbesserung der Funktionsweise der Arbeitsmärkte und der Wirksamkeit des sozialen Dialogs“ hin, die eindeutig besagt, dass die Mitgliedstaaten den sozialen Dialog und Tarifverhandlungen auf allen Ebenen stärken sollen. Die Sozialpartner sollten darin bestärkt werden, unter umfassender Wahrung ihrer Autonomie Tarifverträge über Belange auszuhandeln und abzuschließen, die für sie von Bedeutung sind.

3.5.

Die europäischen Sozialpartner haben im Rahmen ihrer regelmäßigen gemeinsamen Arbeitsprogramme bislang neun Rahmenabkommen geschlossen. Drei davon — zur Regelung von Elternurlaub (11), Teilzeitarbeit (12) und befristeten Arbeitsverhältnissen (13) — wurden vor mehr als 20 Jahren geschlossen und in europäische Richtlinien übertragen; inzwischen sind sie Bestandteil des EU-Rechts. Die anderen sind autonome Vereinbarungen (14) und Aktionsrahmen (15) sowie eine Reihe weiterer gemeinsamer Dokumente. Autonome Vereinbarungen wirken sich nicht unmittelbar auf die nationalen Arbeitsbeziehungen aus und müssen in den nationalen Rechtsrahmen oder in Tarifverträge übertragen werden, während die Sozialpartner auf nationaler Ebene für eine rasche, ordnungsgemäße und EU-weit koordinierte Umsetzung verantwortlich sind.

3.6.

2020 schlossen die Sozialpartner eine autonome Vereinbarung über die Digitalisierung. Darin wird eine Strategie für die Digitalisierung gefordert, die dafür sorgt, dass sowohl die Unternehmen als auch die Beschäftigten von der Einführung der digitalen Technologie profitieren (Kompetenzentwicklung, Schulungsprogramme im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Arbeit und Maßnahmen, die den Formen der Erreichbarkeit Rechnung tragen).

3.7.

Die Untergruppe des Ausschusses für den sozialen Dialog zur Umsetzung von autonomen Instrumenten des sozialen Dialogs und zur Unterstützung des Kapazitätsaufbaus der Organisationen der Sozialpartner sollte der Notwendigkeit einer engeren und intensiveren Interaktion und Vernetzung der Sozialpartner auf europäischer und nationaler Ebene stärker Rechnung tragen. In diesem Sinne haben sich die europäischen Sozialpartner verpflichtet, sich intensiver um die Beseitigung der unterschiedlichen Hindernisse bei der Umsetzung ihrer autonomen Vereinbarungen zu kümmern. Dies sollte von der EU genau verfolgt werden, um Initiativen gezielt unterstützen zu können.

3.8.

Schließlich wurden sechs gemeinsame Arbeitsprogramme vereinbart. Das jüngste davon (16) unterstützt die Ziele der Vier-Parteien-Erklärung 2016 Neubeginn für den sozialen Dialog (17), die auf folgende Ziele abhebt: Stärkung des sozialen Dialogs auf europäischer und nationaler Ebene, Verhandlungen über eine autonome Vereinbarung über die Digitalisierung; verstärkte Unterstützung des Kapazitätsaufbaus der nationalen Sozialpartner, insbesondere durch den Europäischen Sozialfonds, sowie Ausbau der Rolle und des Einflusses der nationalen Sozialpartner im Europäischen Semester.

3.9.

Der EWSA fordert die europäischen Sozialpartner auf, das ihnen durch den Vertrag (Artikel 154 AEUV) gebotene Potenzial voll zu nutzen, um durch Verhandlungen (die die Grundlage für einen erneuerten europäischen Rahmen in den Bereichen Soziales und Arbeit bilden können) die neuen Herausforderungen, die sich aus dem raschen Wandel des Arbeitsmarkts ergeben, anzugehen und der gesetzgeberischen Rolle der Kommission und des Rates in diesem Bereich vorzugreifen.

3.10.

Die rechtliche Grundlage für den sektoralen sozialen Dialog ist der Beschluss 98/500/EG vom 20. Mai 1998 (18) über die Einsetzung von Ausschüssen für den sektoralen sozialen Dialog. Derzeit gibt es 43 Ausschüsse für den sektoralen sozialen Dialog, die wesentliche Sektoren (19) abdecken und ungefähr 80 % der Beschäftigten der EU vertreten (20). Eine Reihe von Vereinbarungen wurde durch Ratsbeschlüsse umgesetzt, aber die Europäische Kommission hat dem Rat zwei Vorschläge der Sozialpartner zur Umwandlung einer sektorspezifischen Vereinbarung in eine Richtlinie nicht vorgelegt: Dabei handelt es sich um die im Friseurgewerbe erzielte Vereinbarung (2012) und die Vereinbarung über die Rechte der Mitarbeiter der Zentral- bzw. Föderalregierungen auf Unterrichtung und Anhörung (2015). Dies war so noch nicht vorgekommen und führte zu einem Rechtsstreit vor dem EuGH.

3.11.

Es bedarf eindeutiger Verfahren für die Aushandlung verbindlicher Vereinbarungen der Sozialpartner auf EU-Ebene im Einklang mit den Verträgen (Artikel 153-155) sowie transparenter Kriterien, wobei die Autonomie der Sozialpartner beim Umgang mit den Ergebnissen solcher sektorspezifischen und sektorübergreifenden Verhandlungen zu wahren ist. Die Kommission sollte in Zusammenarbeit mit allen Sozialpartnern auf EU-Ebene klarstellen, über welchen Ermessensspielraum sie beim Umgang mit den Ergebnissen dieser Verhandlungen verfügt.

3.12.

Das System des sozialen Dialogs in der EU betrifft auch europäische Unternehmen, die in mehreren EU-Mitgliedstaaten tätig sind, und ist hauptsächlich auf die Rechte der Arbeitnehmer auf Unterrichtung und Anhörung abgestimmt (21). Das wichtigste vom EU-Gesetzgeber geschaffene Instrument, um für die wirksame und kontinuierliche Durchsetzung dieser Rechte zu sorgen, ist die Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat (EBR) (22).

3.13.

Es wurden mehr als 1 100 Vereinbarungen ausgehandelt, mit denen die Arbeitsweise der Europäischen Betriebsräte und anderer Organe der grenzüberschreitenden Arbeitnehmervertretung (beispielsweise für die Europäische Gesellschaft und die Europäische Genossenschaft) festgelegt oder erneuert werden sollten. In jüngster Zeit kommen im sozialen Dialog mit multinationalen Unternehmen auch verstärkt länderübergreifende Betriebsvereinbarungen zum Einsatz, die auf den zahlreichen Texten beruhen, die von unterschiedlichen Akteuren, hauptsächlich aber von Europäischen Gewerkschaftsverbänden oder Europäischen Betriebsräten, unterzeichnet wurden (23). Über 200 länderübergreifende Betriebsvereinbarungen haben die Modernisierung der Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und multinationalen Unternehmen zum Ziel (24). Dieser Ebene des Systems der Arbeitsbeziehungen in der EU würden stärker praxisorientierte Leitlinien für grenzüberschreitende Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene zugutekommen.

3.14.

All dies zeigt, wie dynamisch der soziale Dialog auf allen Ebenen ist, wenngleich eine solche Dynamik Instrumente erfordert, um den sozialen Dialog angesichts der raschen Veränderungen in der Arbeitsorganisation und bei den Übergangen an die neuesten Erfordernisse von Unternehmen und Beschäftigten anzupassen. Die 2018 unterzeichnete und von der Europäischen Kommission (25) geförderte Vier-Parteien-Erklärung Neubeginn für den sozialen Dialog war ein Versuch, den branchenübergreifenden sozialen Dialog an den neuen institutionellen Rahmen auf europäischer Ebene anzupassen und dabei der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU eine wichtigere Rolle bei der Förderung der Aufwärtskonvergenz der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Europäerinnen und Europäer zu geben.

3.15.

Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. In der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (SDG) wird (in SDG 8, 16 und 17) anerkannt, dass der soziale Dialog die (demokratischen) Institutionen stärken und den Übergang zu einer nachhaltigeren Wirtschaft erleichtern kann, indem ein gemeinsames Verständnis für die Herausforderungen und die Art, wie sie zu bewältigen sind, geschaffen wird. Dabei gelten die Sozialpartner als wichtige Akteure, wenn es darum geht, Gesellschaften und Volkswirtschaften zu reformieren und zu modernisieren. Sie können zu den meisten SDG einen Beitrag leisten und Nachhaltigkeitsaspekte umfassender als bisher einbeziehen. Um den Rahmen der Verhandlungen zu erweitern, müssen neue Partnerschaften und Strategien entwickelt werden (26). Ein autonomer und unabhängiger sozialer Dialog ist wichtig, um die Sozialpolitik mit einer soliden Wirtschaftspolitik und gleichzeitig mit einer Strategie für nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Fortschritt in allen Mitgliedstaaten und im Europäischen Wirtschaftsraum zu verbinden (27).

3.16.

Wenn der soziale Dialog weiterhin von Nutzen sein soll, muss er sich mit neuen Themen und den Veränderungen des Arbeitsmarkts befassen und wirksame Ergebnisse erzielen. Neue, atypische Beschäftigungsformen können die Grenzen des Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnisses verwischen und dazu führen, dass immer mehr Menschen vom Geltungsbereich von Tarifverhandlungen oder Schutzvorschriften ausgeschlossen sind. Dieser Bereich kann im Rahmen des sozialen Dialogs behandelt werden und so zu einem Konsens zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen beitragen, so dass alle Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden.

3.17.

Die Wirksamkeit des dreigliedrigen sozialen Dialogs kann gesteigert werden, wenn dieser konkrete Verhandlungen und Ergebnisse auf allen Ebenen fördert. Die Funktionsweise der Institutionen des dreigliedrigen sozialen Dialogs und die Verfahren für die Konsultation können insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Ländern noch verbessert werden, um eine größere Wirkung zu entfalten. Das würde auch zu einer stärkeren, rechtzeitigen und sinnvollen Einbeziehung der Sozialpartner in die Politikgestaltung und Entscheidungsfindung führen. Im Rahmen des laufenden Projekts der IAO und der Kommission sollen bewährte Verfahren, die sich aus dem sozialen Dialog in verschiedenen Ländern ergeben, sowie Maßnahmen seitens der Behörden ermittelt werden, die darauf abzielen, die Rolle des sozialen Dialogs — einschließlich Tarifverhandlungen — bei der Bewältigung neuer Herausforderungen und Chancen in einer neuen Arbeitswelt und gleichzeitig die Autonomie der Sozialpartner zu stärken (28).

3.18.

In der europäischen Säule sozialer Rechte (29) werden die Autonomie der Sozialpartner sowie ihr Recht auf Kollektivmaßnahmen und auf Beteiligung an der Gestaltung und Umsetzung von beschäftigungs- und sozialpolitischen Maßnahmen auch anhand von Tarifverträgen anerkannt. In der europäischen Säule sozialer Rechte wird die wesentliche Rolle des sozialen Dialogs und der Sozialpartner sowie der Tarifverhandlungen auf allen Ebenen bekräftigt.

3.19.

In einem Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte sollen die Möglichkeiten sondiert werden, den sozialen Dialog und Tarifverhandlungen zu fördern und die Kapazitäten der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände auf europäischer und nationaler Ebene auszubauen.

3.20.

Die Sozialpartner sollten in das Europäische Semester für die wirtschaftspolitische Steuerung sowie in die Konzipierung der nationalen Reformprogramme einbezogen werden, insbesondere in die Gestaltung und Umsetzung von Reformen und Maßnahmen in den Bereichen Beschäftigung, Soziales und gegebenenfalls Wirtschaft entweder aufgrund länderspezifischer Empfehlungen oder nationaler Eigeninitiative (30).

3.21.

Oft wird darauf hingewiesen, dass die nationalen Regierungen nur in einigen wenigen Ländern die Sozialpartner einbeziehen, und über Jahre gesammelte Erkenntnisse belegen, dass die Möglichkeit einer Anhörung im Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung im Ermessen der amtierenden Regierungen liegt. Noch schlimmer sieht es in den Mitgliedstaaten aus, in denen die Strukturen und Verfahren des sozialen Dialogs historisch bedingt schwach ausgeprägt sind und bleiben. Die nationalen Sozialpartner verfügen auf jeden Fall nicht immer über genügend Kapazitäten für die aktive Beteiligung an diesem anspruchsvollen Prozess (31).

3.22.

Die Koordinierung im Rahmen des Semesters und durch den Rat über den Beschäftigungsausschuss liefert nicht immer für alle Seiten zufriedenstellende Ergebnisse. Angesichts der führenden Rolle, die dem Europäischen Semester bei der Umsetzung des MFR 2021-2027 und des Programms „Next Generation EU“ zukommen soll, sollte überlegt werden, einen Mechanismus einzuführen, der den Sozialpartnern das Recht gewährt, sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene zu den wichtigsten Etappen des Europäischen Semesters konsultiert zu werden. Durch eine Änderung des Sechserpakets (32) könnte die Verpflichtung für die nationalen Regierungen eingeführt werden, die Sozialpartner zu den wichtigsten nationalen Etappen des Semesters zu konsultieren, mit Kriterien wie einer guten zeitlichen Planung, Zweckmäßigkeit und Angemessenheit der Konsultation (Artikel 2-a Absatz 2, Buchstabe c, d und e der Verordnung 1466/97, geändert durch Verordnung (EU) Nr. 1175/2011).

3.23.

Aus Forschungsergebnissen (33) geht hervor, dass die nationalen Sozialpartner nicht immer über die Kapazitäten verfügen, um sich aktiv an diesem anspruchsvollen Prozess beteiligen zu können. Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau für die Sozialpartner, die auf die Stärkung der nationalen Rahmen und Verfahren für den sozialen Dialog abzielen, sollten von der Europäischen Kommission auch über die ESF-Mittel gefördert und unterstützt werden. Auf diese Weise könnten die Sozialpartner ihre für die Bewältigung des derzeitigen ökologischen und digitalen Wandels so wichtigen Kapazitäten stärken. In dieser Hinsicht ist die Kapazität nicht nur ein internes Problem (fehlender) finanzieller und anderer Ressourcen, sondern auch ein strukturelles Problem, das mit dem Rahmen für die Arbeitsbeziehungen verknüpft ist. Schulungsmaßnahmen zum Aufbau der Kapazitäten der Sozialpartner sowie die Schaffung von Anreizen für die Beteiligung an zweigliedrigen Verhandlungen auf Branchen- und Unternehmensebene unter Wahrung der Tarifautonomie müssen weiter unterstützt werden.

3.24.

Die Unterstützung für den Kapazitätsaufbau im Rahmen der operationellen Programme des ESF sollte weiter ausgebaut werden. Trotz der Einführung des Verhaltenskodex für Partnerschaften, über den die Sozialpartner einen stärkeren Einfluss auf den Inhalt dieser Programme erhalten sollten, stellen die Verwaltungsbehörden keine Unterstützung für den Aufbau von Kapazitäten der Sozialpartner bereit. Die vorgeschlagene ESF+-Verordnung sollte Maßnahmen für den Aufbau von Kapazitäten sowie Angaben dazu enthalten, wie vorzugehen ist, um den Verwaltungsbehörden die Argumente dafür zu liefern, dass mehr für die Unterstützung des Kapazitätsaufbaus der Sozialpartner zu tun ist. Diesbezüglich werden in länderspezifischen Empfehlungen für den sozialen Bereich (einschließlich derer für 2020) die Länder benannt, in denen die Unterstützung der Sozialpartner am notwendigsten ist.

3.25.

Die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Gruppe für den Dialog mit der Zivilgesellschaft sollten von der EU und den nationalen Regierungen insbesondere bei bestimmten politischen Bereichen, in denen sie einen Mehrwert erbringen können, angemessen konsultiert werden.

4.   Analyse der Erfahrungen aus der letzten Finanzkrise 2008-2010 und der daraus gewonnenen positiven und negativen Erkenntnisse

4.1.

In Krisenzeiten wie z. B. in der letzten Krise 2008-2010 stellt der soziale Dialog seinen Nutzen als Instrument zum Hervorbringen von Lösungen unter Beweis. Es verwundert nicht, dass die Vorschläge der Sozialpartner entweder darauf abzielten, Arbeitsplätze zu erhalten und Entlassungen zu vermeiden oder das Ausmaß und die Folgen des Verlusts von Arbeitsplätzen zu begrenzen. Der soziale Dialog ist ein wichtiges Instrument, das unter bestimmten Umständen von den Regierungen gefördert wurde, um die negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise zu bekämpfen. „Tarifverhandlungen wurden genutzt, um das Schlimmste zu verhindern, d. h. Entlassungen, umfangreiche Arbeitsplatzverluste und Unternehmensschließungen“ (34).

4.2.

Die Reaktionen der nationalen Sozialpartner auf die Auswirkungen der Finanzkrise auf den Arbeitsmarkt wurden durch drei wesentliche Faktoren beeinflusst: das Ausmaß der Wirtschaftskrise, der institutionelle Aufbau der Arbeitsbeziehungen und die Regierungsentscheidungen. In Ländern mit gut etablierten Institutionen des sozialen Dialogs wurden die Sozialpartner aktiv in die Gestaltung rascher und wirksamer dreigliedriger Reaktionen auf Branchen- oder Unternehmensebene einbezogen. Die Art und Weise der Intervention unterschied sich stark von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Ein entscheidender Faktor für den Erfolg oder Misserfolg des sozialen Dialogs war offenbar der Umfang der staatlichen Unterstützung für den Prozess und die rechtzeitige Einbeziehung der Sozialpartner (35). Als allgemeines Muster lässt sich ablesen, dass die Sozialpartner in der frühen Phase der Krise (2008-2010) unter hohem wirtschaftlichen Druck Maßnahmen ergriffen haben, um bestehende Arbeitsplätze zu retten und das Gesamtbeschäftigungsniveau zu halten, wobei sie gegebenenfalls auf automatische soziale Stabilisatoren zurückgriffen. Das geschah nicht nur durch dreigliedrige Verhandlungen auf nationaler Ebene, sondern spiegelte sich auch in den bilateralen Tarifverträgen auf Sektor-/Branchen- und Unternehmensebene wider (36).

4.3.

In der zweiten Phase der Krise (2011-2014) waren jedoch zahlreiche erhebliche Auswirkungen auf eine Reihe von Aspekten der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten festzustellen (37): Einer davon war der Trend zu einer stärkeren Dezentralisierung der Tarifverhandlungen. In einigen Mitgliedstaaten führte die Zunahme einseitiger Entscheidungen durch die Regierungen einerseits und die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen andererseits zu weniger Verbandstarifverhandlungen und einem Rückgang der Tarifbindung. Auch in den mittel- und osteuropäischen Systemen der Arbeitsbeziehungen war ein Trend zu mehr Freiwilligkeit und weniger dreigliedrigen Strukturen und Prozessen zu verzeichnen (38).

4.4.

Die Mitgliedstaaten, in denen sich die Krise am stärksten auf die Arbeitsbeziehungen ausgewirkt hat, waren aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht am härtesten von der Krise getroffen. Den Sozialpartnern in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien beispielsweise blieb angesichts der enormen wirtschaftlichen Anpassungen, die von diesen Länder vorgenommen werden mussten, nur wenig Handlungsspielraum (39). Die Systeme der Arbeitsbeziehungen in den nordischen und mitteleuropäischen Ländern sind tendenziell flexibler für Akteure und Verfahren (z. B. gibt es Öffnungsklauseln in Tarifverträgen), sodass eine Anpassung an geänderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen einfacher möglich ist. Daher konnten aufgrund der soliden Beziehungen zwischen den Sozialpartnern positivere Ergebnisse erzielt werden.

4.5.

Es wurden zwei Arten von Maßnahmen eingeführt, um die Auswirkungen der Krise abzufedern. Zum einen ging es vor allem darum, Entlassungen zu vermeiden, und zum anderen, die Auswirkungen von Entlassungen abzumildern. Um Entlassungen zu vermeiden, wurden in mehreren Ländern Kurzarbeitsregelungen verschiedener Art eingeführt, aber es zeigte sich auch, dass einige Teile der Bevölkerung und schutzbedürftige Gruppen von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen auf keinerlei Form des Sozialschutzes Anspruch hatten. Daher muss die Politik in erster Linie für inklusive Sozialsysteme und effiziente öffentliche Dienste sorgen. Kurzarbeitsregelungen und Entgeltersatzleistungen gingen mit Weiterqualifizierung und Umschulungen einher. Dies hätte in vielen Fällen als bewährtes Verfahren zur Krisenbewältigung aufgefasst werden können und sollte auch so aufgefasst werden.

4.6.

Die zweite Art von Maßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen bestand einerseits aus Verhandlungen über Kündigungsabfindungen, nach denen eine große Nachfrage seitens der Arbeitnehmer bestand, und andererseits aus Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern über die Unterstützung bei der Reintegration entlassener Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt. Diese Vereinbarungen sahen aufgrund der unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich aus: Arbeitsplatzwechsel (in den Niederlanden), Transfergesellschaften (in Deutschland), Räte für Arbeitssicherheit (in Schweden) und Arbeitsstiftungen (in Österreich). Diese Maßnahmen umfassten häufig Beratungsangebote, Stellenumschichtungen, Umschulungen und Informationen über Stellenangebote. Das gesamte Maßnahmenspektrum ist der Veröffentlichung der Europäischen Kommission „Industrial Relations in Europe 2010“ (Arbeitsbeziehungen in Europa 2010) (40) zu entnehmen.

4.7.

Der soziale Dialog spielt eine entscheidende Rolle bei der Konzipierung zeitnaher und gezielter Maßnahmen zur Förderung der Erholung am Arbeitsmarkt und des wirtschaftlichen Aufschwungs in Krisenzeiten, doch können nicht alle Probleme mit seiner Hilfe gelöst werden. Konkrete politische Maßnahmen und Vorschriften sowie ein angemessener haushaltspolitischer Spielraum sind in Krisenzeiten besonders wichtig (41).

5.   Beteiligung der Arbeitnehmer an der Unternehmensführung als Option für die Bewältigung des Wandels

5.1.

Unter industrieller Demokratie versteht man allgemein die Steuerung von Geschäftsabläufen in nachhaltigen Unternehmen („Sustainable Company“) (42) auf der Grundlage des sozialen Dialogs, von Tarifverhandlungen und der Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene (43). Durch eine gute Unternehmensführung können positive wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele erreicht werden. Derzeit ist eine Mischung aus Rechtsakten sowie operativen und politischen Maßnahmen in Kraft, die den Gepflogenheiten und Gegebenheiten der nationalen Arbeitsbeziehungen in den einzelnen Unternehmen Rechnung tragen. Die Globalisierung und die internationalen Produktionsprozesse der europäischen Unternehmen haben sich auf die Gestaltung des Informationsflusses bezüglich der Unternehmen ausgewirkt (44). Die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat jüngst während der COVID-19-Pandemie unter Beweis gestellt, wie wichtig sie ist.

5.2.

Das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung gehört zu den sozialen Grundrechten, ist in den internationalen (IAO) und europäischen (Europarat und EU) Menschenrechtsinstrumenten verankert und hat grundlegende Bedeutung für einen wirksamen sozialen Dialog.

5.3.

Die Beteiligung der Arbeitnehmer auf europäischer Ebene fördert einen rechtzeitigen Austausch von Informationen mit Arbeitnehmervertretern in Systemen der Arbeitsbeziehungen sowie fundierte Entscheidungen des Managements in bestimmten Angelegenheiten, die für Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter von unmittelbarem Interesse sind, und trägt so zu einem nachhaltigen und gerechteren Geschäftsmodell bei. Dies wiederum führt zu einer Verbreitung des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft, in der das europäische Gesellschaftsmodell als Triebkraft für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen gilt.

5.4.

Auf EU-Ebene wurden Mindestanforderungen (45) und das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Vertretung in Leitungsorganen in verschiedenen Rechtsvorschriften festgelegt. Dazu gehören die Richtlinie über Unterrichtung und Anhörung und die EBR-Richtlinie (46) sowie Rechtsakte zu bestimmten Unternehmensformen, wie Europäische Gesellschaften und Europäische Genossenschaften, aber auch Rechtsakte für bestimmte Fälle wie grenzüberschreitende Verschmelzungen, Unternehmensübergänge und Massenentlassungen. Europäische Betriebsräte (sowie die Betriebsräte Europäischer Gesellschaften) sind Organe zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer zu grenzüberschreitenden Angelegenheiten und haben eine große Bedeutung für die europäischen Arbeitnehmer. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der allmählichen Integration der europäischen Mitgliedstaaten und des Binnenmarkts (47). Wie die Kommission in ihrem Bericht (48) betont, besteht noch Verbesserungsbedarf in Bezug auf die Qualität und Wirksamkeit der Information und Konsultation europäischer Betriebsräte bei transnationalen Umstrukturierungen von Gesellschaften.

5.5.

Eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Leitungsorganen ist in den meisten Mitgliedstaaten gegeben, doch fehlen gemeinsame Grundlagen auf europäischer Ebene, was sich daher in den unterschiedlichen Praktiken, die den nationalen Rahmenbedingungen eigen sind, widerspiegelt. Der EWSA hat bereits in seiner Stellungnahme SOC/470 (49) einen harmonisierten EU-weiten Rahmen für die Mitbestimmung von Arbeitnehmern in Leitungsorganen gefordert. Leider wurde dieser Vorschlag in dem 2019 angenommenen Paket zum Gesellschaftsrecht nicht aufgegriffen.

5.6.

Im 8. Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte heißt es, dass Arbeitnehmer und ihre Vertretungen das Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in für sie relevanten Fragen haben. Aus dieser Sicht ist die Einbeziehung der Arbeitnehmer von strategischer Bedeutung, um den durch die ökologischen, demografischen und technologischen Herausforderungen bedingten Wandel zu bewältigen und Veränderungen in der Arbeitsorganisation sowie Umstrukturierungen zu begleiten (50). Der EWSA fordert die europäischen und nationalen Institutionen auf sicherzustellen, dass das Recht der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung im Falle von Umstrukturierungen geachtet wird.

5.7.

Auch in den europäischen Rechtsvorschriften zum Arbeitsschutz wird hervorgehoben, dass die Arbeitnehmervertretung in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielt und daher berücksichtigt werden muss. In einigen europäischen Ländern waren dreigliedrige und zweigliedrige Vereinbarungen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie auf Unternehmensebene Beispiele für vorausschauende gemeinsame Initiativen der Sozialpartner im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz.

5.8.

Die COVID-19-Krise zeigt zum einen die positiven Beispiele für einen konstruktiven sozialen Dialog in Europa auf Unternehmensebene, um Arbeitsplätze zu erhalten, eine sichere Rückkehr an den Arbeitsplatz zu gewährleisten und gleichzeitig die Geschäftstätigkeit fortzusetzen, und zum anderen, dass das Recht auf Unterrichtung und Anhörung nicht überall in Europa geachtet wird, auch nicht während der Notstandsphase sowie bei Umstrukturierungen und im Hinblick auf die Maßnahmen, die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz oder unter gefährlichen Arbeitsbedingungen zu ergreifen sind. Auf europäischer und nationaler Ebene müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Achtung des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung während der Umstrukturierungsprozesse infolge der COVID-19-Krise zu gewährleisten.

5.9.

Weitere Schritte auf europäischer Ebene sind erforderlich, um Schwachstellen zu beheben und die Demokratie bei der Arbeit zu stärken. Ziel ist es, in grenzüberschreitenden Situationen, in denen die nationalen Rechtsvorschriften nicht einheitlich und gerecht angewandt werden können, einen angemessenen Mindestschutz und angemessene Mindestrechte in Bezug auf die Unterrichtung, Anhörung und Vertretung von Arbeitnehmern zu gewährleisten. Ein wirksamer bereichsübergreifender Rahmen bezüglich des Rechts der Arbeitnehmer auf Unterrichtung, Anhörung und Vertretung in Leitungsorganen für EU-Gesellschaftsformen und Gesellschaften, die Instrumente für die Mobilität von Gesellschaften nutzen, ist erforderlich. Schwachstellen beim Zugang zu Informationen über Geschäftstätigkeiten in Drittstaaten und ihre Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen müssen ermittelt werden, damit die Europäischen Betriebsräte ihrer Aufgabe ordnungsgemäß nachkommen können. Bei der Umsetzung der EBR-Richtlinie sollten die Durchsetzungsmaßnahmen verstärkt und bei festgestellten Mängeln wirksame und verhältnismäßige Sanktionen vorgesehen werden.

5.10.

Außerdem muss sichergestellt werden, dass das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst in vollem Umfang gewahrt wird. Der EWSA fordert die Kommission auf, Maßnahmen für eine ordnungsgemäße Umsetzung der Vereinbarung der Sozialpartner in dieser Angelegenheit zu ergreifen.

5.11.

Die nationale Praxis zeigt Unterschiede bei der Arbeitnehmerbeteiligung. Insbesondere muss sichergestellt werden, dass die Arbeitnehmervertreter, die im Einklang mit den europäischen und nationalen Vorschriften (51) in die Verwaltungs- und Aufsichtsorgane berufen werden, ihre Aufgaben gemäß den nationalen und europäischen Rechtsvorschriften ordnungsgemäß erfüllen können. Ferner muss sichergestellt werden, dass die Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie angemessen und rechtzeitig über die Pläne eines Unternehmens und die möglichen Auswirkungen auf die Arbeitsplätze und die Arbeitsbedingungen informiert und dazu konsultiert werden.

6.   Der soziale Dialog als Instrument für eine nachhaltige und inklusive Konjunkturerholung nach der COVID-19-Krise

6.1.

Viele Organisationen und Institutionen, darunter die IAO, die OECD, die Europäische Kommission, Eurofound und auch die europäischen Sozialpartner, haben Informationen über Maßnahmen gesammelt, veröffentlicht und immer wieder aktualisiert, die auf nationaler Ebene ergriffen wurden, um zunächst die Notstandsphase und anschließend die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeiten und die Planung von Konjunkturprogrammen zu bewältigen.

6.2.

In einigen Ländern wurden seit Beginn der Pandemie zwei- und dreigliedrige Vereinbarungen sowie eine Reihe von zweigliedrigen sektoralen Vereinbarungen unterzeichnet, um Maßnahmen einzuführen, die dem Erhalt von Arbeitsplätzen und dem Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz dienen.

6.3.

Das Ausbleiben einer koordinierten Reaktion der Mitgliedstaaten zu Beginn der Pandemie macht deutlich, dass für die Erholung Solidarität unter den Mitgliedstaaten für die Zukunft Europas erforderlich ist.

6.4.

Die europäischen Sozialpartner — EGB, BusinessEurope, CEEP und SMEunited — forderten in ihrer gemeinsamen Erklärung zur COVID-19-Krise die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, die nationalen Sozialpartner in die Gestaltung und Umsetzung der nationalen Maßnahmen einzubeziehen. Dass sie sich aktiv und wirksam einbringen können, hängt allerdings nicht nur von ihren eigenen Kapazitäten ab, sondern auch davon, dass die Regierungen ihre Rolle bei der Eindämmung der Pandemie und bei der Bewältigung ihrer sozioökonomischen Folgen anerkennen. Es gibt gute Beispiele für ein vorausschauendes Krisenmanagement unter der Leitung sektorspezifischer europäischer Sozialpartner. Einige davon sind dreigliedrig, andere wiederum zweigliedrig. In mehreren europäischen Ländern wurden Tarifverträge geschlossen, um ein sicheres Arbeitsumfeld, spezielle Arbeitsregelungen und im Rahmen des Sozialsystems Regelungen wie Krankheitsurlaub und Elternurlaub zu gewährleisten und so die Verbreitung des Virus einzudämmen.

6.5.

Der Aufbauplan der EU, der den Vorschlag „Next Generation EU“ der Kommission für und alle bereits getroffenen Maßnahmen in Bezug auf spezielle Mittel, Zuschüsse und Darlehen der EZB und der EIB beinhaltet, ist zweifellos ein umfangreiches Finanzmaßnahmenpaket, durch das öffentliche und private Investitionen zur Unterstützung von nachhaltigem Wachstum und hochwertigen Arbeitsplätzen mobilisiert werden sollen.

6.6.

Auf dem Dreigliedrigen Sozialgipfel am 23. Juni 2020 betonten die Sozialpartner, dass Investitionen in die öffentliche Gesundheitsversorgung und die in diesem Zeitraum am stärksten betroffenen Dienstleistungsbranchen erforderlich sind. Außerdem werden strukturelle Investitionen in den ökologischen Wandel, die Digitalisierung und innovative Technologien gebraucht, um die Wettbewerbsfähigkeit Europas durch die Förderung hochwertiger Arbeitsplätze, der Aus-, Fort- und Weiterbildung und des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts bei gleichzeitiger europaweiter Koordinierung zu stärken.

6.7.

Der EU-Aufbauplan muss sich unbedingt auf die Sozialpartner stützen und diese auf allen Ebenen einbeziehen. Der soziale Dialog ist das Schlüsselinstrument für eine gute wirtschaftspolitische Steuerung in Krisenzeiten. Konsultationen und Gespräche auf dreigliedriger Ebene sorgen für eine bessere Politikgestaltung zur Bewältigung der Krise, die Einbeziehung der Sozialpartner in die Umsetzung und die Schaffung von Zuversicht, dass die Schwierigkeiten überwunden werden. Gleichzeitig werden der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Resilienz unserer Volkswirtschaften gestärkt. Auch lokale Behörden sind an einer Bestandsaufnahme der Auswirkungen der Krise auf die Beschäftigten, die Unternehmen und die lokalen Gemeinschaften beteiligt. Diese ist unerlässlich, um zu einer Einigung auf befristete Maßnahmen zu gelangen und einen Konsens für mittel- und langfristige Konjunkturprogramme zu erzielen.

6.8.

Für die Zuweisung europäischer Mittel auf der Grundlage einer mittel- bis langfristigen Planung — wobei eine zu breite Streuung dieser Mittel aufgrund von Fragmentierung zu vermeiden ist — und unter Berücksichtigung der während der Krise aufgetretenen Schwachpunkte und der zunehmenden Ungleichheit in der Gesellschaft müssen nationale Pläne festgelegt werden.

6.9.

In einigen EU-Ländern hat sich der soziale Dialog als wirksam erwiesen, um rasch und effektiv starke Sofortmaßnahmen zu ergreifen und den Unternehmen zu helfen, die Krise zu überstehen und so Arbeitsplätze zu schützen, Menschen in Beschäftigung zu halten. Er hat zur Sicherstellung von Kurzarbeitsregelungen beigetragen, mit denen die Auswirkungen auf die Beschäftigung abgefedert werden sollten, sowie zu Planungssicherheit für die Arbeitnehmer und Unternehmen für die Bewältigung der Erholungsphase.

6.10.

In einigen Mitgliedstaaten erhielten die schutzbedürftigsten Gruppen, z. B. Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, Selbständige und nicht angemeldete Arbeitskräfte, jedoch keinen Zugang zu Schutzmaßnahmen und laufen Gefahr, in Armut zu geraten, wodurch sich die soziale Notlage verschlimmern würde.

6.11.

Langfristig kann die EU die Mitgliedstaaten und die Sozialpartner dadurch unterstützen, dass sie Strukturreformen, durch die der Beschäftigungsschutz eingeschränkt wird, rückgängig macht, mehr Spielraum für Tarifverhandlungen schafft und die Einrichtungen des Arbeitsmarkts stärkt. Ferner sollte sich die EU dringenden Herausforderungen zuwenden, z. B. der Langzeitarbeitslosigkeit, dem Übergang zu einer grünen Wirtschaft und der Digitalisierung sowie der Weiterbildung und Umschulung, um die Beschäftigungsfähigkeit zu erhöhen. Gleichzeitig sollte sie einen angemessenen Regelungsrahmen für verschiedene Beschäftigungsformen schaffen.

6.12.

Eine bessere Zusammenarbeit zwischen der Kommission, den nationalen Regierungen, Arbeitgebern und Gewerkschaften kann auch dazu beitragen, die Sozialsysteme an die sich ändernden wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten in Europa anzupassen und auf diese Weise den Sozialschutz auf die heute noch ausgeschlossenen schutzbedürftigen Gruppen auszuweiten. Im Rahmen des Rates (Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) sollte das Europäische Semester durch eine neue Bewertungsmatrix mit Indikatoren weiter verbessert werden, um die Mitgliedstaaten bei der Überwachung der erzielten Fortschritte bei den vereinbarten Maßnahmen und der Verwirklichung der gemeinsamen Ziele auf europäischer Ebene zu unterstützen. In diesen schwierigen Zeiten sind Entschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein aller Behörden auf europäischer und nationaler Ebene sowie der Sozialpartner und anderer Interessenträger aus dem sozialen Bereich aller Ebenen von wesentlicher Bedeutung, um eine nachhaltige Erholung unserer Volkswirtschaften und die Stärkung des europäischen Gesellschaftsmodells sicherzustellen.

6.13.

In der Mitteilung Europäisches Semester 2020: Länderspezifische Empfehlungen (52) richtete die Europäische Kommission ihre Empfehlungen in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie an alle Mitgliedstaaten. In der Einleitung betont sie: Ein gut funktionierender sozialer Dialog trägt ganz wesentlich dazu bei, dass die Maßnahmen erfolgreich, inklusiv und nachhaltig sind. Leider ist festzustellen, dass in einigen Mitgliedstaaten der soziale Dialog und die Einbeziehung der Sozialpartner und der Organisationen der Zivilgesellschaft während der COVID-19-Krise geschwächt oder eingeschränkt wurden (53). Drei Mitgliedstaaten — Ungarn, Polen und Rumänien — erhielten daraufhin eine Empfehlung, für eine angemessene und wirksame Einbeziehung der Sozialpartner und Interessenträger in die Politikgestaltung zu sorgen. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen für diese Länder genau zu überwachen und zu bewerten.

6.14.

Die Kommission sollte — beispielsweise durch Berichterstattungsinstrumente — dafür sorgen und gleichzeitig überwachen, dass die Mitgliedstaaten während des gesamten Europäischen Semesters und bei der Konzipierung ihrer nationalen Aufbaupläne einen wirksamen sozialen Dialog mit nationalen Interessenträgern führen, um auf der Grundlage eines umfassenden Engagements für wirksame Folge- und Umsetzungsmaßnahmen sicherzustellen.

6.15.

Daneben muss unbedingt sichergestellt werden, dass das Handlungsvermögen der Sozialpartner infolge der Corona-Krise nicht geschwächt wird. Die EU sollte alle notwendigen Maßnahmen, auch finanzielle Hilfe, in Erwägung ziehen, um den Kapazitätsaufbau der Sozialpartner sowohl für Maßnahmen als auch für die Strukturen des sozialen Dialogs zu unterstützen. Die europäischen Sozialpartner haben einen gemeinsamen Vorschlag an die Europäische Kommission gerichtet (54), ein neues Finanzinstrument zur Unterstützung ihrer außerordentlichen Tätigkeiten während der COVID-19-Krise einzuführen.

Brüssel, den 29. Oktober 2020

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Der Begriff „Interessenträger“ bezieht sich auf die Sozialpartner (Arbeitgeber und Gewerkschaften). Am dreigliedrigen sozialen Dialog ist auch die Regierungsseite beteiligt.

(2)  Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung, Internationale Arbeitskonferenz 2008; Entschließung der IAO zur wiederkehrenden Diskussion über den sozialen Dialog, angenommen auf der Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz vom 13. Juni 2013; Entschließung der IAO zur zweiten wiederkehrenden Diskussion über den sozialen Dialog und die Dreigliedrigkeit, angenommen auf der Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz vom 8. Juni 2018. Vgl. auch die Jahrhunderterklärung der IAO zur Zukunft der Arbeit, angenommen von der Internationalen Arbeitskonferenz auf ihrer 108. Tagung, 2019.

(3)  Ebd., IAO-Entschließung 2018; Schlussfolgerungen über menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten, Juni 2016.

(4)  2019 von der OECD veröffentlichte Studien: „Beschäftigungsausblick 2019“ und „Going Digital: Digitalen Wandel gestalten, mehr Lebensqualität sichern“.

(5)  In den länderspezifischen Empfehlungen für mehrere EU-Länder fordert die Kommission konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Hindernissen für Tarifverhandlungen und den sozialen Dialog.

(6)  Hier muss unbedingt darauf hingewiesen werden, dass das IAO-Übereinkommen Nr. 144 über dreigliedrige Beratungen von 26 EU-Ländern ratifiziert wurde, in Kroatien wird es im Februar 2021 in Kraft treten, Luxemburg hat es jedoch nicht ratifiziert.

(7)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.

(8)  Eurofound (2020) Capacity building for effective social dialogue in the European Union.“

(9)  Artikel 151-155 AEUV.

(10)  ABl. C 232 vom 14.7.2020, S. 18.

(11)  Ursprünglich 1996 geschlossen, 2009 überarbeitet. Umgesetzt durch die Richtlinie des Rates 2010/18/EU.

(12)  Umgesetzt durch die Richtlinie des Rates 97/81/EG.

(13)  Umgesetzt durch die Richtlinie des Rates 1999/70/EG.

(14)  Über Telearbeit (2002), arbeitsbedingten Stress (2004), Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz (2007), inklusive Arbeitsmärkte (2010), aktives Altern und einen generationenübergreifenden Ansatz (2017) sowie Digitalisierung (2020).

(15)  Über lebenslange Entwicklung von Kompetenzen und Qualifikationen (2002), Geschlechtergleichstellung (2005) und Beschäftigung junger Menschen (2013).

(16)  Im Arbeitsprogramm 2019-2021 werden folgende sechs Prioritäten benannt: Digitalisierung, Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte und der Sozialsysteme, Kompetenzen, psychosoziale Aspekte und Gefahren am Arbeitsplatz, Aufbau von Kapazitäten für einen intensiveren sozialen Dialog und Kreislaufwirtschaft.

(17)  Die Vier-Parteien-Erklärung ist abrufbar unter: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&newsId=2562.

(18)  Beschluss 98/500/EG der Kommission vom 20. Mai 1998 über die Einsetzung von Ausschüssen für den sektoralen Dialog zur Förderung des Dialogs zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene, abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:1998:225:0027:0028:DE:PDF.

(19)  Wie Verkehr, Energie, Landwirtschaft, Bauwesen, Handel, Metallverarbeitung, Werften und Bildung, Versicherungen und Banken.

(20)  Kerckhofs, Der sektorale soziale Dialog auf europäischer Ebene: Zahlen und Fakten, Eurofound (2019), verfügbar unter https://www.eurofound.europa.eu/de/publications/report/2019/european-sectoral-social-dialogue-facts-and-figures.

(21)  Konkrete Hinweise siehe Ziffer 5.

(22)  Die Europäischen Betriebsräte wurden erstmals durch die Richtlinie 94/45/EG vom 22. September 1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen eingeführt, sind inzwischen aber in der Neufassung der Richtlinie geregelt. https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:02009L0038-20151009 Laut dem Bericht Benchmarking Working Europe 2019 gab es 2018 1 150 Europäische Betriebsräte, die sich aus ungefähr 20 000 Arbeitnehmervertretern zusammensetzten.

(23)  EGB-BusinessEurope, Abschlussbericht — Erfahrung als Fundament: Ein Win-Win-Ansatz in Sachen transnationaler Arbeitsbeziehungen in multinationalen Unternehmen, 2018.

(24)  Angaben der Europäischen Kommission, Datenbank zu transnationalen Betriebsvereinbarungen, abrufbar unter https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=978&langId=de.

(25)  Weitere Informationen unter: https://ec.europa.eu/social/main.jsp?eventsId=1028&catId=88&furtherEvents=yes&langId=en&.

(26)  Nachhaltigkeit und Governance, Bericht zur Beschäftigung und zur sozialen Lage in Europa, Kapitel 6.

(27)  Die ersten Ergebnisse eines gemeinsamen Projekts der IAO und der EU zur Stärkung der Sozialpartner und des sozialen Dialogs wurden auf einer Konferenz im vergangenen März vorgestellt. Dabei ging es um die Wirksamkeit der Institutionen des nationalen sozialen Dialogs und die Rolle des Staates bei der Förderung dieses Prozesses.

(28)  In einem neuen Projekt der IAO und der Europäischen Kommission soll analysiert und dokumentiert werden, wie die Sozialpartner in den EU-Ländern versuchen, sich an diese Veränderungen anzupassen (Youcef Ghellab und Daniel Vaughan-Whitehead).

(29)  Interinstitutionelle Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte, (2017/C/428/9).

(30)  Siehe ETUC Trade Union Involvement Index for the Semester Process (EGB-Index der Gewerkschaftsbeteiligung für das Europäische Semester) in Bezug auf nationale Dialoge im Rahmen des Semesters.

(31)  Zahlreiche Berichte von Eurofound, des EGB, der Europäischen Kommission, des Beschäftigungsausschusses und der Europäischen Beobachtungsstelle zur sozialen Lage bestätigen, dass die Sozialpartner nicht angemessen einbezogen werden.

(32)  https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/economic-and-fiscal-policy-coordination/eu-economic-governance-monitoring-prevention-correction/european-semester/framework/eus-economic-governance-explained_en.

(33)  Ebd. Eurofound-Berichte; Benchmarking Working Europe, ETUI 2018; jährliche ETUI-Analysen der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters.

(34)  Benchmarking Working Europe (Vergleich der Arbeitswelt in Europa), Brüssel: ETUI 2010.

(35)  ILO Policy Brief, The need for social dialogue in addressing the COVID-19 crisis. Genf: Mai 2020.

(36)  Eurofound (2012) Social dialogue in times of global economic crisis.

(37)  Eurofound (2013) Comparative analytical report: the impact of the crisis on working conditions relations.

(38)  Glassner, V. (2013), Central and Eastern European industrial relations in the crisis: national divergence and path-dependent change; und IAO: Recovering from the crisis through social dialogue in the new EU Member States: the case of Bulgaria, the Czech Republic, Poland and Slovenia.

(39)  Eurofound (2014) Changes to wage-setting mechanisms in the context of the crisis and the EU’s new economic governance regime.

(40)  Europäische Kommission: Industrial relations in Europe, 2010.

(41)  Ebd. ILO Policy Brief 2020 und Internetportal der OECD: Tackling coronavirus — Contributing to the global effort, März 2020.

(42)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 35 — in Ziffer 3 wird eine „Sustainable Company“ definiert.

(43)  Artikel auf der Grundlage einer Untersuchung von Eurofound: Pablo Sanz de Miguel, Christian Welz, Maria Caprile, Ricardo Rodríguez Contreras: Industrial democracy in Europe: a quantitative approach, Labour and Industry, Juni 2020.

(44)  Artikel auf der Grundlage einer Untersuchung von Eurofound: Pablo Sanz de Miguel, Christian Welz, Maria Caprile, Ricardo Rodríguez Contreras: Industrial democracy in Europe: a quantitative approach, Labour and Industry, Juni 2020.

(45)  Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer und Richtlinie 2009/38/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats.

(46)  Richtlinie 94/45/EG, Neufassung in der Richtlinie 2009/38/EG.

(47)  Eurofound (2020) Social Dialogue and HR practices in European global companies, mit Analysen und Erkenntnissen über die Entwicklung einer europäischen Dimension des sozialen Dialogs sowohl auf grenzüberschreitender Ebene der Beschlussfassung als auch in lokalen Niederlassungen sowie über die Rolle der Europäischen Betriebsräte als zentrales Bindeglied zwischen den verschiedenen Ebenen des sozialen Dialogs innerhalb eines Unternehmens, z. B. der nationalen und der europäischen Ebene.

(48)  Bericht der Europäischen Kommission über die Durchführung der Richtlinie 2009/38/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen (Neufassung) durch die Mitgliedstaaten, Brüssel, 14.5.2018 (COM(2018) 292 final).

(49)  ABl. C 161 vom 6.6.2013, S. 35.

(50)  Artikel auf der Grundlage einer Untersuchung von Eurofound: Pablo Sanz de Miguel, Christian Welz, Maria Caprile, Ricardo Rodríguez Contreras: Industrial democracy in Europe: a quantitative approach, Labour and Industry, Juni 2020.

(51)  Deutschland: gesetzlich festgelegte direkte Ernennung; Niederlande: Hinzuwahl von seitens der Arbeitnehmer benannten Managern; Frankreich: gemischtes System mit direkten Berufungen und Ernennungen durch die Aktionäre; Schweden: Ernennung von Gewerkschaftsvertretern usw.

(52)  Mitteilung der Kommission COM(2020) 500 final, 20.5.2020, Europäisches Semester 2020: Länderspezifische Empfehlungen.

(53)  EGB Briefing Notes: Workers' Information, Consultation and Participation (Unterrichtung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer), 15. Mai 2020.

(54)  Gemeinsamer Vorschlag der sektorübergreifenden europäischen Sozialpartner für die Schaffung eines speziellen Finanzinstruments zur Unterstützung der Sozialpartner während der COVID-19-Krise, gerichtet an den Exekutiv-Vizepräsidenten Valdis Dombrovskis und den Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Nicolas Schmit vom 10. April 2020.


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