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Document 52019AE4587
Opinion of the European Economic and Social Committee on Demographic challenges in the EU in light of economic and development inequalities (exploratory opinion at the request of the Croatian Presidency)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Demografische Herausforderungen in der EU unter dem Blickwinkel des Wirtschafts- und Entwicklungsgefälles“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des kroatischen Ratsvorsitzes)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Demografische Herausforderungen in der EU unter dem Blickwinkel des Wirtschafts- und Entwicklungsgefälles“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des kroatischen Ratsvorsitzes)
EESC 2019/04587
ABl. C 232 vom 14.7.2020, p. 1–7
(BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)
14.7.2020 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 232/1 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu „Demografische Herausforderungen in der EU unter dem Blickwinkel des Wirtschafts- und Entwicklungsgefälles“
(Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des kroatischen Ratsvorsitzes)
(2020/C 232/01)
Berichterstatter: |
Stéphane BUFFETAUT |
Mitberichterstatter: |
Adam ROGALEWSKI |
Ersuchen des kroatischen Ratsvorsitzes |
Schreiben vom 10.9.2019 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Zuständige Fachgruppe |
Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
3.3.2020 |
Verabschiedung auf der Plenartagung |
7.5.2020 |
Plenartagung Nr. |
551 — Remote-Plenartagung |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
249/0/12 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Diese Stellungnahme wurde vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie erarbeitet. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) geht jedoch davon aus, dass die COVID-19-Krise erhebliche Auswirkungen auf die künftige EU-Politik zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen und der zunehmenden Ungleichheiten zwischen den Mitgliedstaaten haben wird. Diesbezüglich fordert der EWSA die EU auf, einschlägige Maßnahmen mit anspruchsvollen Ressourcen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den verheerenden Auswirkungen der Pandemie und vor allem der anschließenden Wirtschaftskrise vorzubereiten, um die negativen sozialen Auswirkungen abzufedern. Solche Maßnahmen sollten dringend und in Abstimmung mit den Sozialpartnern und der organisierten Zivilgesellschaft ergriffen werden. |
1.2. |
Die derzeitige demografische Situation in der EU erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der Folgendes umfasst: sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen, aktive arbeits- und kohäsionspolitische Maßnahmen, Strategien zur Unterstützung von Familien und insbesondere die Möglichkeit, das Privat- und Familienleben mit dem Arbeitsleben in Einklang zu bringen, Sondermaßnahmen für ältere Arbeitnehmer, Strategien für aktives und gesundes Altern, nachhaltige und integrative Einwanderungsmaßnahmen und Maßnahmen und Strategien zur Verhinderung von Braindrain. |
1.3. |
Es ist unwahrscheinlich, dass es zu einem weiteren Babyboom kommt. Daher ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Erwerbsbeteiligung gesteigert wird, um den Folgen der demografischen Situation Europas zu begegnen. Die Arbeitslosenquote, die Unterbeschäftigung und die Nichterwerbsquote sind in zu vielen Mitgliedstaaten zu hoch. Dies betrifft vor allem junge Menschen, deren Arbeitslosenquote in jedem Mitgliedstaat etwa doppelt so hoch wie die durchschnittliche Arbeitslosenquote ist. Die EU muss die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Priorität machen. |
1.4. |
Die demografische Entwicklung hängt vor allem auch mit dem Vertrauen in die Zukunft zusammen. Daher braucht die EU eine starke Wirtschaft und eine starke Sozialpolitik. Andernfalls werden die Frauen und Männer, insbesondere junge Menschen, in Europa kein Vertrauen in die Zukunft haben. Die sich daraus ergebende soziale und wirtschaftliche Unsicherheit wird sie davon abhalten, Kinder zu bekommen. Daher ist die Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte ein sehr wichtiger Faktor bei der Verbesserung der demografischen Lage in der EU. Der EWSA begrüßt daher die Absicht der Kommission, einen Aktionsplan für ihre Umsetzung auf der Grundlage einer breit angelegten Konsultation zu entwickeln. |
1.5. |
Kinder dürfen weder einer beruflichen Karriere im Wege stehen noch ein Grund für Verarmung oder den Verlust der Kaufkraft — insbesondere von kinderreichen Familien — sein. Nachhaltige und proaktive familienpolitische Maßnahmen und Arbeitsmarktstrategien, bei denen der Mensch mit Mittelpunkt steht, müssen fortgesetzt bzw. eingeführt werden. Dazu gehören Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Privat- bzw. Familienleben und Beruf (Elternurlaub, Kinderbetreuung und andere Betreuungsaufgaben, Heimarbeit, flexible Arbeitszeiten) und finanzielle und pädagogische Unterstützung. Besondere Aufmerksamkeit muss Alleinerziehenden und kinderreichen Familien, die einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt sind, gelten. Zur Steigerung der Geburtenrate hat sich eine nachhaltige und diversifizierte Familienpolitik, die an dem kulturellen Umfeld ausgerichtet ist, als zweckdienlich erwiesen. |
1.6. |
Prekäre Arbeitsbedingungen und das Fehlen stabiler Arbeitsmarktperspektiven sowie Schwierigkeiten bei der Anmietung oder dem Erwerb geeigneten Wohnraums, vor allem in Ballungsräumen und Großstädten, sind für viele junge Menschen traurige Realität. Dies erschwert es ihnen, ihre Zukunft zu planen, auf eigenen Beinen zu stehen und eine Familie zu gründen. Damit sollte sich die Politik sowohl der Union als auch der Mitgliedstaaten stärker befassen. |
1.7. |
Die interne Mobilität ist eine Grundfreiheit der EU, die die europäische Wettbewerbsfähigkeit stärkt und den Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten eröffnet. Bezüglich der EU-Binnenmobilität und Abwanderung von Fach- und Arbeitskräften aufgrund der Binnenmigration ist soziale und wirtschaftliche Konvergenz der Mitgliedstaaten die beste Antwort, die allerdings Zeit braucht. Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung, der Kohäsionsfonds und der Europäische Sozialfonds müssen insbesondere die wirtschaftlich weniger leistungsfähigen EU-Mitgliedstaaten bei Projekten zur Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung unterstützen, damit sie für ihre eigene Bevölkerung attraktiv bleiben bzw. werden. Maßnahmen, die Menschen dazu ermutigen, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, können ins Auge gefasst werden und zu einer gegenseitigen Bereicherung führen. |
1.8. |
Das wirtschaftliche und soziale Umfeld ist ein wichtiger Faktor der Attraktivität. Der EWSA hält Investitionen in wirksame öffentliche Dienstleistungen sowie familienorientierte Investitionen für vordringlich, weil sie die Grundlage für die Zukunft bilden. Höhere öffentliche Investitionen innerhalb der Mitgliedstaaten können unter Anwendung einer goldenen Regel für Investitionen mit einer sozialen Zielsetzung erleichtert werden, um mehr Flexibilität bei den Haushaltsregeln zu ermöglichen. |
1.9. |
Einwanderung allein mag zwar nicht die Lösung für Europas demografische Herausforderungen sein, kann aber zur deren Bewältigung beitragen. Kurzfristig könnte sich die Einwanderung positiv auf das Bevölkerungswachstum und den Arbeitskräftezuwachs auswirken, vorausgesetzt, dass sie mit fairen und nachhaltigen Integrationsmaßnahmen einhergeht, die die Neuankömmlinge bei ihrer Niederlassung unterstützen und Integrationsschwierigkeiten verhindern. |
2. Aktueller Stand
2.1. |
Die Größe der Bevölkerung wird beeinflusst von der Geburtenrate, der Sterblichkeitsrate und der Migration. Die Situation unterscheidet sich zwar von Land zu Land, aber es lässt sich in der EU eine allgemeine Annäherung im Hinblick auf abnehmende Geburten- und Sterblichkeitsraten beobachten. Trotz einiger Unterschiede zwischen den Ländern liegt die Geburtenrate meist signifikant und fortdauernd unter dem Grenzwert für die Generationenerneuerung. Auch angesichts des globalen Trends von schwindenden Sterblichkeits- und Geburtenraten (demografischer Übergang) nimmt Europa eine Sonderstellung ein. |
2.2. |
Zwischen 1950 und 1989 stieg die Einwohnerzahl Europas stets um mehr als zwei Millionen pro Jahr. Seit 1990 blieb dieser Anstieg unter 1,5 Mio. pro Jahr. Gleichzeitig verzeichnete die Welt ein demografisches Wachstum, das durchschnittlich weit über dem in Europa lag. So machte Europa 1950 21,7 % der Weltbevölkerung aus, 2017 jedoch weniger als 10 %. Das demografische Gewicht Europas war noch nie so gering (1). |
2.3. |
Mit Blick auf die Geburtenrate gab es in Europa zwischen 1952 und 1961 mehr als 12 Mio. Geburten pro Jahr. Diese Zahl fiel auf 7,3 Mio. im Jahr 2000. Aufgrund der Migration, durch die relativ junge Menschen nach Europa kamen, und einer Steigerung der Geburtenrate in einigen wenigen EU-Ländern wurde eine leichte Steigerung verzeichnet. Die Zahl der Geburten schwankt aktuell zwischen 7 und 8 Mio. pro Jahr. |
2.4. |
Dies muss in Relation zur Sterblichkeitsrate gesetzt werden. Die Sterblichkeit sinkt und steigt: Sie steigt aufgrund des hohen Lebensalters, das viele ältere Generationen erreicht haben, und sie sinkt aufgrund besserer Gesundheitsfürsorge und medizinischer Bedingungen und einer gesünderen Lebensweise, was die Lebenserwartung in Europa (78 Jahre bei Männern, 83 Jahre bei Frauen in der EU-28) steigen lässt. Insgesamt liegt die Zahl der Todesfälle in Europa seit 1992 bei 8 bis 8,5 Mio. pro Jahr. |
2.5. |
Seit 1994 verzeichnet Europa jedes Jahr einen Bevölkerungsrückgang: einen negativen natürlichen Bevölkerungssaldo, da die Anzahl der Todesfälle über der der Geburten liegt. Dieser Bevölkerungsrückgang betrifft Deutschland, Bulgarien, Kroatien, Spanien, Estland, Finnland, Griechenland, Ungarn, Italien, Lettland, Litauen, Portugal, Rumänien und Slowenien. |
2.6. |
Trotz der Migration, durch die Menschen in die EU kommen, die jünger sind als die hiesige Bevölkerung, ist Europa im 21. Jahrhunderts durch eine Bevölkerungsalterung geprägt. Der Anteil der Menschen im Alter über 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung ist von 12,5 % im Jahr 1989 auf 18,8 % im Jahr 2019 gestiegen. Der EWSA hat bereits betont, dass die Erwerbsquote der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wichtiger ist als der Altersquotient, d. h. das Verhältnis zwischen Personen im erwerbsfähigen Alter und Personen über 65. Folglich muss die Erwerbsfähigkeit von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten genutzt werden. Eine bessere Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt und Zugang von Arbeitslosen und Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu Ausbildung sind grundlegend, um die mit der steigenden Lebenserwartung verbundenen demografischen Herausforderung zu bewältigen. |
2.7. |
Einige Mitgliedstaaten müssen eine hohe innereuropäische Mobilität in Mitgliedstaaten mit höheren Lebensstandards bewältigen, die die Probleme in Verbindung mit der Bevölkerungsalterung noch verschärft, da es meist die jüngeren Menschen sind, die das Land verlassen. Diese Länder erfahren eine Abwanderung von Arbeitskräften aller Qualifikationsstufen, und vor allem eine Abwanderung von Fachkräften, die für die betroffenen Länder besorgniserregend ist. Sie haben in die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung investiert, von denen dann andere Länder profitieren, die bessere Arbeitsbedingungen und soziale Bedingungen bieten können. 2018 verfügten 36 % der mobilen Arbeitnehmer in der EU über ein hohes Bildungsniveau, 40 % über ein mittleres und 23 % über ein geringeres Bildungsniveau. Allerdings waren nur 20 % in hochqualifizierten Berufen tätig, 60 % in Berufen mit mittleren Qualifikationsanforderungen und 20 % in Berufen mit niedrigem Qualifikationsniveau (2). |
2.8. |
Zudem beschleunigt die Abwanderung in die wirtschaftlich stärkeren Mitgliedstaaten die Alterung und den Bevölkerungsrückgang in den östlichen Mitgliedstaaten. Setzt sich diese Entwicklung im selben Tempo fort, so wird die Bevölkerung im Alter über 65 Jahren in den östlichen Mitgliedstaaten größer sein als die in den westlichen europäischen Ländern (3). |
2.9. |
Die Hauptgründe für die Abwanderung von Arbeitnehmern aus den osteuropäischen Ländern in wohlhabendere Mitgliedstaaten sind die Löhne und Gehälter, der Sozialschutz und die Sozialstandards, die viel niedriger sind als in den alten Mitgliedstaaten. Das Lohngefälle zwischen Ost- und Westeuropa nahm bis zur Krise zwar ab, aber der Anstieg der Löhne in Osteuropa kam während der Krise zum Stillstand (4). In einigen östlichen Mitgliedstaaten kam es infolge hoher Auswanderungszahlen zu einem Mangel an Arbeitskräften. |
2.10. |
Gleichzeitig stieg die Migration aus den südlichen in die westlichen Mitgliedstaaten infolge der Wirtschaftskrise (5) und ihrer Nachwirkungen. In diesem Fall haben schlechte Arbeitsmarktaussichten, einschließlich einer hohen Arbeitslosigkeit, zu einer Zunahme der Migration von Arbeitskräften aus Südeuropa nach Westeuropa geführt, unabhängig von ihren Qualifikationen. |
2.11. |
Zur Migration tragen auch Faktoren bei, die nicht rein wirtschaftlicher Natur sind, wie rechtliche, kulturelle und soziale Rahmenbedingungen. So verlassen bspw. einige Menschen ihr Land und ziehen in stärker entwickelte Wohlfahrtsstaaten, die besseren Sozialschutz und eine bessere Gesundheitsversorgung bieten. Menschen können auch aus Gründen der Religion, der ethnischen Herkunft oder der sexuellen Orientierung diskriminiert werden und daher in Mitgliedstaaten auswandern, deren Gesellschaft und Rechtssysteme für diese Familien aufgeschlossener sind und sie besser schützen. Insgesamt ist es schwierig, das Ausmaß dieser Mobilitätsphänomene und ihre Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung zu messen. |
3. Allgemeine Bemerkungen
3.1. |
Der EWSA fordert einen ganzheitlichen Ansatz für die Lösung der demografischen Herausforderungen. Dieser Ansatz umfasst nicht nur Maßnahmen in Bezug auf die Geburtenrate selbst, sondern auch die Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Beschäftigung, Gleichstellung der Geschlechter, eine nachhaltige Familienpolitik, die Regional- und Kohäsionspolitik, die Qualität der öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistungen. |
3.2. |
Wenn es um Demografie geht, geht es um Kinder, Mütter und Väter, und nicht einfach nur um Zahlen und Statistiken. Es geht um die Menschen und ihre Lebensplanung, unabhängig von der Art der Familie. Die europäischen Gesellschaften müssen die Schutzbedürftigen — in diesem Fall sind es die Kinder, deren Rechte und Interessen an oberster Stelle stehen müssen — unterstützen und schützen. |
3.3. |
Der EWSA hat eine Reihe von Stellungnahmen zur Demografie vorgelegt. In einigen davon hat er darauf hingewiesen, dass sich Länder mit soliden familienpolitischen Maßnahmen, die darüber hinaus divers ausgestaltet sind und die Kulturen der betroffenen Mitgliedstaaten widerspiegeln, in einer besseren demografischen Lage befinden als diejenigen, die über keine oder nur eine schwache Familienpolitik verfügen (6). In anderen betonte der Ausschuss, wie wichtig solide arbeitsmarktpolitische Maßnahmen auf der Grundlage einer hohen Erwerbsbeteiligung und hochwertiger Arbeitsplätze sind, um den demografischen Herausforderungen wirksam zu begegnen (7). |
3.4. |
Der EWSA ist der Ansicht, dass bereits Maßnahmen vorhanden sind, die zur Bewältigung der demografischen Herausforderungen eingesetzt werden könnten, insbesondere angesichts des Wirtschafts- und Entwicklungsgefälles. Die europäische Säule sozialer Rechte ist ein wichtiges Instrument zur Erreichung einer steigenden sozialen und wirtschaftlichen Konvergenz in der EU, das auch zur Lösung der demografischen Herausforderungen beitragen kann. |
3.5. |
Der EWSA vertritt die Auffassung, dass ein Umfeld, das den Menschen wirtschaftliche und soziale Stabilität sowie angemessene Lebens- und Arbeitsstandards bietet und in dem die Sozialpartner eine wichtige Rolle spielen, für die Sicherstellung positiver demografischer Entwicklungen in der EU von grundlegender Bedeutung ist. Dies umfasst mehr Investitionen in soziale Infrastruktur, familienpolitische Maßnahmen, hochwertige öffentliche Dienstleistungen und aktive Arbeitsmarktmaßnahmen. |
3.6. |
Wenn man die sich auf die Demografie auswirkenden Maßnahmen untersucht, zeigt sich, dass dabei verschiedene über die Zeit stabile Maßnahmen kombiniert werden. Das ist wichtig, weil Elternschaft oder ein Familienprojekt per definitionem ein langfristiges Projekt ist. Bei den familienpolitischen Maßnahmen sollte besondere Aufmerksamkeit auf armutsgefährdete Familien wie z. B. Alleinerziehende und kinderreiche Familien gelegt werden. Es sei daran erinnert, dass die zweite Armutsursache nach Arbeitslosigkeit in zerrütteten Familien zu suchen ist und das Armutsrisiko mit der Zahl der unterhaltsberechtigten Kinder im Haushalt wächst. Der EWSA hat ein angemessenes Mindesteinkommen in der EU gefordert (8). |
3.7. |
Der EWSA unterstreicht die wesentliche Rolle der öffentlichen Dienstleistungen für die sozialpolitischen Maßnahmen und die Unterstützung von Familien. Hochwertige, zugängliche und erschwingliche Pflege und Betreuung (für Kinder, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen) sind für die Lösung der demografischen Herausforderungen und die Unterstützung des Bevölkerungswachstums von grundlegender Bedeutung. Unzureichende Investitionen in die öffentlichen Dienstleistungen haben zu einem Arbeitskräftemangel und zu einem Mangel an angemessener Infrastruktur geführt. Besondere Aufmerksamkeit sollte auf die Kinderbetreuung, die Bildung sowie auf Maßnahmen gelenkt werden, die sich an ältere Generationen richten. Einer der Bereiche, in denen unzureichende Investitionen am stärksten sichtbar sind, ist die Langzeitpflege und die Gesundheitsversorgung älterer Menschen (9). |
3.8. |
Der EWSA fordert mehr Investitionen in öffentliche Dienstleistungen und sozialpolitische Maßnahmen, um den demografischen Herausforderungen zu begegnen. Der EWSA bekräftigt seine Auffassung, dass höhere öffentliche Investitionen innerhalb der Mitgliedstaaten unter Anwendung einer „goldenen Regel“ für Investitionen für soziale Ziele erleichtert werden können, um mehr Flexibilität bei den Haushaltsregeln zu ermöglichen. Existierende und zukünftige EU-Fonds, insbesondere die Investitionsoffensive für Europa, sollten stärker auf mehr Ausgaben für soziale Investitionen, die Unterstützung von Familien und die Förderung der Gleichheit ausgerichtet werden, da dadurch ein Beitrag zur Lösung der demografischen Herausforderungen geleistet wird. |
3.9. |
Der EWSA unterstreicht den Umfang und die Bedeutung unbezahlter Arbeit, die hauptsächlich von Frauen verrichtet wird, die im Rahmen der Solidarität in der Familie den Großteil der Last der Pflege und Betreuung tragen, die Familie unterstützen und den Mangel an öffentlichen Dienstleistungen ausgleichen. Dies ist eine echte Arbeit, die jedoch nur selten als solche anerkannt wird, obgleich unbezahlte Pflege auf 10 % und Hausarbeit auf 39 % des weltweiten BIP geschätzt werden (10). Es ist wichtig und nur gerecht, die Arbeit unbezahlter Pflegekräfte, gewöhnlich Familienmitglieder, anzuerkennen und zu unterstützen, die auf eine Erwerbstätigkeit verzichten, um kranke, behinderte oder andere pflegebedürftige Angehörige zu pflegen, u. a. durch ausreichende Investitionen in die Betreuungsinfrastruktur. Die Mitgliedstaaten sollten angehalten werden, den wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Wert dieser Arbeit anzuerkennen, indem ihnen ein angemessener Status und eine angemessene finanzielle Unterstützung gewährt wird und ihre Sozialversicherungsansprüche gewährleistet werden. |
3.10. |
Besondere Aufmerksamkeit sollte auf die ländliche Bevölkerung gerichtet werden, die sogar noch schneller altert als die Bevölkerung insgesamt. Eine typische Entwicklung auf dem Lande in ganz Europa ist die schwindende Bevölkerung, da junge Menschen dazu tendieren, zur Ausbildung oder Arbeit in größere Städte zu ziehen. Zu den zentralen Maßnahmen zur Bekämpfung der Abwanderung aus ländlichen Gebieten und kleinen und mittleren Städten in der Provinz gehören die Sicherung des Lebensstandards einschließlich angemessener Arbeitsmarktperspektiven sowie Investitionen in die Infrastruktur, Bildung und öffentliche Dienstleistungen. |
3.11. |
Der EWSA unterstreicht, wie wichtig die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen und der Sozialpartner bei der Diskussion und Entwicklung von Maßnahmen für die demografischen Herausforderungen ist. |
4. Die Bedeutung hochwertiger Arbeitsplätze sowie proaktiver Arbeitsmarktmaßnahmen und Maßnahmen zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Privat- bzw. Familienleben
4.1. |
Der EWSA ist der Ansicht, dass proaktive Arbeitsmarktmaßnahmen, die zur Schaffung stabiler Arbeitsplätze und zum Wohlergehen der Arbeitnehmer beitragen, wichtige und wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der demografischen Herausforderungen sind. Der Großteil des Einkommens der europäischen Bevölkerung wird durch Arbeit erwirtschaftet, und ohne Schaffung von Arbeitsplätzen, dynamische Arbeitsmarktperspektiven, Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt und hochwertige Beschäftigung ist es schwer, eine Familie zu gründen und ihr angemessene Lebensbedingungen zu bieten. Durch Tarifverträge können die Sozialpartner einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Löhne, der Arbeitsbedingungen und der sozialen Bedingungen leisten. |
4.2. |
Der EWSA nimmt den Bericht über demografische Szenarien für die EU (Demographic scenarios for the EU) (11) zur Kenntnis, in dem festgestellt wird, dass das am ehesten durchführbare und wirksamste Mittel zur Bewältigung der negativen Folgen der Bevölkerungsalterung nicht darin besteht, die Geburtenrate oder die Migration zu steigern, sondern vielmehr darin, die Erwerbsbeteiligung zu steigern. Auf mittlere und lange Sicht ist eine ausgewogenere Demografie notwendig, um die Ausgewogenheit unserer Sozialausgaben und die Dynamik unserer Wirtschaft sicherzustellen. |
4.3. |
Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut trotz Erwerbstätigkeit sind äußerst wichtig, wenn es darum geht, Familien angemessene Lebensbedingungen und Kindern und Eltern ein angemessenes Leben zu bieten. Der EWSA nimmt den Vorschlag der Kommissionspräsidentin zur Kenntnis, wonach sichergestellt werden soll, „dass jeder Arbeitnehmer in der Union einen gerechten Mindestlohn erhält“ (12). Vor diesem Hintergrund wird der EWSA eine Sondierungsstellungnahme zu Thema „Angemessene Mindestlöhne in ganz Europa“ erarbeiten. |
4.4. |
Das demografische Wachstum kann unter anderem mit hochwertigen Arbeitsplätzen, die zu den Einflussfaktoren wirtschaftlicher Stabilität zählen, dem Zugang zu Weiterbildung zur Verbesserung der Fähigkeiten und Kompetenzen der Arbeitnehmer und der Möglichkeit, sichere und flexible Arbeitsbedingungen miteinander zu vereinbaren, unterstützt werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte Teilzeitregelungen sowie flexiblen Arbeitsregelungen geschenkt werden, um die Vereinbarkeit von Beruf und Privat- bzw. Familienleben zu verbessern. Eine Maßnahme, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und den Schutz des Familien- und Privatlebens in Zeiten einer beschleunigten Digitalisierung ermöglicht, ist das Recht auf Nichterreichbarkeit („right to disconnect“), das der EWSA als bewährte Praxis erachtet (13). |
4.5. |
In früheren Stellungnahmen (14) forderte der EWSA proaktive Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter, um das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern zu beseitigen und Maßnahmen zu fördern, die die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben fördern. Studien zeigen, dass es sowohl für Familien als auch für die europäische Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit von Vorteil ist, wenn Männer in die Aufgaben im Zusammenhang mit Pflege und Betreuung eingebunden werden. Durch die Förderung der Erwerbsbeteiligung von Frauen könnten diese ihr Potenzial in Zeiten abnehmender Erwerbsbevölkerung und steigender Bevölkerungsalterung in der EU entfalten. |
4.6. |
Besondere Aufmerksamkeit sollte jungen Arbeitnehmern geschenkt werden, die Eltern sind oder es werden möchten. Die durchschnittliche Jugendarbeitslosenquote in der EU ist weiterhin höher als die allgemeine Arbeitslosenquote und variiert zwischen 5 bis 40 % in einigen Ländern (15). Junge Menschen sind außerdem besonders stark von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen (16). Zudem ist es aufgrund fehlender Schaffung von Arbeitsplätzen, dynamischer Arbeitsmarktperspektiven, Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt sowie der Schwierigkeiten, Wohnraum zu mieten oder zu erwerben, für sie nicht einfach, ihre Zukunft zu planen, auf eigenen Füßen zu stehen, sich niederzulassen und eine Familie zu gründen. Der Zugang zu hochwertigen Arbeitsplätzen für junge Menschen sollte verbessert werden: Dies würde ihnen die Sicherheit geben, die sie für die Gründung einer Familie brauchen. |
4.7. |
Am anderen Ende der Generationenkette müssen die älteren Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt unterstützt werden, damit sie bis zu dem in ihrem Land geltenden gesetzlichen Rentenalter arbeiten können (17). Dies könnte erreicht werden durch eine Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen, um Arbeitsplätze zu schaffen, die den Bedürfnissen älterer Menschen gerecht werden. Besondere Aufmerksamkeit sollte der Bekämpfung von Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt gewidmet werden. |
4.8. |
Auch die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz sind besonders zu beachten, da das Altern höhere Gesundheitsrisiken birgt. Daher ist es von außerordentlicher Bedeutung, die Arbeit so zu organisieren und Arbeitsplätze so zu gestalten, dass diese Risiken vermieden werden und mehr Arbeitnehmer bis zum regulären Rentenalter arbeiten können (18). |
5. Bedeutung familienpolitischer Maßnahmen für eine dynamischere demografische Entwicklung
5.1. |
In Mitgliedstaaten, die aktive familienpolitische Maßnahmen umsetzen, ist die Geburtenrate höher als in denen, die keine oder nur schwache familienpolitische Maßnahmen umsetzen. Kinder sind die Zukunft Europas. Daher muss dafür Sorge getragen werden, dass Eltern im Hinblick auf Lebensstandard und Karriereaussichten nicht bestraft werden. Dafür müssen steuerliche Maßnahmen, Sozialgesetzgebung, direkte Finanzhilfe und effiziente und erschwingliche öffentliche Dienstleistungen, darunter Kinderbetreuung, miteinander kombiniert werden. Geschieht dies, greifen die Maßnahmen (19). Damit sie auch weiterhin wirksam sind, müssen sie nachhaltig sein und eine stabile Rechtsgrundlage bilden. |
5.2. |
Diese familienpolitischen Maßnahmen sind jedoch Teil eines größeren Rahmens, der ihre Wirksamkeit sicherstellt: Arbeitsplätze, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, eine familienfreundliche Kultur, eine angepasste Wohnungspolitik, ein effizientes Bildungssystem und effiziente Umweltmaßnahmen. Schließlich gehören das Familienleben und der Beruf zu den größten Sorgen von Frauen und Männern. Daher muss sich auch die europäische Gesellschaft dafür interessieren. |
5.3. |
Die Demografie muss auf lange Sicht betrachtet werden und bedarf eines koordinierten europäischen Handelns. Die EU sollte gemeinsame Leitlinien auf der Grundlage der Solidarität zwischen den Generationen und der Gleichstellung der Geschlechter entwickeln und dabei den nationalen Kulturen und den sozialpolitischen Unterschieden Rechnung tragen. Die derzeitige Lage der Europäischen Union erfordert auch Maßnahmen, die auf die Steigerung der Geburtenrate abzielen. Gemäß dem Spruch „Regieren bedeutet vorsorgen“ müssen wir jetzt handeln. |
6. Migration einschließlich Mobilität innerhalb der EU
6.1. |
Im Hinblick auf die Rolle der Einwanderung bei der Lösung der demografischen Herausforderungen bekräftigt der EWSA seine Auffassung, dass Einwanderung einen positiven Einfluss auf das Bevölkerungswachstum und den Arbeitskräftezuwachs hat, denn sie kann dazu beitragen, auch bei einem negativen natürlichen Bevölkerungswachstum die Gesamtbevölkerung und die Erwerbsbevölkerung konstant zu halten. Zugegebenermaßen ist Einwanderung nicht die endgültige Lösung zur Bewältigung der Folgen der demografischen Alterung in Europa. Sie könnte jedoch auch ein Mittel sein, um den Mangel an Arbeitskräften und Qualifikationen zu beheben, der nicht im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung steht (20). |
6.2. |
Es sollte außerdem darauf geachtet werden, dass nicht die systematische Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften aus den Entwicklungsländern gefördert wird, da dies den Fachkräftemangel dort noch verschärft und ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung beeinträchtigt. Darüber hinaus ist es wichtig, eine aktive Aufnahme- und Integrationspolitik zu verfolgen, um Schwierigkeiten bei der Niederlassung in einem neuen Land und in einer neuen Kultur zu vermeiden. |
6.3. |
Die Freizügigkeit der EU-Bürger ist eine Grundfreiheit der Union. Ein hohes Maß an Migration innerhalb der EU kann jedoch besondere Herausforderungen für die Herkunftsmitgliedstaaten — wie die beschleunigte Alterung oder den Verlust von Arbeitskräften und Kompetenzen — sowie für die aufnehmenden Mitgliedstaaten bedeuten. |
6.4. |
Die Frage ist, ob diese EU-Binnenmobilität irreversibel ist oder ob die Menschen lediglich für befristete Zeit einwandern und dann in der Regel wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren. Tatsächlich kehrt ein Großteil der Personen, die ihr Land verlassen, innerhalb von zwei Jahren dorthin zurück. Es handelt sich um eine Form der zirkulären Mobilität. Solche Bewegungen sind für die betroffenen Länder eine gegenseitige Bereicherung. Damit es häufiger dazu kommt, muss es eine wirtschaftliche und soziale Aufwärtskonvergenz zwischen Ost und West und des Südens hin zum Westen geben. Dem Abfluss von Arbeitskräften kann am besten begegnet werden, indem das existierende Gefälle verkleinert wird. |
Brüssel, den 7. Mai 2020
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Luca JAHIER
(1) Gérard-François Dumont „Vue de ses frontières, une Europe vieillissante mais attractive pour les migrants“ (Blick von den Grenzen aus: ein alterndes, für Migranten aber attraktives Europa), Diploweb, La revue géopolitique, 3.11.2019.
(2) https://www.etui.org/Publications2/Working-Papers/Why-central-and-eastern-Europe-needs-a-pay-rise.
(3) Demographic Scenarios for the EU, 2019, https://ec.europa.eu/jrc/en/publication/eur-scientific-and-technical-research-reports/demographic-scenarios-eu.
(4) https://www.etui.org/Publications2/Working-Papers/Why-central-and-eastern-Europe-needs-a-pay-rise.
(5) 2018 Annual Report on Intra- EU Labour Mobility Final Report 2018.
(6) ABl. C 218 vom 23.7.2011, S. 7, und ABl. C 161 vom 13.7.2007, S. 66.
(7) ABl. C 318 vom 29.10.2011, S. 1, und ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 60.
(8) ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 1.
(9) ABl. C 71 vom 24.2.2016, S. 46.
(10) https://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=E/CN.6/2017/3.
(11) Demographic Scenarios for the EU, 2019.
(12) ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 142.
(13) ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 52.
(14) ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 44, und ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 26.
(15) Rede Ursula von der Leyens.
(16) ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 60.
(17) ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 142.
(18) https://osha.europa.eu/sites/default/files/publications/documents/Work-related_MSDs_prevalence_costs_and_demographics_in_the_EU_report.pdf.