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Document 52018IE2210

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“ (Initiativstellungnahme)

EESC 2018/02210

ABl. C 190 vom 5.6.2019, p. 1–8 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

5.6.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 190/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“

(Initiativstellungnahme)

(2019/C 190/01)

Berichterstatter: Georges DASSIS

Beschluss des Plenums

15.3.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

18.12.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.2.2019

Plenartagung Nr.

541

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

158/81/12

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Seit der Errichtung der ersten Europäischen Gemeinschaft, der EGKS, im Jahr 1952 unterstützen zwei Generationen europäischer Bürgerinnen und Bürger in ihrer großen Mehrheit das Projekt der europäischen Integration. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt ist seit jeher ein wichtiger Faktor für den Rückhalt für dieses Projekt in der Öffentlichkeit.

1.2.

Seit dem Beginn der Wirtschaftskrise infolge der Finanzkrise von 2008 und trotz der in den letzten Jahren zu beobachtenden wirtschaftlichen Erholung ist die Armutsrate im Falle von Langzeitarbeitslosen und erwerbstätigen Armen weiter gestiegen und bewegt sich in den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor auf einem besorgniserregend hohen Niveau.

1.3.

Bisher haben die Dokumente und Maßnahmen der EU — etwa die Strategie Europa 2020, die auf die Verringerung der Zahl der von Armut bedrohten Personen um 20 Millionen abzielte — nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht. Durch die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ausschließlich mithilfe der offenen Methode der Koordinierung scheinen sich die gesteckten Ziele somit nicht erreichen zu lassen.

1.4.

Die Einführung eines verbindlichen europäischen Rahmens für ein angemessenes Mindesteinkommen in Europa, der es ermöglicht, die Mindesteinkommenssysteme in den Mitgliedstaaten allgemein zu verbreiten, zu unterstützen und angemessen zu gestalten, wäre somit eine erste wichtige europäische Reaktion auf das gravierende und hartnäckige Problem der Armut in Europa. Sie trüge dazu bei, „für Europa in sozialen Fragen ein AAA-Rating“zu erreichen (wie von Präsident Juncker angekündigt), und würde die konkrete Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger senden, dass unsere Union wirklich für sie da ist.

1.5.

Sie könnte in Form einer Richtlinie erfolgen, in der ein Bezugsrahmen für die Festlegung eines angemessenen Mindesteinkommens gesetzt wird, das an Lebensstandard und Lebensstil der einzelnen Länder angepasst ist. Dabei sollten Elemente der sozialen Umverteilung, der Besteuerung und des Lebensstandards in Abhängigkeit von einem Referenzbudget berücksichtigt werden, dessen Berechnungsmethode auf europäischer Ebene festzulegen ist.

1.6.

Die Wahl der Rechtsinstrumente, die diesen europäischen Rahmen für die Einführung eines angemessenen Mindesteinkommens in Europa bilden würden, ist darin begründet, dass sichergestellt werden muss, dass alle Personen, die eine solche Unterstützung benötigen, auch Zugang dazu haben, und dass die Hilfe ihren tatsächlichen Bedürfnissen entspricht. Ein angemessenes Mindesteinkommen ist auch ein Instrument zur (Wieder-)Eingliederung ausgegrenzter Personen in den Arbeitsmarkt und zur Bekämpfung von Erwerbsarmut.

1.7.

Die Frage der Einführung eines von der EU garantierten angemessenen Mindesteinkommens ist hochpolitisch. Gerechtfertigt ist ein Tätigwerden der EU in diesem Bereich durch den EUV, den AEUV, die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989, die Charta der Grundrechte von 2000 und die europäische Säule sozialer Rechte; allerdings ist strittig, ob eine Rechtsgrundlage für EU-Rechtsvorschriften über ein Mindesteinkommen existiert. Diejenigen, die sich für den Rückgriff auf europäische Rechtsvorschriften aussprechen, sehen diese Rechtsgrundlage in Artikel 153 Absatz 1 Buchstaben c (1) und h (2) AEUV. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt einen pragmatischen Ansatz, d. h. einen verbindlichen europäischen Rahmen, um die Erarbeitung von Regelungen zur Gewährleistung eines angemessenen Mindesteinkommens in den Mitgliedstaaten sowie seiner Finanzierung zu unterstützen und lenken.

1.8.

In seiner ersten einschlägigen Stellungnahme (3) hat der EWSA die Kommission aufgefordert, Finanzierungsmöglichkeiten für ein europäisches Mindesteinkommen zu prüfen, insbesondere im Hinblick auf die Schaffung eines entsprechenden europäischen Fonds. Der Ausschuss bekräftigt hier diese Aufforderung, da ihr die Kommission bisher nicht nachgekommen ist.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.   Einleitung

2.1.1.

Die Debatte über die Einführung eines Mindesteinkommens auf europäischer Ebene findet vor dem Hintergrund einer sozialen Krise statt, die trotz der wirtschaftlichen Erholung andauert und eine massive Ausgrenzung mit sich bringt. Den neuesten Zahlen von Eurostat zufolge sind 112,9 Millionen Personen bzw. 22,5 % der Bevölkerung in der Europäischen Union von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das bedeutet, dass auf sie mindestens eines der folgenden drei Kriterien zutrifft: Sie sind nach Sozialtransfers armutsgefährdet (Einkommensarmut), sie leiden unter erheblichen materiellen Entbehrungen oder sie leben in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung. Nachdem der Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen in der EU zwischen 2009 und 2012 dreimal in Folge gestiegen ist und fast 25 % erreicht hatte, ist er seither stetig gesunken und lag im vergangenen Jahr bei 22,5 %, also 1,2 Prozentpunkte unter seinem Referenzniveau von 2008 und einen Prozentpunkt unter dem Niveau von 2016. (4)

2.1.2.

In Bezug auf das Thema dieser Stellungnahme, nämlich ein angemessenes Mindesteinkommen für Menschen, die in Armut bzw. großer Armut leben, ist leider festzustellen, dass die Quote der Langzeitarbeitslosen von 2,9 % im Jahr 2009 (Bezugsjahr zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Strategie Europa 2020) auf 3,4 % im Jahr 2017 und die Quote der erwerbstätigen Armen im Euroraum von 7,6 % im Jahr 2006 auf 9,5 % im Jahr 2016 (von 8,3 % im Jahr 2010, dem ersten Jahr mit verfügbaren Daten, auf 9,6 % in der EU-28) gestiegen sind.

2.1.3.

Besonders stark betroffen sind junge Menschen. 2016 gab es in der EU mehr als 6,3 Millionen Personen im Alter von 15 bis 24 Jahren, die weder eine Arbeit hatten noch eine schulische oder berufliche Ausbildung absolvierten (NEET). Trotz eines Rückgangs von über 23 % im Jahr 2013 auf unter 19 % im Jahr 2016 bewegt sich die Jugendarbeitslosigkeit in der EU nach wie vor auf sehr hohem Niveau (in einigen Ländern beträgt sie mehr als 40 %). Die Langzeitarbeitslosigkeit unter jungen Menschen ist weiter auf Rekordhöhe. Die Jugendarbeitslosenquote ist mehr als doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote (ca. 19 % gegenüber 9 % im Jahr 2016), wobei große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern bestehen: So liegen 30 Prozentpunkte zwischen dem Land mit der niedrigsten Quote, d. h. Deutschland (7 %), und den Mitgliedstaaten mit den höchsten Quoten, d. h. Griechenland (47 %) und Spanien (44 %).

2.1.4.

Diese Situation geht zudem mit massiver Ausgrenzung und Armut einher und betrifft in besonderem Maße Kinder. Nach Angaben von Eurostat sind 26 Millionen Kinder in Europa von Armut und Ausgrenzung betroffen — das sind 27 % der EU-Bevölkerung unter 18 Jahren. (5) Diese Kinder leben in armen Familien, mitunter Alleinerziehenden-Haushalten oder von Erwerbsarmut betroffenen Familien, und befinden sich damit in einer Art von Armutsfalle, aus der sie sich nur sehr schwer befreien können. In seiner Entschließung vom 20. Dezember 2010 (6) wies auch das Europäische Parlament darauf hin, „dass Frauen wegen Arbeitslosigkeit, allein zu bewältigender Fürsorgepflichten, prekärer und schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse und der Diskriminierung bei Löhnen und der niedrigeren Renten und Pensionen von Armut bedroht sind“.

2.1.5.

Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der in vielen EU-Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen zur sozialen Abfederung herauszustellen, mit denen weitere krisenbedingte Notlagen verhindert werden konnten, die allerdings ihre Grenzen haben und einer dauerhaften sozialen Krise nicht standhalten können. Eine beschäftigungsfördernde wirtschaftliche Erholung ist deshalb unabdingbar, wobei das Mindesteinkommen ein Instrument zur (Wieder-)Eingliederung ausgegrenzter Personen in den Arbeitsmarkt sein könnte. Länder, die über Regelungen für angemessene Mindesteinkommen verfügen, sind im Übrigen besser in der Lage, die negativen Auswirkungen der Krise zu bewältigen und die Ungleichheiten zu verringern, die den sozialen Zusammenhalt unterminieren. Es gibt ermutigende Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung, die aber noch fragil ist und auf wachsenden Ungleichheiten aufbaut. Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion über die Einführung eines angemessenen Mindesteinkommens in Europa also höchst aktuell.

2.1.6.

Bisher haben die Dokumente und Maßnahmen der EU — etwa die im Juni 2010 verabschiedete Strategie Europa 2020, die auf die Verringerung der Zahl der von Armut bedrohten Personen um 20 Millionen (sic) abzielte — nicht die erwarteten Ergebnisse erbracht. Da die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips allein mithilfe der offenen Methode der Koordinierung nicht die erhofften Ergebnisse geliefert hat, muss diese Methode durch ein EU-Instrument ergänzt werden. Regelungen für angemessene Mindesteinkommen kommen nicht nur den Menschen, die darauf angewiesen sind, zugute, sondern der gesamten Gesellschaft. Sie gewährleisten, dass diese Personen weiterhin aktiv an der Gesellschaft teilnehmen können, und helfen ihnen, wieder Zugang zur Erwerbswelt zu finden und ein Leben in Würde zu führen. Angemessene Mindesteinkommen sind unerlässlich für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, bilden eine echte Grundlage für den sozialen Schutz und gewährleisten einen gesamtgesellschaftlich vorteilhaften sozialen Zusammenhalt.

2.1.7.

Mindesteinkommensregelungen machen nur einen geringen Teil der Sozialausgaben aus, rentieren sich aber in hohem Maße; das Fehlen von Investitionen hat hingegen äußerst negative Folgen für den Einzelnen und bringt langfristig hohe Kosten mit sich. Sie bilden ein Bündel wirksamer Anreize, da das ausgegebene Geld umgehend wieder in die Wirtschaft fließt — häufig in Branchen, die am stärksten unter der Krise leiden. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen Mindesteinkommen und Mindestlohn tragen sie auch dazu bei, angemessene Löhne zu garantieren und einen Anstieg der Zahl von erwerbstätigen Armen zu vermeiden.

2.1.8.

Es ist wichtig, das in dieser Stellungnahme behandelte angemessene Mindesteinkommen nicht mit dem Grundeinkommen zu verwechseln, das allen Mitgliedern einer Gemeinschaft (Kommune, Region oder Staat) unabhängig von ihrer Bedürftigkeit oder Beschäftigungssituation ausgezahlt wird. Auch wenn die Länder größtenteils über Mindesteinkommensregelungen (7) verfügen, ist zu prüfen, inwiefern diese die Bedürfnisse der Bevölkerung decken, weil es hier in den meisten Fällen noch Probleme gibt. Diese Frage ist derzeit Gegenstand laufender Arbeiten in Deutschland und Frankreich. (8).

2.1.9.

Zum Mindesteinkommen gibt es bereits viele Arbeiten, und es wurden schon diverse Standpunkte formuliert. Mit dieser Stellungnahme möchte der EWSA den Begriff der „Angemessenheit“(im Sinne eines Minimums, das ein menschenwürdiges Leben oberhalb der Armutsgrenze erlaubt) herausstellen und stützt sich dabei auf den von der IAO verwendeten englischen Begriff „decent work“ (9).

2.1.10.

Zu berücksichtigen sind außerdem die Arbeiten des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, der Ausschüsse für Beschäftigung und Sozialschutz des EU-Ministerrates und die bereits erheblichen Beiträge von Netzen wie des European Minimum Income Network (EMIN)) (10) wie auch alle Arbeiten des Europäischen Netzes gegen Armut (EAPN) (11), an denen auch der EGB beteiligt ist. Zu erwähnen sind darüber hinaus die Arbeiten der IAO und des Europarates.

2.1.11.

Die meisten Mitgliedstaaten haben Mindesteinkommensregelungen eingeführt. Begriffsbestimmungen, Zugangsbedingungen und Anwendungsniveaus sind äußerst unterschiedlich und sollten mittels gemeinsamer Kriterien, die es ermöglichen, den Besonderheiten der einzelnen Länder Rechnung zu tragen, sowohl generalisiert als auch harmonisiert werden. Bislang unterstützt die Kommission das Mindesteinkommen und vertritt die Ansicht, dass die Regelung dieser Frage den Mitgliedstaaten obliegt. Das Fehlen signifikanter Ergebnisse erfordert verstärkte nationale Maßnahmen und eine stärkere Koordinierung bis 2020, aber auch die Einführung wirksamerer europäischer Instrumente zur Erreichung des gesteckten Ziels.

2.1.12.

Einige grundsätzliche Bemerkungen zum Schluss dieser Einleitung:

ein angemessenes Mindesteinkommen ist nur sinnvoll im Rahmen eines allgemeinen Konzepts der aktiven Integration und Inklusion, das den Zugang zu inklusiven Arbeitsmärkten (mit hochwertiger Beschäftigung und Weiterbildung) und den Zugang zu hochwertigen öffentlichen Dienstleistungen (insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen) miteinander verbindet;

das Recht auf Arbeit muss ein Grundrecht und ein wesentlicher Faktor der Selbstbestimmung und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bleiben;

ein angemessenes Mindesteinkommen ist grundsätzlich ein zeitlich befristetes, aber unerlässliches Element, das auf die (Wieder-)Eingliederung von Menschen in den Arbeitsmarkt durch aktive Maßnahmen abzielt; es handelt sich um eine Initiative, die für die Glaubwürdigkeit der EU eine maßgebliche Rolle spielt;

Angemessenheit, Reichweite und Zugang zum Mindesteinkommen stellen die Mitgliedstaaten bei ihren Anstrengungen zur Entwicklung eigener Regelungen noch immer vor große Herausforderungen. Diese Regelungen müssen unterstützt und falls erforderlich auf europäischer Ebene ergänzt werden.

3.   Politischer Wille und technische Lösungen

3.1.   Die Rechtsgrundlagen sind vorhanden und müssen angewandt werden

3.1.1.

Ob es eine Rechtsgrundlage gibt, die den Erlass von Rechtsvorschriften über das Mindesteinkommen ermöglicht, ist strittig. Offenkundig ist jedoch, dass die offene Methode der Koordinierung keine ausreichenden Ergebnisse erbracht hat, um ein angemessenes Mindesteinkommen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, was die Ungleichheiten zwischen ihnen verschärft — und für die EU ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem bedeutet.

3.1.2.

Die Frage des Mindesteinkommens ist hochpolitisch. Denn es ist Sache der EU, die Initiative zu ergreifen, wobei sich die Kommission nicht hinter dem — in diesem Falle zu Unrecht angeführten — Subsidiaritätsprinzip verschanzen darf, wenn sie die Auffassung vertritt, dass sie nicht tätig werden kann. Bei einer Frage der Menschenwürde und der Menschenrechte wäre eine Untätigkeit der Kommission inakzeptabel und würde zudem dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger das europäische Projekt nicht mehr nachvollziehen könnten. Aus diesem Grund fordert der Ausschuss die Kommission auf, sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um eine koordinierte Strategie der Mitgliedstaaten auf nationaler und europäischer Ebene zu stärken, die darauf abzielt, das Mindesteinkommen auszubauen und ein verbindliches europäisches Instrument zu konzipieren, das auf einer gemeinsamen Vorgehensweise zur Festlegung von Referenzbudgets beruht und so zur Gewährleistung eines angemessenen Mindesteinkommens beiträgt.

3.1.3.

Im Lichte der Europäischen Sozialcharta des Europarates von 1961, der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 und der Charta der Grundrechte von 2000 (Artikel 34) zählt das Mindesteinkommen eindeutig zu den Zielen der EU und der Kommission, wobei letztere eine einschlägige Initiative auf den Weg bringen muss, um die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu ergänzen und zu harmonisieren. Dies gilt umso mehr, als die Kommission in Ziffer 14 des Vorschlags für eine Säule sozialer Rechte ausdrücklich auf „das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen“verweist.

3.1.4.

Die Rechtsgrundlagen der Verträge sind besonders relevant, z. B.: Artikel 3 EUV, in dem als Ziele der Union Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt genannt werden, aber auch die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierungen sowie die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, Artikel 9 AEUV, demzufolge die EU „bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen […] den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung [trägt]“, sowie insbesondere Artikel 151 AEUV, der zu Beginn des Titels X „Sozialpolitik“steht und folgende Ziele sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten vorsieht: „die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen“ — Ziele, die von der Union insofern verwirklicht werden können, als sie (gemäß Artikel 153 Absatz 1 AEUV) „die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten [unterstützt und ergänzt]: […] c) soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, […] h) berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen, […] j) Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, [und] k) Modernisierung der Systeme des sozialen Schutzes […]“.

3.1.5.

Zu definieren ist daher auch, wer als „Arbeitnehmer“anspruchsberechtigt ist. Der Ausschuss sollte sich mit diesem Thema eingehender beschäftigen, zumal im EU-Recht keine gemeinsame Definition des Begriffs „Arbeitnehmer“existiert. Es muss deshalb geklärt werden, wie der Begriff „Arbeitnehmer“nach Artikel 153 Absatz 1 Buchstabe c AEUV zu verstehen ist. Einstweilen ist davon auszugehen, dass der entscheidende Aspekt in Artikel 153 AEUV nicht der Begriff „Arbeitnehmer“im Sinne des Rechts auf Freizügigkeit ist, sondern vielmehr der Begriff „Arbeitnehmer“im Sinne des Rechts auf soziale Sicherheit, das wiederum für alle Personen gilt, die Zugang zu den Systemen haben, die die in Verordnung Nr. 883/2004 genannten Risiken abdecken.

3.1.6.

Dazu hat der EWSA Folgendes festgestellt: „Angesichts der Tatsache, dass Armut und soziale Ausgrenzung populistischen Tendenzen in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Vorschub leisten, begrüßt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Schlussfolgerungen des Rates vom 16. Juni 2016„Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung: Ein integrierter Ansatz“ (12) und spricht sich gleichzeitig dafür aus, im Rahmen der nächsten finanziellen Vorausschau ausgehend von den bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung des Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (FEAD) und des Europäischen Sozialfonds (ESF) einen integrierten europäischen Fonds für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu schaffen.“ (13)

3.1.7.

Der politische Wille zeigt sich auch in einer objektiven Bewertung der Umsetzung der Strategie Europa 2020, ihrer Erfolge und Misserfolge sowie in der Verbesserung der Sichtbarkeit des Handelns der EU zur Unterstützung und Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Diese zusätzliche Unterstützung könnte die Form eines europäischen Fonds zur Finanzierung des gemäß dem Rechtsrahmen festgelegten Mindesteinkommens annehmen.

3.1.8.

Die Kommission darf sich nicht hinter dem Subsidiaritätsprinzip verstecken. Erheben die Mitgliedstaaten Einwände, die sie mit der Subsidiarität begründen, so geschieht dies normalerweise, um zu vermeiden, dass sie ihre nationalen Rechtsvorschriften infolge einer Maßnahme der EU ändern müssen. Hingegen darf sich die Kommission als Hüterin des Allgemeininteresses nicht nur in abstrakter Weise auf das Subsidiaritätsprinzip beziehen, da dies auf Selbstzensur hinauslaufen würde, was umso gravierender wäre, da es sich um eine Frage der Grundrechte handelt. Da die Kommission keinen Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt vorgelegt hat, kann Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht seine volle Wirkung entfalten. Außer dem Rat können die „nationalen Parlamente oder die Kammern eines dieser Parlamente […] binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Entwurfs eines Gesetzgebungsakts in den Amtssprachen der Union in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist“. Die Erbringung dieses demokratischen Beitrags, der sich von jenem des Rats unterscheiden kann, wird immer dann vereitelt, wenn die Annahme eines Gesetzgebungsakts durch die Diskussionen zwischen Kommission und Rat verhindert wird.

3.1.9.

Schließlich kann der Verweis auf die europäische Säule sozialer Rechte — deren Grundsätze der EWSA uneingeschränkt unterstützt — kein Argument gegen die Annahme eines verbindlichen europäischen Rechtsrahmens für ein Mindesteinkommen sein, vor allem weil eine unstrittige Rechtsgrundlage im Vertrag existiert. Die europäische Säule sozialer Rechte ist eine Erklärung der EU-Organe und soll „als Kompass für […] soziale Ergebnisse dienen“ (14). Die Säule muss also die Grundlage für Handlungs- und Rechtsetzungsvorschläge sein, so wie sie von der Kommission bereits genutzt wurde. Im Übrigen darf der Wortlaut von Ziffer 14 der Säule („Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen.“) keinesfalls restriktiv ausgelegt werden. Eine solche Auslegung stünde nämlich im Widerspruch zu Punkt 6 der Präambel der Säule, in dem darauf verwiesen wird, dass der AEUV „Bestimmungen [enthält], mit denen die Zuständigkeiten der Union festgelegt werden; diese betreffen unter anderem […] die Sozialpolitik (Artikel 151 bis 161).“Was die Gesetzgebungsbefugnisse der EU betrifft, so wird außerdem in der Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen zur Mitteilung zur europäischen Säule sozialer Rechte auf den Artikel des Vertrags über die berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Personen Bezug genommen.

3.1.10.

Der EWSA unterstützt die in der Säule sozialer Rechte verankerten Grundsätze uneingeschränkt und ist der Auffassung, dass der Erlass eines verbindlichen europäischen Rahmens für die Einführung eines angemessenen Mindesteinkommens auf europäischer Ebene die feierlichen Erklärungen — die seit der Charta der sozialen Grundrechte allesamt den Kampf gegen die soziale Ausgrenzung beschwören — konkretisieren sowie die Botschaft senden würde, dass der europäische Einigungsprozess im 21. Jahrhundert nur möglich ist, wenn dem Leben der Bürgerinnen und Bürger der EU Aufmerksamkeit gewidmet wird.

3.2.   Technische Lösungen

3.2.1.

Aus technischer Sicht wird es erforderlich sein, die Bedingungen für den Bezug des garantierten Mindesteinkommens festzulegen. Bei der Festlegung des garantierten Mindesteinkommens sind insbesondere folgende Faktoren zu berücksichtigen:

die Verbindung zwischen dem garantierten Mindesteinkommen und den Voraussetzungen für die Inanspruchnahme,

der Einfluss der Haushaltszusammensetzung angesichts der Bedeutung des Faktors „Kinder“für Armut,

andere Ressourcen, z. B. Erbschaften,

die Zusammensetzung des garantierten Mindesteinkommens aus Sach- und Geldleistungen, z. B. durch den Zugang zu Gesundheitsfürsorge, Wohnraum, Mobilität, Familienförderung und -einrichtungen.

3.2.2.

Das Mindesteinkommen muss in ein umfassendes Konzept für die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen eingebettet sein, das sich nicht nur auf das Existenzminimum oder auf die Armutsrate beschränkt, die auf der Grundlage des Medianeinkommens berechnet wird, das in der Realität in einigen Ländern nicht die Grundbedürfnisse widerspiegelt. Es muss vielmehr allen Bedürfnissen in puncto Lebensstandard, Wohnen, Bildung, Gesundheit und Kultur Rechnung tragen und den Personen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und in der Armutsfalle gefangen sind, die besten Voraussetzungen für ihre (Wieder-)Eingliederung bieten. Gegenstand der Diskussion sind die Bedingungen für den Bezug, die geklärt werden sollten.

3.2.3.

Dieses Konzept stützt sich auf die Arbeiten von Wirtschaftswissenschaftlern wie Amartya Sen — insbesondere auf das, was dieser als „capabilities“(Fähigkeiten) bezeichnet und drei Elemente umfasst:

Gesundheit/Lebenserwartung: Jüngste Studien haben gezeigt, dass Menschen, die in Armut leben, bei ihrer Gesundheitsversorgung, insbesondere der zahnmedizinischen Versorgung, sparen. Sie haben eine ungesunde Lebensweise, ernähren sich schlechter und leiden deshalb häufiger unter Problemen im Zusammenhang mit Adipositas. Daher gibt es erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Reichen und Armen. Diesbezüglich gilt es auch, die Beschwerlichkeit der Arbeit zu berücksichtigen.

Wissen/Bildungsniveau: Die Statistiken lassen eindeutig einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosenquote und Bildungsniveau erkennen. Laut den Daten von Eurostat für das Jahr 2015 haben 11 % der Europäer im Alter von 18 bis 24 Jahren vorzeitig die Schule verlassen.

Lebensstandard: Hier geht es darum, bei der Festlegung der Höhe des Mindesteinkommens nicht nur eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln zu berücksichtigen, sondern auch alle anderen Faktoren, die die Lebensqualität bestimmen. Möglichkeiten der Mobilität und Zugang zur Kultur sind wichtige Integrations-/Inklusionsfaktoren hinsichtlich des Umgangs mit anderen Menschen und der sozialen Teilhabe, d. h. Mittel, um arme Menschen aus ihrer Isolation zu holen, die einen Teufelskreis der sozialen Ausgrenzung darstellt.

3.2.4.

Es müssen auf pragmatische und flexible Weise Instrumente zur Berechnung eines angemessenen Mindesteinkommens geschaffen werden. Es müssen gemeinsame Methoden zur Berechnung eines Referenzbudgets und dessen Anpassung an jedes Land festgelegt werden. Zu diesem Thema liegen bereits wichtige Arbeiten vor, insbesondere die des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Antwerpen sowie des EAPN und des EMIN. Referenzbudgets müssen einerseits Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten bieten und andererseits eine flexible Anwendung auf die Bedingungen der einzelnen Länder ermöglichen. Sie dürfen nicht nur auf dem sogenannten Warenkorb für Lebensmittel beruhen, sondern müssen auch Aspekte einbeziehen wie Gesundheitsversorgung und Körperpflege, Bildung, Wohnen, Kleidung, Mobilität, Sicherheit, Freizeit, soziale Beziehungen und Kindersicherheit sowie die zehn Bereiche, die für die gemeinsame Methodik im Rahmen des Projekts der Referenzbudgets ermittelt wurden. Einer der Vorzüge dieser Referenzbudgets, die von Forschern und Nichtregierungsorganisationen wie dem EAPN und dem EMIN nachdrücklich befürwortet werden, besteht darin, dass mit ihnen die Gültigkeit der bis heute zur Festlegung der Armutsgrenzen verwendeten Indikatoren überprüft werden kann.

3.2.5.

Es sollte außerdem untersucht werden, inwiefern die Einführung eines Mindesteinkommens eine Rationalisierung der Sozialleistungen in einigen Ländern bewirken könnte. Dieser Ansatz liegt z. B. dem Vorschlag für ein „allgemeines Aktivitätseinkommen“(revenu universel d'activité) zugrunde, der in dem vom Präsidenten der französischen Republik vorgelegten Plan zur Armutsbekämpfung enthalten ist, welcher darauf abzielt, allen Anspruchsberechtigten ein Mindestmaß an Würde zu garantieren und möglichst viele Sozialleistungen zusammenzulegen. Darüber hinaus würde die in Deutschland geführte Debatte über die Einführung eines solidarischen Grundeinkommens eine Bekämpfung der Armut ermöglichen, insbesondere im Falle von Langzeitarbeitslosen, durch eine Vereinfachung der Sozialhilfesysteme. Die Regierung hat bereits Mittel in Höhe von 4 Milliarden EUR bis 2021 vorgesehen.

Brüssel, den 20. Februar 2019

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/Forschungsberichte/fb491-eu-rechtsrahmen-soziale-grundsicherungssysteme.pdf;jsessionid=99C4D0B602A57E640467F949B3C34894?__blob=publicationFile&v=2.

(2)  https://eminnetwork.files.wordpress.com/2017/11/2017-nov-emin-la-route-de-lue-vers-le-revenu-minimum-fr-pdf-novembre-17.pdf; https://www.eapn.eu/wp-content/uploads/Working-Paper-on-a-Framework-Directive-EN-FINAL.pdf.

(3)  ABl. C 170 vom 5.6.2014, S. 23. Die Gruppe Arbeitgeber des EWSA hat im Übrigen eine Erklärung zu dieser Stellungnahme abgegeben und dagegen gestimmt.

(4)  Eurostat.

(5)  Entschließung des Europäischen Parlaments von 2015 auf der Grundlage der Statistiken von Eurostat.

(6)  Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Europäischen Union — 2010.

(7)  Siehe die Datenbank MISSOC: https://www.missoc.org-database/comparative-tables/results/.

(8)  Die Einführung eines Mindesteinkommens ist ein Element des Programms der deutschen Regierungskoalition und Teil des vom französischen Präsidenten im September 2018 vorgelegten Plans zur Armutsbekämpfung.

(9)  http://www.ilo.org/global/topics/decent-work/lang–en/index.htm.

(10)  https://eminnetwork.files.wordpress.com/2017/11/2017-nov-emin-la-route-de-lue-vers-le-revenu-minimum-fr-pdf-novembre-17.pdf.

(11)  https://www.eapn.eu/wp-content/uploads/Working-Paper-on-a-Framework-Directive-EN-FINAL.pdf.

(12)  http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-10434-2016-INIT/de/pdf.

(13)  ABl. C 173 vom 31.5.2017, S. 15.

(14)  Punkt 12 der Präambel der europäischen Säule sozialer Rechte.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Artikel 39 Absatz 2 der Geschäftsordnung):

Titel sowie gesamte Stellungnahme durch folgenden Wortlaut ersetzen (Begründung am Ende des Änderungsantrags):

Ein europäischer Rahmen für ein Mindesteinkommen

Schlussfolgerungen und Vorschläge

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bringt sich seit jeher aktiv in die auf europäischer Ebene geführte Debatte über die Verringerung der Armut ein. Insbesondere wurde die Idee eines Mindesteinkommens auf europäischer Ebene bereits in einigen seiner früheren Stellungnahmen eingehend erörtert und ist auch Gegenstand der Stellungnahme der Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft „Für eine europäische Rahmenrichtlinie zum Mindesteinkommen“. Der EWSA ist überzeugt, dass Armut weiter bekämpft werden muss. In Bezug auf die Wahl der richtigen Instrumente gehen die Standpunkte jedoch weit auseinander. Den Bemühungen des Berichterstatters um Erzielung eines Kompromisses ist aufrichtige Anerkennung zu zollen, sein Vorschlag für ein verbindliches Instrument für ein europäisches Mindesteinkommen kann jedoch nicht unterstützt werden.

In dieser Gegenstellungnahme soll ein konstruktiver und umfassender Ansatz zur Verringerung der Armut in den Mitgliedstaaten dargelegt werden. Dieser stützt sich auf die Tatsache, dass die Gestaltung der Sozialschutzsysteme gemäß dem Subsidiaritätsprinzip und im Einklang mit der in den EU-Verträgen verankerten Kompetenzverteilung in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Daher müssen Maßnahmen auf EU-Ebene auf der offenen Koordinierungsmethode als dem Hauptinstrument zur Unterstützung der Mitgliedstaaten und auf dem Lernen voneinander in Bezug auf die besten nationalen Lösungsansätze fußen. In dieser Gegenstellungnahme wird ein umfassender Ansatz vorgeschlagen, um den Aktionsradius der EU in diesem Bereich so weit wie möglich zu fassen.

Die Armutsbekämpfung sollte ein gemeinsames Ziel der EU und der Mitgliedstaaten sein. Laut dem Gemeinsamen Beschäftigungsbericht 2019 steigen die Einkommen der Haushalte in fast allen Mitgliedstaaten weiter an. Derzeit sind 113 Millionen Menschen bzw. 22,5 % der Gesamtbevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen — damit ist diese Zahl zwar unter das Niveau vor der Krise gesunken, jedoch inakzeptabel hoch und auf Dauer finanziell untragbar. Die gegenwärtig gute Wirtschaftslage bietet die Gelegenheit, die Umsetzung von Reformen für inklusivere, resilientere und fairere Arbeitsmärkte und Sozialschutzsysteme zu beschleunigen. Allerdings besteht auch das Risiko, dass sich die Konjunktur wieder abschwächt, weshalb die Mitgliedstaaten diese Chance dringend nutzen sollten.

Zwar ist es mit der Strategie Europa 2020 — nicht zuletzt vor dem Hintergrund des robusten Aufschwungs von Wirtschaft und Arbeitsmärkten — gelungen, die Zahl der von Armut bedrohten Menschen zu senken, jedoch müssen weitere Schritte gesetzt werden, um diese positive Entwicklung aufrechtzuerhalten.

In dieser Gegenstellungnahme werden hierzu folgende Empfehlungen ausgesprochen:

1.

Die EU und die Mitgliedstaaten sollten den Schwerpunkt auf die Fortführung ihrer Reformbemühungen und die Schaffung günstiger Bedingungen für neue Arbeitsplätze legen. Das ist die Grundlage für alle Maßnahmen — auch zur Verringerung der Armut. Im zweiten Quartal 2018 gab es in der EU 239 Millionen Erwerbstätige — das ist der höchste Stand seit Beginn des Jahrhunderts. Die EU ist somit auf dem richtigen Weg, das im Rahmen der Strategie Europa 2020 verfolgte Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 % im Jahr 2020 zu erreichen. Diese positive Entwicklung dürfte auch zur Erreichung des in der Strategie festgeschriebenen Ziels der Armutsbekämpfung beitragen. Eine solide Wirtschaftspolitik, gepaart mit laufenden Strukturreformen der Arbeitsmärkte und Sozialschutzsysteme der Mitgliedstaaten, bildet die Grundvoraussetzung für dauerhaftes Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand für die Bürgerinnen und Bürger.

2.

Zusätzlich zu der Schlüsselrolle, die einer soliden Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bei der Armutsbekämpfung zukommt, bedarf es eines integrierten Ansatzes mit einer Kombination aus verschiedenen zielgerichteten Maßnahmen. Das Mindesteinkommen spielt in diesem Ansatz eine wichtige Rolle, es sollte jedoch im Zusammenhang mit integrierten Beschäftigungsmaßnahmen und -diensten betrachtet werden, insbesondere Sozial- und Gesundheitsdiensten sowie wohnungspolitischen Maßnahmen. In allen EU-Mitgliedstaaten wurde die Mindesteinkommensunterstützung von einer rein wirtschaftlichen Unterstützung in eine aktive Maßnahme umgewandelt, die darauf abzielt, die Bezieher auf dem Weg aus der sozialen Ausgrenzung heraus hin zu einem aktiven Leben zu begleiten. Als solche ist sie als vorübergehende Lösung zu betrachten, um Menschen in einer Übergangsphase so lange wie nötig Unterstützung zu bieten. Diese Form der inklusiven Integration auf der Grundlage aktivierender Maßnahmen stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar.

3.

Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip eignet sich die nationale Ebene am besten zur Behandlung der Frage des Mindesteinkommens und zur Umsetzung von Maßnahmen zur Verringerung der Armut. In Übereinstimmung damit haben alle EU-Mitgliedstaaten entsprechend ihrer nationalen Usancen und Wirtschaftskraft Mindesteinkommensregelungen getroffen. Verständlicherweise unterscheiden sich die Definitionen, Bedingungen und die Anwendungsniveaus von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.

4.

Auf der EU-Ebene besteht durchaus Handlungsspielraum für eine Unterstützung der Bemühungen der Mitgliedstaaten. Der EWSA empfiehlt einen pragmatischen Ansatz, der im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip steht und gleichzeitig die Wirkung der auf europäischer Ebene getroffenen Maßnahmen zur Unterstützung und Anleitung der Entwicklung von Mindesteinkommensregelungen in den Mitgliedstaaten maximiert. Die EU und insbesondere die Europäische Kommission sollten eine aktivere Rolle bei der Unterstützung der Bemühungen der Mitgliedstaaten spielen. Daher sollte im Rahmen des Europäischen Semesters eine auf nationaler und europäischer Ebene abgestimmte Strategie für ein umfassendes Handeln und zielgerichtete Maßnahmen erarbeitet werden, wobei die Rolle der nationalen Referenzhaushalte berücksichtigt werden sollte.

Die Art und Weise, wie die Mitgliedstaaten die Ziele der Armutsverringerung erreichen, sollte Gegenstand der Folgemaßnahmen im Rahmen des Europäischen Semesters sein, was eine stärkere Koordinierung voraussetzt. Die Fortschritte könnten mittels gemeinsam vereinbarter Indikatoren/Referenzwerte unterstützt und überwacht werden. Der Beschäftigungsausschuss (EMCO) und der Ausschuss für Sozialschutz (SPC) sind gerade dabei, die Rolle von Referenzwerten zu stärken, und im SPC wird bereits ein eigener Referenzwert für Mindesteinkommen angewandt. Dies ist der richtige Weg, um Fortschritte zu erzielen.

5.

Im Lichte der von den europäischen Sozialpartnern am 26./27. Januar 2016 unterzeichneten Erklärung zu einem Neustart für einen verstärkten sozialen Dialog sollten die Rolle und die Kapazitäten, die den Sozialpartnern als den Hauptakteuren der Arbeitsmärkte zukommt, bei der Politikgestaltung und der Durchführung von Strukturreformen sowohl auf der europäischen als auch der nationalen Ebene weiter gestärkt werden. Auch die Organisationen der Zivilgesellschaft können zu diesem Prozess beitragen, indem sie Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern näherbringen.

6.

Der in dieser Gegenstellungnahme skizzierte Ansatz steht zudem im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte, die „entsprechend den jeweiligen Zuständigkeiten und im Einklang mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowohl auf Unionsebene als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten umgesetzt werden [sollte]; dabei ist den unterschiedlichen sozioökonomischen Rahmenbedingungen und der Vielfalt der nationalen Systeme, einschließlich der Rolle der Sozialpartner, gebührend Rechnung zu tragen“. (1)

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen: 92

Nein-Stimmen: 142

Enthaltungen: 8


(1)  Siehe Absatz 17 der Präambel der Interinstitutionellen Proklamation zur europäischen Säule sozialer Rechte.


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