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Document 52018IE0927

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Finanzierung der europäischen Säule sozialer Rechte (Initiativstellungnahme)

EESC 2018/00927

ABl. C 262 vom 25.7.2018, p. 1–7 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

25.7.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 262/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Finanzierung der europäischen Säule sozialer Rechte

(Initiativstellungnahme)

(2018/C 262/01)

Berichterstatterin:

Anne DEMELENNE

Beschluss des Plenums

15.2.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

26.3.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

19.4.2018

Plenartagung Nr.

534

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

155/3/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1

Die Grundsätze der Europäischen Säule sozialer Rechte („soziale Säule“) und die Notwendigkeit ihrer Umsetzung zusammen mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung sollten bei den Verhandlungen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens der EU für die Zeit nach 2020 eine der Leitlinien bilden.

1.2

Um die soziale Säule zu verwirklichen, bedarf es Verbesserungen in den Mitgliedstaaten. Im sozialpolitischen Scoreboard, das zur Flankierung der Säule erstellt wurde, werden Defizite und erhebliche Unterschiede innerhalb der EU hervorgehoben. Um diese Defizite auszugleichen, ist ein Engagement auf allen Ebenen nötig, auch das der Mitgliedstaaten, Sozialpartner und Akteure der Zivilgesellschaft. Außerdem bedarf es einer soliden Haushaltsgrundlage sowie massiver Investitionen und laufender Ausgaben. Es ist sorgfältig zu überlegen, wie dies finanziert werden soll.

1.3

Der Ausgabenbedarf ist in Ländern mit niedrigerem Einkommen und in Ländern, die in den letzten Jahren Einkommensrückgänge erfahren haben, besonders groß. Alle diese Länder sind in gewissem Maß durch EU-Vorschriften zu Haushalt und Schuldenstand eingeschränkt. Spielräume für höhere Ausgaben lassen sich innerhalb der Mitgliedstaaten mithilfe verschiedener Programme auf EU-Ebene schaffen.

1.4

In einigen Bereichen — wie beispielsweise bei der Ausweitung des digitalen Zugangs — können private Investitionen hierzu einen Beitrag leisten, sofern geeignete regulatorische Rahmenbedingungen geschaffen werden. Private Investitionen sind jedoch nicht ausreichend und können die Ausgrenzung der sozial Schwächsten nicht verhindern, die als erhebliches Problem im Rahmen der sozialen Säule betrachtet wird.

Höhere öffentliche Investitionen innerhalb der Mitgliedstaaten können unter Anwendung einer goldenen Regel für öffentliche Investitionen mit einer sozialen Zielsetzung erleichtert werden, die mehr Flexibilität bei den Haushaltsregeln (1) ermöglichen würde, damit die Ziele der europäischen Säule sozialer Rechte verwirklicht werden können.

1.5

Auch durch den Einsatz bestehender EU-Instrumente, insbesondere der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds), lassen sich öffentliche Investitionen unterstützen, die klarer auf Ziele innerhalb der sozialen Säule ausgerichtet werden können. Zudem lassen sich öffentliche Investitionen über die Europäische Investitionsbank mithilfe des Europäischen Fonds für strategische Investitionen (EFSI) fördern. Der EFSI ermöglichte es der Europäischen Investitionsbank, ihren Kreditrahmen in den letzten Jahren beizubehalten. Ihrer Aufgabe entsprechend sollte diese Förderung ausdrücklich Ziele im Zusammenhang mit der sozialen Säule einschließen.

1.6

Durch eine angemessene Steuerpolitik, die Steuerbetrug, Steuerhinterziehung und eine aggressive Steuergestaltung wirksam bekämpft, sollte es den Mitgliedstaaten und der EU möglich sein, zusätzliche Mittel zur Finanzierung der sozialen Säule aufzubringen. Ein effizienter Einsatz der zusätzlichen Mittel erfordert die Umsetzung der Aktionsprogramme und Fahrpläne zur Umsetzung der sozialen Säule als wichtiger Bestandteil des Europäischen Semesters und insbesondere bei der Entwicklung nationaler Reformprogramme und Konvergenzprogramme. In dieser Hinsicht sollte die EU auch neue Wege beschreiten, um ihre Eigenmittel aufzustocken.

1.7

Die Umsetzung der sozialen Säule erfordert die aktive Teilhabe, Verantwortung und Beteiligung einschlägiger Interessenträger auf allen Ebenen: der europäischen Institutionen, der Mitgliedstaaten und der regionalen und lokalen Behörden sowie der Sozialpartner und weiterer Akteure der Zivilgesellschaft.

2.   Hintergrund

2.1

Die europäische Säule sozialer Rechte, die am 17. November 2017 vom Rat der Europäischen Union, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission proklamiert und unterzeichnet wurde, ist als Maßnahme zur Stärkung der sozialen Rechte und als Beitrag zur kurz- und mittelfristigen Verbesserung der Lebensqualität der Menschen gedacht. Die Umsetzung der sozialen Säule stellt eine gemeinsame Verpflichtung und Verantwortung der EU, der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner dar.

2.2

Die Säule ist Ausdruck der von den Staats- und Regierungschefs von 27 Mitgliedstaaten anerkannten Notwendigkeit, wirtschaftliche und soziale Unsicherheit mit Vorrang anzugehen (2). Für die Dringlichkeit der sozialen Säule werden u. a. folgende Gründe angeführt: schlechte Wirtschafts- und Sozialbilanz in vielen Ländern seit 2008; neue Chancen und Herausforderungen infolge der Globalisierung, Klimawandel, Migration in großem Umfang, Digitalisierung und Bevölkerungsüberalterung; zunehmende Vielfalt im wirtschaftlichen und sozialen Bereich innerhalb der EU infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise; sowie politische Entwicklungen in vielen Ländern, die Einheit und Zusammenhalt Europas bedrohen. Der gewählte Präsident der Europäischen Kommission erklärte im Oktober 2014 vor dem Europäischen Parlament, dass das Anheben der EU auf ein „soziales ‚Triple-A‘“ genauso wichtig sei wie ein „wirtschaftliches und finanzielles ‚Triple-A‘“ (3). Um ein solches Ziel zu erreichen, muss die Verantwortung auf allen Ebenen der EU akzeptiert werden. Mit dem Erreichen eines solchen Ziels dürfte eine Verbesserung des Zusammenhalts, der politischen und sozialen Stabilität und der Wirtschaftsleistung zu erwarten sein, ohne dabei die Bedeutung automatischer Stabilisatoren im Falle wirtschaftlicher Schocks außer Acht zu lassen.

2.3

Wie auch vom EWSA eingeräumt (4), handelt es sich bei der sozialen Säule um eine politische Absichtserklärung, da es nach wie vor keinen klaren Fahrplan für ihre Umsetzung gibt. Insofern bleibt die Säule unvollständig und ermangelt der Anerkennung neuer Rechte und Pflichten. Im Hinblick auf eine starke Wirtschaft und Steuergerechtigkeit müssen mit Unterstützung der Europäischen Union ausreichende Finanzmittel auf der Ebene der Mitgliedstaaten bereitgestellt werden. Dies ist ein wichtiger Aspekt für die Umsetzung der sozialen Säule.

2.4

Im Mai 2018 muss die Europäische Kommission ihre Vorschläge für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) vorlegen. Hierbei ist es von ausschlaggebender Bedeutung, dass die soziale Säule sowie die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung bei der Vorbereitung des nächsten langfristigen EU-Haushalts, der ab 2020 zur Anwendung kommt, eine der Leitlinien bilden.

2.5

Die ordnungsgemäße Umsetzung der sozialen Säule hängt von angemessenen politischen Reformen in den Mitgliedstaaten ab, wie zum Beispiel der Einführung geeigneter Mechanismen zur Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze, zur Verbesserung von Qualifikationen und zur Sicherstellung des effizienten Einsatzes öffentlicher Mittel. Im Einklang mit seinen vorherigen Stellungnahmen befürwortet der EWSA auf soziale und wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtete Strukturreformen: mehr und bessere Arbeitsplätze, nachhaltiges Wachstum, Qualität der Verwaltung und der Institutionen sowie Umweltverträglichkeit (5). Solche Reformen sollten länderspezifisch und im Einklang mit nationalen Reformprogrammen (NRP) durchgeführt werden, um den Wohlstand zu fördern, und Rückhalt durch demokratische Unterstützung erfahren. Eine Einheitslösung für alle Mitgliedstaaten sollte vermieden werden (6).

2.6

Zur sachgerechten Umsetzung der sozialen Säule müssen auch die finanziellen Mittel aufgestockt werden (7). Derzeit machen die EU-Ausgaben für soziale Belange im Durchschnitt nur 0,3 % der gesamten öffentlichen Sozialausgaben in der EU aus, wobei ein Großteil aus den Haushalten der Mitgliedstaaten bereitgestellt wird (8). Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU wird erhebliche Auswirkungen auf den EU-Haushalt haben. Der EWSA betont, dass für die Umsetzung der Sozialpolitik ausreichende Ressourcen bereitgestellt werden müssen. Er unterstützt den Antrag des Europäischen Parlaments, dass die derzeitige Obergrenze für EU-Ausgaben von 1 % auf 1,3 % des BNE angehoben werden sollte (9), und ist der Ansicht, dass eine Aufstockung der Eigenmittel der EU, beispielsweise durch eine Mehrwertsteuererhöhung, aus sozialer Sicht äußerst ungerecht wäre. Der EWSA unterstreicht weiterhin die Notwendigkeit, mehr Ressourcen zur Unterstützung der Kohäsionspolitik sowie zur Unterstützung von Arbeitnehmern und Bürgern im Allgemeinen bereitzustellen. Besonderer Wert wird darauf gelegt, dass die Arbeitnehmer neue Fähigkeiten erwerben, um die Wirtschaft zu stärken. Gleichzeitig stimmt der EWSA zu, dass die zusätzliche Finanzierung nicht auf Sicherheit, Verteidigung und Kontrolle der Außengrenzen beschränkt werden darf. Der Europäische Sozialfonds ist ein wichtiger Faktor für mehr Konvergenz, und der EWSA bekräftigt seine Forderung, dass er nicht gekürzt werden sollte, wenn die Herausforderungen der Zukunft im Hinblick auf den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU angegangen werden sollen (10).

2.7

Das sozialpolitische Scoreboard, das die Erläuterungen der Europäischen Kommission zur sozialen Säule flankiert (11), ist als Instrument zur Fortschrittsüberwachung im Hinblick auf das Ziel eines faireren Europa mit einer stärkeren sozialen Dimension gedacht. Es wurde wegen der Auswahl einiger Indikatoren, wegen der zu Vergleichszwecken verwendeten Zeiträume und in manchen Fällen wegen der zugehörigen Interpretationen kritisiert (12). Der EWSA hat bereits früher gefordert, das Scoreboard zu verbessern (13).

2.8

In einigen Fällen wurden eindeutig ungeeignete Indikatoren verwendet. Das gilt für die Fortschritte im Hinblick auf die Unterschiede bei Entlohnung und Beschäftigung von Männern und Frauen. Beide Geschlechter hatten unter dem Rückgang der geleisteten Arbeitsstunden zu leiden. Bei Männern war der Rückgang jedoch stärker als bei Frauen, sodass die Verringerung der Abweichung (der im Scoreboard verwendete Indikator) keine klare Verbesserung widerspiegelt. Darüber hinaus variieren die Zeiträume zur Messung des Fortschritts. Manchmal umfassen sie nur ein Jahr, manchmal jedoch auch einen längeren Zeitraum, der bis vor die Krise im Jahre 2008 zurückreicht. Mithilfe von längeren Zeiträumen lassen sich längerfristige Trends besser aufzeigen. Die Indikatoren müssen auch flexibel interpretiert und mit der Zeit angepasst werden, wobei hierzu die sich entwickelnden Fachkenntnisse und Daten aus Quellen wie Eurofound zu verwenden sind. Die Überprüfung und Aktualisierung von Indikatoren sollten das Ergebnis einer offenen Debatte sein und Sozialpartner und weitere Interessenträger der Zivilgesellschaft einschließen.

2.9

Trotz einiger Vorbehalte gibt das Scoreboard Aufschluss über den Umfang der zu bewältigenden Aufgabe, wenn die angegebenen Ziele erreicht werden sollen. Es zeigt Unzulänglichkeiten innerhalb aller Mitgliedstaaten und erhebliche Niveauunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten auf, die zu zunehmender sozialer Ungleichheit führen können. In einigen Mitgliedstaaten ist das Niveau bei Einkommen, Lebensstandard, sozialer Sicherheit, sozialer Absicherung, Bildung und Zugang zu digitalen Technologien eindeutig nicht akzeptabel.

2.10

Die Zahlen zu Beschäftigungs- und Arbeitslosenquoten verdeutlichen, wie groß die Unterschiede sind. Die Beschäftigungsquote liegt in Griechenland bei 56 %, während sie in Schweden 81 % erreicht. Die Arbeitslosenquote beträgt in Griechenland 23 % gegenüber 4 % in Deutschland, der niedrigsten Quote in der ganzen EU. Diese Zahlen des Scoreboards deuten auf sehr unterschiedliche soziale Bedingungen innerhalb der EU hin, wobei das ungenutzte Potenzial in einigen Ländern wesentlich größer als in anderen ist.

2.11

Viele weitere Indikatoren weisen in dieselbe Richtung. So liegt zum Beispiel der Anteil der frühzeitigen Schulabgänger in Spanien bei 20 % der 18- bis 24-Jährigen, aber bei weniger als 3 % in Kroatien. Die letztere Zahl ist auch im Hinblick auf die allgemeine Lage junger Menschen irreführend: Der Indikator für die Jugendarbeitslosenquote weist Kroatien als einen der am schlechtesten aufgestellten Mitgliedstaaten der EU aus. Der Anteil der von Armut bedrohten Menschen erreicht in Bulgarien 40 % gegenüber einem EU-Durchschnitt von 23 %.

2.12

Die NEET-Quote (14) (Prozentsatz der 15- bis 24-Jährigen, die weder in Beschäftigung noch in Ausbildung sind) schwankt von 20 % in Italien bis zu unter 5 % in den Niederlanden. Unterstützung durch Aktivierungsmaßnahmen (einschließlich Schulungen, Beschäftigungsanreizen und ähnlichen Maßnahmen) wird in Dänemark von 54 % der Arbeitswilligen, in Bulgarien aber nur von 3 % der Arbeitswilligen in Anspruch genommen.

2.13

Der Anteil der 0- bis 3-Jährigen in Vollzeitbetreuungseinrichtungen reicht von 1,1 % in der Slowakei bis zu über 77 % in Dänemark. Nicht gedeckter Gesundheitsbedarf, der für gewöhnlich auf finanzielle Einschränkungen zurückzuführen ist, wird in Estland und Griechenland mit über 12 % angegeben, ist in Österreich hingegen minimal.

2.14

In der EU als Ganzes betrachtet fehlen 44 % der Menschen angemessene digitale Kompetenzen, wobei die Zahlen von 74 % in Bulgarien bis zu 14 % in Luxemburg reichen.

2.15

Die soziale Säule in die Tat umzusetzen, würde daher für viele Bürger die sozialen Verhältnisse und die Arbeitsmarktbedingungen verbessern und somit zudem das Wirtschaftspotenzial der EU erhöhen. Dies setzt eine Aufwärtskonvergenz der Länder voraus, die derzeit hinterherhinken. Zwar zeigen einige der Indikatoren in den letzten Jahren Verbesserungen; dies gilt jedoch nicht für alle, und auch bei den verbesserten Indikatoren gibt es nach wie vor große Abweichungen.

2.16

Die soziale Säule in die Tat umzusetzen, wird eine enorme Herausforderung sein, die das Engagement der Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Europäischen Union erfordert. Zudem wird es dafür notwendig sein, die Sozialpartner uneingeschränkt einzubeziehen und ihr gemeinsames Handeln anzuregen und zu fördern, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen mit erweitertem Geltungsbereich, vor allem bezüglich Beschäftigungssicherheit, Arbeitsqualität, Lohnbedingungen sowie Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen mit ihrer Erfahrung und Kenntnis der Probleme können sich hier entscheidend einbringen. Außerdem kann die Privatwirtschaft über öffentlich-private-Partnerschaften und Investitionen in den Auf- und Ausbau von Kompetenzen und Qualifikationen in Unternehmen einen wichtigen Beitrag leisten.

3.   Politikbereiche

3.1

Initiativen zur weiteren Umsetzung können neue legislative und nichtlegislative Maßnahmen (auch solche, die sicherstellen, dass bereits beschlossene politische Maßnahmen auch tatsächlich in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden), den Einsatz des europäischen Semesters und die Nutzung der im Rahmen dieses Prozesses abgegebenen länderspezifischen Empfehlungen umfassen (15). Für die erfolgreiche Umsetzung dieser Initiativen ist die Einbeziehung von Sozialpartnern von ausschlaggebender Bedeutung.

3.2

Im Jahr 2015 bzw. 2016 abgegebene länderspezifische Empfehlungen deckten bestimmte Bereiche der sozialen Säule ab, insbesondere im Hinblick auf Renten, öffentliche Dienste, Sozialfürsorge, Gesundheitspflege, Kinderbetreuung, Wohnraum, Verbesserung von Qualifikationen, aktive Beschäftigungsmaßnahmen und Bildung.

3.3

Solche Empfehlungen ergeben jedoch nur dann Sinn, wenn davon auszugehen ist, dass die notwendigen Finanzmittel bereitgestellt werden. Hier kann die EU über ihre verschiedenen Programme und eine flexible Handhabung der Regeln zu Staatshaushalt und Staatsverschuldung positiv eingreifen.

3.4

Die Fragen nach Investitionen und Finanzierung stellen sich in unterschiedlicher Weise in allen von der sozialen Säule abgedeckten Bereichen. Das soziale Scoreboard verdeutlicht auch die Notwendigkeit, in bestimmten Bereichen in allen Mitgliedstaaten, und insbesondere in Mitgliedstaaten mit niedrigerem Einkommen, zu investieren. Die Finanzierung der sozialen Säule ist daher auch mit Elementen aus dem Bereich der makroökonomischen Politik verknüpft: mit einer auf die soziale Konvergenz statt auf soziale Unterschiede ausgerichteten Wirtschaftspolitik, mit Diskussionen zur Verwaltung der Eurozone und mit Maßnahmen zur Förderung von Investitionen, einschließlich Sozialinvestitionen.

3.5

Der EWSA hat bereits die vielen positiven Auswirkungen von sorgfältig geplanten, wirksamen und effizienten, zukunftsorientierten Sozialinvestitionen herausgestellt, die, wie von der Europäischen Kommission in ihrem Sozialinvestitionspaket anerkannt, nicht als Kosten, sondern vielmehr als Investitionen in das Wachstums- und Beschäftigungspotenzial Europas verstanden werden sollten. Der EWSA hat sein Bedauern darüber geäußert, dass nicht mehr zur wirksamen Umsetzung dieser Ziele unternommen wurde. Sozialinvestitionen machen sich mit der Zeit wirtschaftlich und gesellschaftlich bezahlt, was in höheren Arbeits- oder Erwerbseinkommen, besseren Gesundheitsbedingungen, geringerer Arbeitslosigkeit, besserer Bildung, weniger Armut und sozialer Ausgrenzung usw. zum Ausdruck kommt. Außerdem verbessern sie den Wohlstand und das Wohlergehen des Einzelnen und kurbeln die Wirtschaft an, indem sie für höherqualifizierte Arbeitskräfte sowie für mehr Produktivität und Beschäftigung sorgen. Derartige Investitionen, insbesondere wenn sie das nachhaltige Wachstum fördern, würden auch dazu beitragen, die Fertigkeiten und Qualifikationen der Menschen zu stärken, ihre Chancen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen sowie die Wirtschaft anzukurbeln und würden mithelfen, dass die EU stärker und wettbewerbsfähiger aus der Krise hervorgeht. Zudem würden sie der gesteigerten Effizienz und Wirksamkeit der öffentlichen Ausgaben dienen, was mittel- und langfristig zu Einsparungen bei den öffentlichen Haushalten führen würde (16). Der EWSA hat auch auf die langfristigen Kosten hingewiesen, die entstehen, wenn im Sozialbereich nicht gehandelt und investiert wird. In diesem Zusammenhang hat der EWSA zudem auf die Bedeutung von Investitionen in robuste Sozialversicherungssysteme hingewiesen, da diese als automatische Stabilisatoren wirken (17).

3.6

Zu den Elementen der sozialen Säule, die nicht ohne höhere Investitionen oder laufende Ausgaben in Angriff genommen werden können, gehören: das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form; Unterstützung bei der Arbeitssuche; Verbesserung der Gleichstellung der Geschlechter und Verringerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles; Verhinderung von Armut trotz Erwerbstätigkeit; Zugang zu Betreuungs- und Pflegediensten; bezahlbare frühkindliche Bildung; angemessener Sozialschutz; angemessene Arbeitslosenleistungen; Ruhegehälter, die ein angemessenes Einkommen sicherstellen; Würde im Alter; hochwertige und bezahlbare Gesundheitsvorsorge und Heilbehandlung; bezahlbare und hochwertige Langzeitpflegedienste; hochwertige Sozialwohnungen oder hochwertige Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung; sowie Zugang zu Wasser-, Sanitär- und Energieversorgung, Verkehr, Finanzdiensten und digitaler Kommunikation.

3.7

Die wichtigsten EU-Fonds für wirtschaftliches und soziales Wachstum sind die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds), die Beschäftigungsinitiative für junge Menschen, Programme für Wettbewerbsfähigkeit und der Europäische Fonds für strategische Investitionen (EFSI). Investitionen können auch aus den eigenen Haushalten der Mitgliedstaaten und aus privaten Quellen stammen.

3.8

Die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds stellen die bedeutendste Quelle dar mit komplexen Verfahren zur Überwachung und Bewertung von Investitionen. Sie ermöglichen es, wie bereits zuvor in einer Stellungnahme des EWSA festgestellt, höhere Investitionen in die Realwirtschaft zu erzielen. Dank dieser Fonds wurden in Ländern mit niedrigerem Einkommen mehr öffentliche Investitionen getätigt, die jedoch die sinkenden Investitionen aus anderen Quellen nicht ausgleichen bzw. keine rasche Konvergenz auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene sicherstellen konnten. Es muss dafür gesorgt werden, dass diese Fonds gestärkt und aufgestockt werden, um die Bemühungen zur Umsetzung der sozialen Säule zu unterstützen. Der EWSA bekräftigt seine Forderung, die für die ESIF geltenden Verordnungen zu überprüfen und die Bewertung der Wirksamkeit und Effizienz ihres Beitrags zu verbessern (18).

3.9

Die Investitionen können an den Zielen der sozialen Säule ausgerichtet werden, sowohl mit Blick auf die ergriffenen Initiativen als auch mit Blick auf die Bedingungen zur Gewährleistung fairer Beschäftigungspraktiken und zur Unterstützung andernfalls ausgegrenzter Gruppen.

3.10

Der EFSI leistet der Europäischen Investitionsbank eine Garantie, dank derer diese die Höhe ihrer Kredite aufrechterhalten kann, die sonst gesenkt worden wären. Wie EIB-Projekte im Allgemeinen können über den EFSI Projekte unterstützt werden, die mit der sozialen Säule vereinbar sind. Beispiele hierfür sind einige Projekte in den Bereichen soziales Unternehmertum, Gesundheitsversorgung und Sozialfürsorge. Die Tendenz ging bisher eher zu typisch kommerziellen Projekten, bei denen der soziale Nutzen eher einen Nebeneffekt als ein Ziel an sich darstellt.

3.11

Der EWSA hat eine Stärkung der sozialen Dimension des EFSI gefordert durch seinen Einsatz für Bildung, Ausbildung und Berufsbildung für Kompetenzen und lebenslanges Lernen, die Entwicklung der Kreativ- und Kulturwirtschaft, Innovation im Gesundheitswesen und in der Medizin sowie für Infrastrukturen in den Bereichen Sozialfürsorge, sozialer Wohnungsbau und Kinderbetreuung, Tourismus und Umweltschutz. Die Investitionsoffensive für Europa sollte die auf der COP 21 eingegangenen Verpflichtungen ganz klar unterstützen (19).

3.12

Es wird nur wenig Gewicht auf die Bewertung und Überwachung von Projekten zu Beschäftigungsbedingungen, zur Inklusion benachteiligter Gruppen und zu Investitionen in die physische Infrastruktur für soziale Dienste gelegt.

3.13

Ursprünglich bestand die Verpflichtung, bei der Zuweisung der EFSI-Ressourcen geographische Überlegungen zu vermeiden. Einige Länder mit niedrigerem Einkommen erhalten sehr wenige Mittel, obwohl sie nachweislich einen hohen Bedarf haben. Mithilfe von entsprechenden Regelungsänderungen kann sichergestellt werden, dass die weniger entwickelten Länder in der zweiten Phase Priorität erhalten.

3.14

Die Finanzierung der Umsetzung der sozialen Säule hängt außerdem stark von den Ressourcen ab, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten verfügbar sind. Dafür sind Mittel aus Staatshaushalten für Investitionen und auch für die laufenden Kosten von Maßnahmen in den kommenden Jahren erforderlich. Diese können durch die Haushalts- und Schuldenregeln der EU eingeschränkt sein (20). Wie bereits mehrfach vom EWSA betont (21), sollten Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, die im Rahmen dieser Regeln zulässige Flexibilität zu vergrößern, wie zum Beispiel durch eine „goldene Regel“, die öffentliche Investitionen mit einer sozialen Zielsetzung ermöglichen würde, damit die Ziele der europäischen Säule sozialer Rechte insbesondere durch folgende Faktoren verwirklicht werden können: höheres Einkommensniveau, stärkerer sozialer Zusammenhalt und Verhinderung der Ausgrenzung benachteiligter Gruppen, die sonst nicht uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Gleichzeitig würde ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum geschaffen.

3.15

Bei der Finanzierung von sozialen Zielen spielt auch die Unternehmensverantwortung eine wesentliche Rolle. Mit Privatinvestitionen allein können die Ziele der sozialen Säule nicht erreicht werden. Vielmehr sollten Privatinvestitionen zusätzlich zu in die öffentliche Verantwortung fallenden Investitionen getätigt werden, um einen Beitrag in vielen einschlägigen Bereichen zu leisten (darunter Beschäftigung, Verbesserung digitaler Kompetenzen und Sozialfürsorge), insbesondere wenn dafür geeignete Regelungsrahmen und finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Quellen, wie den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds und/oder der EIB, zur Verfügung stehen.

3.16

Der Bedarf an finanziellen Mitteln zur Umsetzung der sozialen Säule muss anerkannt und es muss entsprechend geplant werden. Geeignete institutionelle Rahmenbedingungen sind bereits vorhanden. Die Aufgabe der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds) und des EFSI sollte durch ausdrückliche Bezugnahme auf die soziale Säule verdeutlicht werden. Zudem sollte es möglich sein, die mit der Verfolgung der Ziele dieser Säule verbundenen Kosten über den EU-Haushalt und die Haushalte der Mitgliedstaaten zu decken.

3.17

Schließlich sollte die Europäische Kommission im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Steuerbetrug, Steueroasen und aggressive Steuerplanung sowie zur Verringerung des unfairen Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten (22) verstärkt Maßnahmen für eine gerechte Besteuerung (von multinationalen Unternehmen und Einzelpersonen) (23) sowie für die Bekämpfung der missbräuchlichen und betrügerischen Verwendung von EU-Haushaltsmitteln ergreifen. Bei der Suche nach neuen Steuereinnahmequellen für die Finanzierung der sozialen Säule unter uneingeschränkter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips wäre es angebracht, Besteuerungsarten zu fördern, die die Beitragskapazität des Einzelnen berücksichtigen und gleichzeitig den Anreizen für nachhaltiges Wachstum Rechnung tragen.

3.18

Im Hinblick auf die Finanzierung des EU-Haushalts stimmt der EWSA der im Bericht „Künftige Finanzierung der EU“ vorgenommenen Bewertung der hochrangigen Gruppe „Eigenmittel“ zu, in dem ein EU-Haushalt mit dem Schwergewicht auf unabhängigen, transparenten und gerechten Eigenmitteln gefordert wird (24). Außerdem sollte der Haushalt nach Ansicht des EWSA aufgestockt werden.

Brüssel, den 19. April 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Aus den Erfahrungen lernen: Härten der Sparpolitik in der EU vermeiden, Ziffer 1.6, noch nicht veröffentlicht; Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018, Ziffern 1.8 und 3.6, noch nicht veröffentlicht; ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11; Jahreswachstumsbericht 2018, Ziffer 1.4, noch nicht veröffentlicht; ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(2)  Die europäische Säule sozialer Rechte, Broschüre, S. 6 (ISBN 978-92-79-74080-0).

(3)  http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-14-1525_de.htm.

(4)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145.

(5)  Beispielsweise Verbesserung der Rahmenbedingungen und Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen sowie FuE-Ausgaben; Steigerung der Produktivität von Unternehmen, einzelnen Branchen und der Volkswirtschaft; Förderung der Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze mit höheren Löhnen bei gleichzeitigem Abbau von befristeten und prekären Beschäftigungsverhältnissen im Niedriglohnbereich; Stärkung von Tarifverhandlungen und der Autonomie der Sozialpartner in diesem Bereich sowie des sozialen Dialogs auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene; Reform der öffentlichen Verwaltungen, damit sie wirkungsvoller der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung dienen können und für die Öffentlichkeit transparenter sind; Förderung hochwertiger Bildungs- und Berufsbildungssysteme für Arbeitnehmer im Sinne von Chancengleichheit und positiven Ergebnissen für alle gesellschaftlichen Gruppen.

(6)  Unterstützung von Strukturreformen in den Mitgliedstaaten, Ziffer 3.9, noch nicht veröffentlicht.

(7)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145.

(8)  Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas, S. 24.

(9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. März 2018 zum nächsten MFR: Vorbereitung des Standpunkts des Parlaments zum MFR nach 2020 (2017/2052(INI)), Mitberichterstatter: Jan Olbrycht, Isabelle Thomas, Ziffer 14.

(10)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145, ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.

(11)  https://composite-indicators.jrc.ec.europa.eu/social-scoreboard/#.

(12)  Galgoczi, B. et al., „The Social Scoreboard Revisited“ (Überprüfung des sozialpolitischen Scoreboard), ETUI, 2017.

(13)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145.

(14)  „Not in education, employment or training“.

(15)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 145.

(16)  ABl. C 125 vom 21.4.2017, S. 10.

(17)  ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(18)  ABl. C 303 vom 19.8.2016, S. 94.

(19)  ABl. C 75 vom 10.3.2017, S. 57.

(20)  ABl. C 177 vom 18.5.2016, S. 35.

(21)  Aus den Erfahrungen lernen: Härten der Sparpolitik in der EU vermeiden, Ziffer 1.6, noch nicht veröffentlicht; Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets 2018, Ziffern 1.8 und 3.6, noch nicht veröffentlicht; ABl. C 327 vom 12.11.2013, S. 11; Jahreswachstumsbericht 2018, Ziffer 1.4, noch nicht veröffentlicht; ABl. C 226 vom 16.7.2014, S. 21.

(22)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.

(23)  EU-Finanzen bis 2018, Ziffern 3.3.4, noch nicht veröffentlicht.

(24)  ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 131.


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