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Document 52018AE3992

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu a) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (COM(2018) 378 final — 2018/203 (COD)) und b) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“) (COM(2018) 379 final — 2018/204 (COD))

EESC 2018/03992

ABl. C 62 vom 15.2.2019, p. 56–62 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

15.2.2019   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 62/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu

a) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen

(COM(2018) 378 final — 2018/203 (COD))

und b) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellung von Schriftstücken“)

(COM(2018) 379 final — 2018/204 (COD))

(2019/C 62/09)

Berichterstatter:

Bernardo HERNÁNDEZ BATALLER

Befassung

a)

Europäisches Parlament, 10.9.2018

b)

Europäisches Parlament, 10.9.2018

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

 

 

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

2.10.2018

Verabschiedung auf der Plenartagung

17.10.2018

Plenartagung Nr.

538

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

184/0/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) nimmt die Vorschläge der Kommission zur Änderung der Verordnung über die Beweisaufnahme und der Verordnung über die Zustellung von Schriftstücken zur Kenntnis.

1.2.

Der EWSA fordert die Kommission auf, seine in dieser Stellungnahme vorgetragenen Bemerkungen zu ihren Vorschlägen — insbesondere jene in den Ziffern 5.2, 5.3, 5.4, 5.5, 5.9, 5.10, 6.3, 6.4 und 6.6 — zu berücksichtigen, denn ohne einen echten Rechtsraum können die Freiheiten des Binnenmarkts nicht in vollem Umfang zum Tragen gebracht werden.

2.   Hintergrund

2.1.

Mit dem Ziel, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union (EU) zu schaffen, werden in Artikel 81 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Grundlagen für die Entwicklung der sogenannten „justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen“ mit grenzüberschreitendem Bezug geschaffen, wobei der EU Befugnisse zum Erlass von Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten übertragen werden.

2.2.

Ist dies für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts notwendig, gilt die Bestimmung, dass Maßnahmen zur Sicherstellung der gegenseitigen Anerkennung und der Vollstreckung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zur Sicherstellung der Zusammenarbeit bei der Beweisaufnahme zu erlassen sind.

2.3.

Zur Regelung der Rechtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten ersetzte die EU die in den Haager Übereinkommen vorgesehenen Systeme durch die Annahme folgender Rechtsinstrumente:

2.3.1.

Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 (1) des Rates über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, angenommen auf Initiative der Bundesrepublik Deutschland (im Folgenden „Beweisaufnahmeverordnung“) und gültig in allen Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Dänemark.

2.3.2.

Mit der Verordnung wurden ein EU-weites System für die direkte und schnelle Übermittlung und Erledigung von Ersuchen um Beweisaufnahme zwischen den Gerichten eingerichtet und genaue Vorschriften für Form und Inhalt dieser Ersuchen festgelegt. Damit wurde ein System des unmittelbaren bilateralen Geschäftsverkehrs zwischen den Gerichten eingeführt, das an die Stelle des vorherigen Verfahrens trat, nach dem das Ersuchen eines Gerichts eines Mitgliedstaats der Zentralstelle des anderen Mitgliedstaats übermittelt wurde.

2.3.3.

Die Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 (2) des Europäischen Parlaments und des Rates über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten („Zustellungsverordnung“), gültig in allen Mitgliedstaaten (3).

2.3.4.

Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, in denen ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Mitteilung oder Zustellung an letzteren zu übermitteln ist. Sie erfasst jedoch weder Steuer- und Zollsachen oder verwaltungsrechtliche Angelegenheiten noch die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte („acta iure imperii“).

2.4.

Der EWSA war immer ein Befürworter der Schaffung eines gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der EU, was unter anderem die Annahme von Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit und der Zusammenarbeit in Zivilsachen beinhaltet, die notwendig ist, um zu verhindern, dass Bürger und Unternehmen aufgrund der Unvereinbarkeit oder Komplexität der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten von der Ausübung ihrer Rechte abgehalten oder abgeschreckt werden.

2.5.

Zur Schaffung eines europäischen Rechtsraums ist es unbedingt notwendig, die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten zu verbessern und folglich die Verfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, damit Störungen und Verzögerungen beseitigt werden.

3.   Die Vorschläge der Kommission

3.1.

Mit den Vorschlägen der Kommission sollen die beiden vorhandenen Verordnungen im Bereich der Beweisaufnahme und der Zustellung von Schriftstücken geändert werden.

3.2.   Der Vorschlag zur Änderung der Verordnung über die Beweisaufnahme

3.2.1.

Ziel des Vorschlags ist es, das Funktionieren des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie des Binnenmarkts zu verbessern, indem die grenzüberschreitende Beweisaufnahme verbessert und beschleunigt wird.

3.2.2.

Mit ihm soll die Verordnung der technischen Entwicklung angepasst werden, d. h. es sollen die Vorteile der Digitalisierung genutzt werden, Kommunikation und Austausch von Schriftstücken sollen standardmäßig auf elektronischem Weg erfolgen und der Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre sollen gewährleistet werden, ohne dass dadurch die Verfahrensrechte der Parteien in irgendeiner Weise beeinträchtigt werden. Daher muss das System über eine dezentrale Struktur verfügen, die die direkte Kommunikation zwischen den Endnutzern ermöglicht.

3.2.3.

Der Vorschlag dient der Förderung von modernen Mitteln der Beweisaufnahme wie Videokonferenzen, wenn eine Person, die sich in einem anderen Mitgliedstaat befindet, vernommen werden muss. Mit ihm soll eine angemessenere, häufigere und raschere Nutzung der unmittelbaren Beweisaufnahme gewährleistet werden, wenn eine Person, die ihren Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, als Zeuge, Sachverständiger oder Partei gehört wird.

3.2.4.

Mit ihm werden rechtliche Hindernisse für die Zulassung elektronischer (digitaler) Beweismittel beseitigt. Im Vorschlag ist auch die gegenseitige Anerkennung digitaler Beweismittel vorgesehen. Dies wird den Aufwand für Bürger und Unternehmen in Verfahren verringern und die Zahl der Fälle begrenzen, in denen elektronische Beweismittel zurückgewiesen werden.

3.2.5.

Er enthält einen Vorschlag zur Lösung des Problems der unterschiedlichen Auslegung des Begriffs „Gericht“, der in der Beweisaufnahmeverordnung derzeit nicht definiert ist. Mit dem Vorschlag sollen diesbezügliche Unsicherheiten ausgeräumt werden.

3.2.6.

Der Vorschlag steht mit den bestehenden Rechtsakten der Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Einklang und stellt kein Hindernis für den möglichen Austausch von Informationen zwischen den Behörden im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (4) oder in Unterhaltssachen dar (5), selbst wenn diese Informationen Beweiskraft haben, sodass die ersuchende Behörde die Möglichkeit hat, die am besten geeignete Methode zu wählen.

3.2.7.

Er dient der Regelung der Möglichkeit der Beweisaufnahme durch diplomatische oder konsularische Vertreter eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats innerhalb des Bereichs, in dem sie ihre Aufgaben wahrnehmen, ohne dass ein vorheriges Ersuchen an die Zentralstelle oder die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats gerichtet werden muss.

3.2.8.

Um die gegenseitige Anerkennung digitaler Beweismittel zu gewährleisten, sollte solchen Beweismitteln, die in einem Mitgliedstaat nach dessen Recht erhoben wurden, in anderen Mitgliedstaaten nicht allein wegen ihres digitalen Charakters die Anerkennung als Beweismittel verweigert werden.

3.2.9.

Zur Änderung der Standardformblätter in den Anhängen oder ihrer Aktualisierung wurden der Kommission die entsprechenden Befugnisse gemäß Artikel 290 AEUV übertragen.

3.3.   Verordnung über die Zustellung von Schriftstücken

3.3.1.

Zentrales Ziel der Bestimmungen ist es, einheitliche Wege festzulegen, wie Schriftstücke von einem Mitgliedstaat in einen anderen übermittelt werden sollen, um dort zugestellt zu werden. Die Erfahrungen mit der Anwendung der aktuellen Verordnung und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in diesem Bereich haben sich hierfür als besonders nützlich erwiesen.

3.3.1.1.

Ihr Anwendungsbereich ändert sich, obgleich der außergerichtliche Schriftstücke betreffende Wortlaut der Bestimmung unverändert bleibt. In Bezug auf gerichtliche Schriftstücke gilt die Verordnung jedoch für alle Fälle, in denen der Wohnsitz des Empfängers in einem anderen Mitgliedstaat liegt.

3.3.1.2.

Dieser neue Standard, nach dem der Anwendungsbereich der Verordnung ausnahmslos jede Zustellung von Schriftstücken erfasst, deren Empfänger seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, gilt nur für die Zustellung verfahrenseinleitender Schriftstücke. Für die späteren Zustellungen gerichtlicher Schriftstücke im Laufe des Gerichtsverfahrens ist dieser zusätzliche Schutz weniger wichtig.

3.4.

Die Kommunikation und der Austausch von Schriftstücken zwischen den Übermittlungs- und Empfangsstellen müssen elektronisch über ein dezentrales IT-System erfolgen, das sich aus nationalen IT-Systemen zusammensetzt, die über eine sichere und zuverlässige Kommunikationsinfrastruktur vernetzt sind, wobei bei unvorhergesehenen außergewöhnlichen Störungen des IT-Systems auch die Möglichkeit besteht, andere (herkömmliche) Kommunikationsmittel zu verwenden.

3.5.

Es ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten helfen müssen, den Aufenthaltsort eines Empfängers in einem anderen Mitgliedstaat zu ermitteln; hierfür stehen ihnen drei Optionen zur Verfügung:

Rechtshilfe durch von den Mitgliedstaaten benannte Behörden;

Gewährung des Zugangs zu öffentlichen Wohnsitzregistern über das Europäische Justizportal;

Bereitstellung ausführlicher Informationen zu den in ihrem Hoheitsgebiet verfügbaren Instrumenten zur Ermittlung des Aufenthaltsorts von Personen über das Europäische Justizportal.

3.6.

Ausländische Verfahrensparteien können während eines Verfahrens verpflichtet werden, einen Zustellungsbevollmächtigten für die während des Verfahrens im Verfahrensmitgliedstaat zugestellten Schriftstücke zu bestellen.

3.7.

Es gibt Verbesserungen beim Verfahren, nach dem der Empfänger sein Recht auf Verweigerung der Annahme des Schriftstücks ausüben kann, wenn dieses nicht in einer zugelassenen Sprache abgefasst oder in sie übersetzt wurde.

3.8.

Mit dem Vorschlag werden die Anbieter von Postdiensten verpflichtet, bei der Zustellung von Schriftstücken per Post nach der Verordnung einen besonderen Rückschein (Empfangsbestätigung) zu verwenden. Es wird außerdem ein Mindeststandard hinsichtlich der Personen eingeführt, die als „Ersatzempfänger“ infrage kommen, wenn der Postdienstanbieter dem Empfänger das Schriftstück nicht persönlich aushändigen kann.

3.9.

Mit dem Vorschlag wird die elektronische Zustellung von Schriftstücken als zusätzliches alternatives Verfahren der Zustellung nach der Verordnung eingeführt.

3.10.

Im Falle der Nichteinlassung des Beklagten werden zwei grundlegende Neuerungen eingeführt:

a)

Das mit dem Verfahren befasste Gericht muss eine Warnmitteilung über die Einleitung des Verfahrens oder über das Versäumnisurteil an ein verfügbares Nutzerkonto des abwesenden Beklagten übermitteln;

b)

es wird eine gemeinsame Frist von zwei Jahren ab dem Datum festgelegt, an welchem das Versäumnisurteil erlassen wurde, um zur Anfechtung der Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat einen außerordentlichen Rechtsbehelf einzulegen, der in Bezug auf Rechtsmittelfristen auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abzielt.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Vorschläge der Kommission zur Änderung der Verordnung über die Beweisaufnahme und der Verordnung über die Zustellung von Schriftstücken, da diese die justizielle Integration in den Mitgliedstaaten bei der Festlegung einheitlicher Wege in deren jeweiligen Anwendungsgebieten erleichtern.

4.2.

Beide Vorschläge tragen dazu bei, die justizielle Zusammenarbeit in der EU, welche auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen (Artikel 81 AEUV) basiert, zu verbessern, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Artikel 3 Absatz 2 sowie Artikel 67 AEUV) zu stärken und einen Binnenmarkt zu schaffen (Artikel 26 AEUV).

4.3.

Zusammenfassend sollte die Annahme und Anwendung des von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsrahmens objektiv dazu beitragen, verschiedene unsichtbare Hindernisse zu beseitigen, die das Leben aller Bürger — sowohl der Staatsbürger der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die in der EU ansässig sind — und den Handel der in der EU tätigen Unternehmen direkt beeinflussen.

4.4.

Um den Zugang zur Justiz und zu einem fairen Verfahren zu gewährleisten, ist es unerlässlich, dass die Bestimmungen dieser beiden Vorschläge auf Gerichtsverfahren mit grenzüberschreitendem Bezug angewendet werden und für ein ordnungsgemäßes Funktionieren gesorgt wird.

4.5.

Zudem stehen die Vorschläge mit der Strategie für den digitalen Markt im Bereich elektronischer Behördendienste in Einklang, insbesondere bezüglich notwendiger Maßnahmen zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und zur Herstellung einer grenzüberschreitenden Interoperabilität, was die Interaktion mit den Bürgern vereinfacht.

4.6.

Die Vorschläge schaffen mehr Rechtssicherheit und tragen somit dazu bei, Verzögerungen und unnötige Kosten für Bürger, Unternehmen und öffentliche Verwaltungen zu vermeiden, und sie beseitigen Mängel beim Schutz der Verfahrensrechte der Parteien, da sie der Rechtsschutzlosigkeit im Sinne des sogenannten „Prinzips der Waffengleichheit“ entgegenwirken sollen.

4.7.

Es wird darauf hingewiesen, dass die Bestimmung bezüglich der delegierten Rechtsakte zur Aktualisierung und Änderung des Anhangs der beiden Verordnungsvorschläge nicht mit der vom EWSA (6) diesbezüglich eingenommenen Haltung übereinstimmt, da der Vorschlag vorsieht, dass die Befugnisübertragung trotz der Anforderung, dass der Erlass delegierter Rechtsakte zeitlich begrenzt ist, von unbestimmter Dauer ist.

4.8.

Letztlich ist der EWSA der Meinung, dass die Freiheiten des Binnenmarkts ohne einen echten Rechtsraum nicht vollständig genutzt werden können.

5.   Allgemeine Bemerkungen zum Vorschlag für eine Beweisaufnahmeverordnung

5.1.

Mit dem Vorschlag zur Änderung der Beweisaufnahmeverordnung soll die elektronische Kommunikation zwischen den betreffenden zuständigen Behörden gestärkt und die teurere und langsamere papierbasierte Kommunikation verringert werden, und es soll die Nutzung von Videokonferenzen zur Durchführung von Vernehmungen in anderen Mitgliedstaaten gefördert werden, ohne dass dadurch die Verfahrensrechte der Parteien beeinträchtigt werden.

5.2.

Obgleich im Vorschlag davon ausgegangen wird, dass die betreffenden Gerichte sorgfältig und effizient handeln und die Prinzipien der loyalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Anerkennung genau einhalten — letzteres wird ausdrücklich erwähnt, um zu verhindern, dass die Beweiskraft digitaler Beweismittel zurückgewiesen wird (vierter Erwägungsgrund und Artikel 18a des Vorschlags) — wird keine Bestimmung für den Fall einer Zurückweisung durch das ersuchte Gericht aufgrund

einer unangemessenen Verzögerung,

einer fehlenden Begründung oder

einer unzureichenden Begründung festgelegt.

In diesen Fällen wird praktisch kein Zugang zu einem wirksamen Rechtsschutz gewährt, und es sollten Lösungen gefunden werden, um dem vorzubeugen.

5.2.1.

Dieser Umstand ist im Hinblick auf die derzeitige Rechtslage in der EU relevant, da die bloße Tatsache, dass ein Gericht, das im Zuge eines Verfahrens, mit dem es befasst ist, verpflichtet wäre, dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, seiner Pflicht nicht nachkommt, als schwere Verletzung der sich aus dem EU-Recht (7) abgeleiteten Verpflichtungen des Staates betrachtet werden könnte.

5.2.2.

Das ersuchte Gericht kann die Rechte Einzelner in vielen Fällen stark beeinträchtigen, wenn es nicht angemessen kooperiert, besonders beim vorläufigen Rechtsschutz, wenn es sich auf den Vorbehalt der nationalen Souveränität, der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung usw. beruft (siehe Artikel 4, Absatz 2 EUV) oder falls es Abweichungen aufgrund der unterschiedlichen Verfahrenspraxis in den Mitgliedstaaten gibt.

5.2.3.

Letzteres ist beispielsweise bei der pre-trial discovery (etwa: vorbereitende Beweisermittlung) der Fall, da Artikel 23 des Haager Übereinkommens vom 18. März 1970 über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, den Vorbehalt der Souveränität geltend zu machen, um Rechtshilfeersuchen in der Frühphase des Prozesses abzulehnen (nach der Klageeinreichung, jedoch vor Beginn des Verfahrens).

5.2.4.

Diese Frage wird in der geltenden Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 zwar nicht ausdrücklich behandelt, sie wird jedoch von ihrem Anwendungsbereich ausgeschlossen, wie aus der Erklärung des Rates 54/01 vom 4. Juli 2001 hervorgeht (Dok. 10571/01, S. 1).

5.2.5.

Gelegentlich sind unangemessene Verzögerungen auf eine unzureichende fachliche Qualifikation der ersuchten Behörden oder ein schlechtes Funktionieren der technischen Infrastrukturen zurückzuführen. Um diese Situationen so weit wie möglich zu vermeiden und zu beseitigen, müsste in den Vorschlag eine Bestimmung aufgenommen werden, gemäß welcher die Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, dass ihre Gerichte über aktuelle digitale Techniken verfügen und die technischen Infrastrukturen entsprechend angepasst werden.

5.3.

Andererseits müssten einige Bestimmungen im Vorschlag präzisiert werden. In Artikel 1 Absatz 4 beispielsweise wird die Bedeutung des Begriffs „Gericht“ eingeschränkt, indem er als „jede Justizbehörde in einem Mitgliedstaat, die für die Durchführung von Beweisaufnahmen nach dieser Verordnung zuständig ist“ definiert wird.

5.3.1.

Obgleich diese Definition öffentlich bestellte Urkundspersonen umfassen kann (beispielsweise Notare), schließt sie private Schiedsstellen — ob im Bereich von Investitionsstreitigkeiten, in Handelssachen, in Verbrauchersachen — sowie jede andere Schiedsstelle, die in anderen Sachen entscheidet, aus.

5.3.2.

Somit wird die große Bedeutung der Schiedsstellen im Handels- und Wirtschaftsverkehr der Mitgliedstaaten sowie in Drittländern verkannt.

5.3.3.

In Bezug auf letztere können Fälle der Rechtshängigkeit oder Probleme bezüglich der Vollstreckung von Entscheidungen durch die ersuchten Behörden der Mitgliedstaaten auftreten (beispielsweise eine anti-suit injunction (Prozessführungsverbot)), was zu Rechtsunsicherheit führen kann.

5.3.4.

Zweifellos ist diese einschränkende Definition des Begriffs „Gericht“ an der Rechtsprechung des EuGH ausgerichtet, in der privaten Schiedsstellen der Status „Gericht“ für gewöhnlich nicht zuerkannt wird (8).

5.3.5.

Aus Sicht des EWSA kann die automatische Anwendung dieser Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich zu einer Situation führen, in der die Entscheidungen der Schiedsgerichte nicht anerkannt werden oder die ersuchten Gerichte die Zusammenarbeit verweigern, was in einigen Fällen dazu führen kann, dass sich die Betroffenen in einer Lage wiederfinden, in der sie sich nicht verteidigen können.

5.3.6.

Gleichwohl müssen die Schiedsklauseln zwischen dem Investor und dem Staat, die in den bilateralen Investitionsabkommen behandelt werden, von dieser Einschätzung ausgeschlossen werden, da diese nicht mit dem Recht der EU vereinbar sind und keine Rechtswirkung haben, soweit sie rechtswidrig sind, weil sie sich mit den Binnenmarktvorschriften überschneiden und eine Ungleichbehandlung der Investoren in der EU bedingen, wie in der Rechtsprechung des EuGH im Urteil „Achmea“ (9) festgehalten ist.

5.4.

In Artikel 17b wird den diplomatischen oder konsularischen Vertretern eines Mitgliedstaats die Möglichkeit eingeräumt, ohne vorheriges Ersuchen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats, in dem sie akkreditiert sind, eine Beweisaufnahme durchzuführen. Diese Befugnis ist auf die Vernehmung oder die freiwillige Befragung von Staatsangehörigen des Mitgliedstaats beschränkt, den sie im Rahmen eines Verfahrens vertreten, für das ein Gericht dieses Mitgliedstaats zuständig ist.

5.5.

Es wäre daher angebracht, die im Vorschlag vorgesehenen Tätigkeiten der Rechtshilfe dieser Amtspersonen zu erweitern, um sie den aktuellen tatsächlichen Gegebenheiten in der EU anzupassen, insbesondere mit Blick auf die Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und die Niederlassungsfreiheit ihrer Unternehmen. Folglich könnte die Beweisaufnahme durch diese Amtspersonen ohne Notwendigkeit einer vorherigen Einholung einer Genehmigung auf Ausländer oder auf die eigenen Staatsangehörigen des Aufnahmestaats ausgeweitet werden, sofern dieser Staat dies genehmigt.

5.6.

Daher ist die Festlegung einer Pflicht, den übermittelnden Mitgliedstaat bei der Ermittlung der Anschrift der Person, an die das gerichtliche oder außergerichtliche Schriftstück in einem anderen empfangenden Mitgliedstaat zugestellt werden soll, zu unterstützen, wenn deren Anschrift unbekannt ist, auch nach Ansicht des EWSA äußerst wichtig.

5.7.

Andererseits besteht im Zusammenhang mit dem vorliegenden Vorschlag die EU-Justizagenda für 2020, mit der das Ziel verfolgt wird, die Grundrechte, einschließlich der Verfahrensrechte im Zivilprozess, zu stärken.

5.8.

In diesem Sinne tragen die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Digitalisierung den Anforderungen des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre im System für den elektronischen Austausch zwischen den Gerichten Rechnung, worunter beispielsweise die Festlegung einer vordefinierten Gruppe von Nutzern des Systems fällt (nur Gerichte und andere Justizbehörden der Mitgliedstaaten).

5.9.

Obwohl künftig mit einer steigenden Zahl von Angriffen auf diese elektronische Infrastruktur zu rechnen ist — ein Risiko, das sich durch die Vernetzung der betreffenden IT-Systeme noch erhöhen kann — ist keine Bestimmung vorgesehen, die die Frage regelt, wer haftbar ist, wenn durch Cyber-Attacken oder Störungen oder Ausfälle des IT-Systems vertrauliche Informationen verbreitet oder gar Beweismittel für einen Prozess zerstört werden.

5.10.

Folglich können die Rechte Einzelner in schwerwiegender Weise verletzt werden, wenn es keinen klar vorgegebenen Weg gibt, wie die Verursacher haftbar gemacht werden können, und es kann sogar dazu kommen, dass die Betroffenen diese Rechtsverletzungen selbst tragen müssen, wenn die Verursacher sich auf Umstände höherer Gewalt berufen.

6.   Allgemeine Bemerkungen zum Vorschlag für eine Zustellungsverordnung

6.1.

Der EWSA ist der Ansicht, dass der Vorschlag für eine Zustellungsverordnung zur Verbesserung und Beschleunigung der Gerichtsverfahren beiträgt, da er für Vereinfachungen und mehr Flexibilität bei den Mechanismen für die Zusammenarbeit bei der Zustellung von Schriftstücken sorgt. Dies wird zu einer verbesserten Rechtspflege in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug und zu einer Stärkung der Verfahrensrechte im Zivilprozess sowie des gegenseitigen Vertrauens der Justizsysteme der Mitgliedstaaten beitragen.

6.2.

Dieser Vorschlag zielt darauf ab, der oftmals langen Dauer und der Nichteinhaltung der festgelegten Fristen entgegenzuwirken — was häufig vorkommt, da die Schriftstücke von den zuständigen Stellen zugestellt werden — und führt die obligatorische Zustellung von Schriftstücken auf elektronischem Wege ein. Gleichzeitig stärkt der Vorschlag die Verteidigungsrechte des Empfängers durch verschiedene gezielte Eingriffe der zuständigen Stellen, die angesichts der Ungewissheit über die Ausübung des Rechts auf Annahmeverweigerung oder über Versäumnisurteile erfolgen.

6.3.

Erwähnenswert ist auch der breite subjektive und materielle Anwendungsbereich dieses Vorschlags, da er alle Personen — sowohl natürliche als auch juristische Personen — umfasst, worunter auch alle Unternehmen und damit auch Kleinstunternehmen fallen, und nur Ausnahmen erlaubt, die ausdrücklich festgelegt sind (Artikel 1, Absätze 1 und 3).

Aus allen Sprachfassungen muss übereinstimmend hervorgehen, dass sich der Verordnungsvorschlag nicht nur auf das verfahrenseinleitende Schriftstück, sondern auf alle gerichtlichen Schriftstücke des Verfahrens erstreckt.

6.4.

Der EWSA befürwortet die zur Geltendmachung der „Verweigerung der Annahme eines Schriftstücks“ durch den Empfänger im Vorschlag verankerten Garantien sowie die Verpflichtung der Empfangsstelle, darüber zu informieren. Andererseits sollte der Beklagte im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses der Rechte beider Prozessparteien volle Kenntnis von dem verfahrenseinleitenden Schriftstück haben, weshalb es zweckmäßig ist, dass die Sprachregelung eine Sprache umfasst, die der Empfänger versteht oder die eine der offiziellen Sprachen am Ort der Zustellung ist.

6.5.

Die Bestimmung zu den ergänzenden Formen der Zustellung von vorgesehenen Schriftstücken mittels Postsendung, die Zustellung unmittelbar durch Amtspersonen, Beamte oder sonstige zuständige Personen des ersuchten Mitgliedstaats sowie die elektronische Zustellung erscheint angemessen.

6.6.

In jedem Fall ist es wichtig, die Integrität und die Zweckbestimmung des Schriftstücks — ob es sich um ein gerichtliches oder außergerichtliches Schriftstück handelt — zu wahren und zu gewährleisten.

Brüssel, den 17. Oktober 2018

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Luca JAHIER


(1)  Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 (ABl. L 174 vom 27.6.2001, S. 1).

(2)  Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 vom 13. November 2007 zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 (ABl. L 324 vom 10.12.2007, S. 79).

(3)  Entsprechend dem sogenannten „Parallelabkommen“ mit Dänemark (ABl. L 300 vom 17.11.2005, S. 55). Das Vereinigte Königreich und Irland wiederum hatten seinerzeit gemäß Artikel 3 des Protokolls Nr. 21 AEUV mitgeteilt, dass sie sich an der Annahme und Anwendung der beiden Verordnungen beteiligen möchten.

(4)  Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 (ABl. L 338 vom 23.12.2003, S. 1).

(5)  Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 (ABl. L 7 vom 10.1.2009, S. 1).

(6)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 29; ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 67.

(7)  Siehe die Schlussfolgerungen des Generalanwalts Wathelet zur Rechtssache C-416/17 der Europäischen Kommission gegen die Französische Republik, Punkte 95-103.

(8)  Beispielsweise in den folgenden Fällen: Rechtssache Nordsee 102/81(1982), Absätze 10-13; Rechtssache Eco Swiss C-126/97(1999), Absatz 34; Rechtssache Denuit und Cordier C-125/04(2005), Absatz 13; Rechtssache Gazprom C-536/13(2015), Absatz 36; Rechtssache Achmea C-284/16(2018), Absätze 45-49 usw.

(9)  Urteil „Achmea“ in der Rechtssache C-284/16, ergangen am 6. März 2018 (ECLI:EU:C:2018:158).


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