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Document 52017AR3412

    Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Deinstitutionalisierung von Fürsorgesystemen auf lokaler und regionaler Ebene

    ABl. C 164 vom 8.5.2018, p. 39–44 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    8.5.2018   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 164/39


    Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen — Deinstitutionalisierung von Fürsorgesystemen auf lokaler und regionaler Ebene

    (2018/C 164/07)

    Berichterstatter:

    Xamuel Gonzalez Westling (SE/SPE), Mitglied des Gemeinderats von Hofors

    POLITISCHE EMPFEHLUNGEN

    DER EUROPÄISCHE AUSSCHUSS DER REGIONEN

    Rechte von Menschen mit Behinderungen

    1.

    begrüßt das Ersuchen der Regierung Estlands um eine Stellungnahme zum Thema „Deinstitutionalisierung von Fürsorgesystemen auf lokaler und regionaler Ebene“. Schätzungen zufolge leidet in der Europäischen Union jeder Sechste — insgesamt etwa 80 Mio. Menschen — an einer Form von Behinderung mit unterschiedlichem Schweregrad. Mehr als ein Drittel aller über 75-Jährigen hat eine Beeinträchtigung, die sie in ihrem täglichen Leben behindert. Dieser Prozentsatz dürfte mit der Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung in der EU in den nächsten Jahren weiter ansteigen (1). Obwohl sich die Verhältnisse und Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen im Laufe der letzten 20 Jahre erheblich verbessert haben, gibt es in den meisten Mitgliedstaaten der EU sowohl in Hinblick auf die Betreuung und Pflege behinderter Menschen als auch in der Art ihrer Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit immer noch mehr oder weniger große Punkte zu bemängeln. Nach wie vor gibt es bedauerlicherweise Menschen mit einer Entwicklungsstörung und/oder einer psychischen Erkrankung, deren Recht, Entscheidungen für ihr eigenes Leben zu treffen, eingeschränkt ist;

    2.

    ist der festen Überzeugung, dass jeder Mensch mit Behinderung die größtmögliche Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft erhalten und in seiner Wahlfreiheit geachtet werden sollte; erinnert diesbezüglich daran, dass die Fürsorgesysteme von Land zu Land anders sind. Daraus ergibt sich, dass der Übergang zu einer Betreuung im Nahumfeld nach Maßgabe der jeweiligen Gegebenheiten zu organisieren ist, sodass das Umfeld, die Betroffenen und deren Angehörigen berücksichtigt werden; weist darauf hin, dass es nicht das Ziel dieser Stellungnahme ist, unabhängig von den jeweiligen Umständen jegliche institutionelle Betreuung auszuschließen oder zu verdammen; Institutionen sind nicht die Lösung für alles, sie können aber auch eine der möglichen Lösungen sein. In einigen Ländern stehen Institutionen neuen Arten der Unterstützung aufgeschlossener gegenüber, sodass sie sich unterschiedlichen neuen Situationen anpassen können und jedem Einzelnen — unabhängig von der Schwere seiner Behinderung — jede denkbare Möglichkeit zur Entfaltung seines vollen Potenzials geben können. Die Rolle der Familie ist für das Funktionieren dieser Einrichtungen besonders hervorzuheben;

    3.

    stellt fest, dass sich die Zuständigkeit der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit gemäß Artikel 168 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in erster Linie auf die Ergänzung der in den Mitgliedstaaten auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene durchgeführten Gesundheitspolitik beschränkt. Unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips erstreckt sich die Aufgabe der EU auf folgende Bereiche:

    Förderung der Koordinierung zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung und zur Verhütung von Humankrankheiten sowie zur Beseitigung von Ursachen für eine Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit. Dazu gehört die Bekämpfung weitverbreiteter schwerer Krankheiten, wobei die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung dieser Krankheiten sowie Gesundheitsinformation und -erziehung gefördert werden. Außerdem umfasst sind die Beobachtung, frühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren;

    Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Organe und Substanzen menschlichen Ursprungs sowie in den Bereichen Veterinärwesen, Pflanzenschutz und Arzneimittel;

    4.

    hebt hervor, dass in dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) aus dem Jahr 2006 ein grundsätzlicher Wandel in der Betrachtungsweise von Behinderungen vollzogen wird, indem der Schwerpunkt nunmehr darauf liegt, wie die Gesellschaft und die Umgebung sich so anpassen können, dass die Barrieren, mit denen ein behinderter Mensch konfrontiert ist, ausgeglichen werden und ihm auf diese Weise die Möglichkeit einer Einbeziehung in die Gesellschaft und eines möglichst autonomen Lebens gegeben wird. Im November 2017 hatten 27 der 28 Mitgliedstaaten der EU das Übereinkommen und davon wiederum 22 auch das Fakultativprotokoll ratifiziert (2). Der AdR empfiehlt, dass alle Mitgliedstaaten sowohl das Übereinkommen als auch das Protokoll ratifizieren;

    5.

    übernimmt die UN-Definition des Begriffs „Behinderung“, bei der davon ausgegangen wird, dass sie aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit dauerhaften körperlichen, seelischen, geistigen oder sensorischen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern. Eine Beeinträchtigung kann die Folge einer Erkrankung oder anderer Umstände, ein angeborener oder ein erworbener Schaden sein. Derartige Krankheiten, Umstände oder Schäden können bleibender oder vorübergehender Natur sein;

    Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung im lokalen Umfeld

    6.

    begrüßt die Initiative des ehemaligen Kommissionsmitglieds Vladimír Špidla, der mit Unterstützung einer Sachverständigengruppe die „Gemeinsamen europäischen Leitlinien für den Übergang von institutioneller Betreuung zu Betreuung in der lokalen Gemeinschaft“ (3) ausgearbeitet hat. Ausgehend von diesen Leitlinien empfiehlt der AdR, den Begriff „Institution“ wie folgt zu definieren: „Heimpflege, bei der die Bewohner von der breiteren Gemeinschaft isoliert sind und/oder unfreiwillig zusammenleben müssen; die Bewohner keine ausreichende Kontrolle über ihr Leben und über Entscheidungen haben, die sie betreffen; und tendenziell die Erfordernisse der Organisation selbst Vorrang vor den individuellen Bedürfnissen der Bewohner haben“. Die Leitlinien wurden mit dem Ziel ausgearbeitet, die Mitgliedstaaten beim Übergang von institutioneller Betreuung zu einer umfeldnahen Unterstützung zu unterstützen. Ausgehend von den Erfahrungen und Erkenntnissen der Länder, die eine Deinstitutionalisierung durchgeführt haben, sollte dieser Prozess im Laufe der Zeit folgende Aspekte umfassen: eine gemeinsame Strategie und Vision; die Beteiligung von Betroffenen und Angehörigen; eine gemeinsame Übernahme der Verantwortung durch alle Akteure auf allen Ebenen; Führung und Lenkung sowie eine Unterstützung des Prozesses. Der AdR stellt fest, dass die Leitlinien geeignet sein können, den Übergang von einer institutionellen Betreuung zu mehr Betreuung im Nahumfeld zu begünstigen, und empfiehlt allen Mitgliedstaaten deren Anwendung;

    7.

    weist darauf hin, dass die institutionelle Betreuung zunehmend infrage gestellt wird und dass in einer Reihe wissenschaftlicher Studien nachgewiesen wurde, dass die Langzeitpflege in einer Institution für die Betroffenen weitreichende negative Folgen haben kann, darunter Verlust von Freiheit, Stigmatisierung, Autonomieverlust und Entpersonalisierung. Nicht zuletzt hat sie auch negative Auswirkungen auf das Personal, das in den Institutionen arbeitet. Davon ausgehend hat sich ein gemeinsames Verständnis herausgebildet, wonach eine umfeldnahe Betreuung in offeneren Formen vorzuziehen ist und richtungsweisend für die Betreuung in der Zukunft sein sollte. Auch im „Europäischen Aktionsplan für psychische Gesundheit“ (4) wurde dies herausgestellt. Erarbeitet wurde der Aktionsplan vom WHO-Regionalbüro für Europa in enger Zusammenarbeit und im Austausch mit den Mitgliedstaaten, die diesen Plan ebenfalls unterstützen. Der AdR verweist erneut auf das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in dem das Recht von Menschen mit Behinderungen verankert ist, „mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben“ (5);

    8.

    stellt fest, dass in den vergangenen 20 Jahren viele Mitgliedstaaten eine ähnliche Entwicklung durchgemacht haben: Große Betreuungseinrichtungen und spezialisierte Krankenhäuser sind zunehmend offeneren, in das soziale Umfeld eingebetteten Pflegeformen gewichen. Trotzdem leben europaweit nach wie vor mehr als eine Million Menschen mit Behinderungen in Betreuungseinrichtungen (6). Der Übergang von einer institutionellen Betreuung zu einer offeneren Betreuung im Nahumfeld geschieht nicht von heute auf morgen. Dieser Wandel nimmt viele Jahre in Anspruch und erfordert Anstrengungen und Maßnahmen auf allen Ebenen der Gesellschaft sowie ein Umdenken und neue Rechtsvorschriften. Nach Auffassung des AdR ist es wichtig, dass alle EU-Mitgliedstaaten der Entwicklung einer umfeldnahen Betreuung einen hohen Stellenwert beimessen und dass die Schritte hin zur Deinstitutionalisierung so erfolgen, dass die Rechte der Zielgruppen gewahrt werden und sichergestellt ist, dass alles zum Besten der Betroffenen geschieht;

    9.

    hält es für wichtig, auf die Gefahr hinzuweisen, dass die Staaten im Übergang zu umfeldnäheren, offeneren Betreuungsformen neue Institutionen aufbauen, die an die Stelle der alten treten. Davon können Zielgruppen mit besonders schwierigen und komplexen Bedürfnissen betroffen sein, denen vonseiten der Gesellschaft schwer Rechnung zu tragen ist und wo es mangels individueller Lösungen naheliegt, neue, institutionsähnliche Pflegeheime und Heimpflege zu schaffen. Eine derartige Entwicklung kann auch durch eine gravierende Krise, wie z. B. die große Menge der Flüchtlinge, die in mehreren EU-Mitgliedstaaten im Herbst 2015 angekommen ist, ausgelöst werden. In dieser Situation musste der Unterbringungsbedarf durch Aufnahmezentren und institutionelle Einrichtungen gedeckt werden. Bei Lösungen, die als Provisorien gedacht und geplant sind, besteht jedoch die Gefahr, dass sie dauerhaft werden — mit negativen Auswirkungen für die Betroffenen;

    Bekämpfung von Stigmatisierung

    10.

    stellt fest, dass in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten in einer Reihe von Gesetzen und Grundsatzpapieren in unterschiedlichem Ausmaß festgelegt ist, dass Menschen mit Behinderungen befähigt werden müssen, aktiv an der Gesellschaft teilzuhaben und ein Leben wie jeder andere zu führen. Nichtsdestotrotz ist eine stille und bisweilen offene gesellschaftliche Ablehnung von Menschen mit Behinderungen zu beobachten. Stigmatisierten Gesellschaftsgruppen wird oft mit Feindseligkeit und Furcht begegnet und sie werden behandelt, als ob sie weniger wertgeschätzt und als Belastung empfunden werden. Aus mehreren Studien geht hervor, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen stigmatisiert werden (7). Die Stigmatisierung führt wiederum zur Diskriminierung der betroffenen Menschen. Dies kann beispielsweise in einem mangelnden Versorgungsangebot oder sozialer Ausgrenzung seinen Ausdruck finden, was die psychische Gesundheit der Betroffenen noch verschlechtert. Dieser Teufelskreis geht immer weiter und reicht immer tiefer. Bei der Deinstitutionalisierung geht es um mehr als lediglich darum, große Einrichtungen zu schließen und alternative Betreuungsformen zu schaffen. Es geht auch darum, Vorurteilen entgegenzuwirken, Stereotypen in Frage zu stellen und einen Sinneswandel herbeizuführen. Menschen mit Behinderungen sollen nicht mehr vorrangig als Objekte und passive Leistungs- und Betreuungsempfänger, sondern als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen werden, die alle Menschenrechte genießen. Nach Auffassung des AdR müssen die Mitgliedstaaten im Zuge des Deinstitutionalisierungsprozesses auch der Stigmatisierung entgegenwirken und Diskriminierung verhindern. Gemäß der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (VN-BRK, Art. 4-6) bedeutet dies, dass die Mitgliedstaaten positive und präventive Maßnahmen zur Bekämpfung aller Arten der Diskriminierung und zur Gewährleistung der Achtung der Menschenrechte aller ergreifen müssen. Der AdR verweist darauf, dass es zahlreiche gute Beispiele für nationale Kampagnen gegen Stigmatisierung sowohl in den EU-Mitgliedstaaten als auch in Drittländern gibt, die als Inspiration dienen können;

    11.

    weist darauf hin, dass Patienten erst nach Ermittlung ihres individuellen Betreuungsbedarfs in offenere Formen der umfeldnahen Betreuung entlassen werden sollten. Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sollten sicherstellen, dass diesem Bedarf entsprochen wird, damit die Betroffenen die Kontrolle über ihr Leben mit echten Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten in Bezug darauf haben, wo, mit wem und wie sie leben möchten. Dienstleistungen (einschließlich individueller Betreuung) müssen allen zur Verfügung gestellt und zugänglich gemacht werden, um zu gewährleisten, dass die Betroffenen zur Gemeinschaft dazugehören und ein möglichst unabhängiges Leben führen können;

    Kompetenzen und Fähigkeiten

    12.

    macht darauf aufmerksam, dass der Übergang von der institutionellen Betreuung zur Betreuung und Pflege im Nahumfeld auch im Bereich des Personals und seiner Kompetenzen einen Paradigmenwechsel erfordert. Während der Schwerpunkt bislang auf dem medizinischen Wissen und medizinischen Berufen lag, hat der Übergang zur umfeldnahen Betreuung und Pflege bewirkt, dass nunmehr soziale und pädagogische Fähigkeiten gefragt sind. Nach Auffassung des AdR ist es wichtig, dass das Pflege- und Betreuungspersonal für die Ausübung seiner Tätigkeit entsprechend geschult ist (Artikel 4 der Behindertenrechtskonvention). Mit richtig geschultem Personal wird nicht nur der Übergang beschleunigt, sondern auch der Entstehung neuer Betreuungseinrichtungen vorgebeugt. In vielen Ländern wird Personal mit adäquaten akademischen Qualifikationen gesucht. Eine internationale Zusammenarbeit und ein Austausch in diesem Bereich könnte die Verfügbarkeit geeigneten Fachpersonals verbessern. Um den Übergang zu erleichtern, empfiehlt der AdR einen Fachkräfteaustausch in Verbindung mit neuen Ausbildungsmöglichkeiten in Hochschulen und in der Sekundarstufe. Die Verfügbarkeit von gut ausgebildetem Personal erfordert Planung und Koordinierung. Der AdR sieht es als wichtig an, bei der Ausbildung neuer Kräfte oder der Umschulung von Personal folgende Inhalte zu vermitteln: Menschenrechte, Einblicke in das Leben mit einer Behinderung und das Wohnen in einer Betreuungseinrichtung und Einbindung der Betroffenen in Entscheidungen über die von ihnen gewünschte Unterstützung. Die Umgewöhnung vom Leben in einer Betreuungseinrichtung zu einem Leben in der eigenen Wohnung mit der Möglichkeit, viele Dinge selbst zu entscheiden, ist nicht leicht. Die eigentliche Anpassung an die Gesellschaft birgt für den Einzelnen die Gefahr der Isolation und/oder Ausgrenzung. Es ist von großer Bedeutung, die Menschen aufzufangen und ihnen kompetentes Personal zur Seite zu stellen, das sich mit ihrer Situation und ihren individuellen Bedürfnissen auskennt. Die Forschung und der Wissensstand in diesem Bereich entwickeln sich ermutigend, insbesondere was psychische und neuropsychiatrische Erkrankungen angeht. Die Verfügbarkeit und die Anwendbarkeit wissens- und evidenzbasierter Verfahren haben sich verbessert, und zwar sowohl in Bezug auf die medizinische und psychologische Behandlung als auch die psychosoziale Unterstützung und kognitive Hilfsmittel. In Schweden gibt es beispielsweise seit einigen Jahren nationale Leitlinien des Zentralamts für Gesundheits- und Sozialwesen (Socialstyrelsen) für mehrere Kategorien, darunter Schizophrenie und Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (8). Die Leitlinien enthalten Kernempfehlungen für evidenzbasierte Verfahren in der Gesundheits- und Sozialversorgung. Das schwedische Zentralamt für Gesundheits- und Sozialwesen hat überdies Leitlinien für Vorgehensweisen und allgemeine Leitlinien zum Kenntnis- und Qualifikationsniveau für das Personal und die Arbeitgeber im Bereich der Aktivitäten für Menschen mit verschiedenen Behinderungen herausgegeben (9) ,  (10);

    Kinder und Jugendliche

    13.

    begrüßt, dass die EU-Außenminister die überarbeiteten Leitlinien für die Förderung und den Schutz der Rechte des Kindes angenommen haben. Im Einklang mit den einschlägigen Übereinkommen der Vereinten Nationen würde es der AdR befürworten, wenn alle Mitgliedstaaten den Grundsatz, dass Kinder in Familien aufwachsen sollen, unterstützen. Forschungserkenntnisse haben ergeben, dass sich Kinder, die in Heimen aufwachsen, nicht in der gleichen Weise entwickeln wie Kinder, die in Familien großwerden, und dass sie Rechte und Möglichkeiten zum Schulbesuch haben müssen wie andere Kinder auch. Sie zeigen außerdem, dass ehemalige Heimkinder im späteren Leben Verhaltensauffälligkeiten und Schwierigkeiten im sozialen Bereich entwickeln können. Heimkinder bekommen oft zu wenig Anregung, was sie durch selbstschädigendes oder problematisches Verhalten kompensieren. Alle Kinder brauchen für ihre normale Entwicklung das Erlebnis von Beständigkeit und Nähe. Der AdR empfiehlt allen EU-Ländern, Kindern mit Behinderungen und deren Eltern stattdessen die jeweils benötigte Hilfe und Unterstützung zu Hause oder in ihrem Nahumfeld zukommen zu lassen. Eltern sollten Hilfe und Beratung über die Funktionsbeeinträchtigung ihres Kindes bekommen und von der Gesellschaft bzw. ihrer Stadt oder Gemeinde unterstützt werden, damit sie ihre Elternrolle ausüben können. Wenn die Eltern ihre Arbeitszeit verringern müssen, weil sie ein behindertes Kind zuhause betreuen, sollte ihnen finanziell geholfen werden;

    14.

    steht auf dem Standpunkt, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen dieselben Rechte und Pflichten im Hinblick auf Schulbesuch und Studium haben wie ihre Altersgenossen. Dies setzt voraus, dass die Schule den Bedürfnissen dieser Kinder gerecht werden kann, denn sonst bestünde die Gefahr der Isolierung auch außerhalb der Betreuungseinrichtungen. Die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sollten mehr in Schulen investieren, um den Mangel an geeigneten Einrichtungen zu beheben, wobei Zugänglichkeit und universelle Gestaltung zu priorisieren sind. Mit entsprechenden Programmen sollten Lehrkräfte und Mitschüler für Fragen im Zusammenhang mit Behinderungen sensibilisiert und die Lehrkräfte angemessen in inklusiver Pädagogik geschult und für die Arbeit mit behinderten Kindern motiviert werden. Einstellungen und Vorurteile sind ebenfalls eine Herausforderung im Hinblick auf die vollständige Integration;

    Rechtliche Betreuung und Vormundschaft

    15.

    verweist auf die große Zahl der EU-Bürger, die an einer Entwicklungsstörung und/oder an einer psychischen Erkrankung leiden und unter Vormundschaft (plenary guardianship) oder rechtlicher Betreuung (partial guardianship) stehen. Der AdR erkennt an, dass eine Vormundschaft dazu dienen kann, die Interessen der betreffenden Person zu schützen und sie davor zu bewahren, ausgenutzt zu werden; äußert jedoch seine Besorgnis, dass eine rechtliche Betreuung den nahezu vollständigen Verlust der gesetzlichen Rechte des Betroffenen nach sich zieht und Entscheidungen über fast alle Aspekte seines Lebens von seinem gesetzlichen Vertreter getroffen werden. Viele Erwachsene sind gegen ihren Willen von ihrem gerichtlich bestellten Vertreter in einem Heim untergebracht worden. Der AdR fordert die Mitgliedstaaten auf, Anstrengungen dahingehend zu unternehmen, dass von der Vormundschaft weitaus weniger Gebrauch gemacht werden muss, und Betroffene, Angehörige, die einschlägigen Interessenorganisationen und Fachleute in die Beschlussfassung einzubeziehen. Bei einer Überarbeitung der Rechtsvorschriften über die Rechtsfähigkeit sollten auch Anforderungen an die Mitentscheidung festgelegt und die Rechte der Zielgruppe im Wege der Gesetzgebung gestärkt werden;

    Mitwirkung und Beteiligung der Betroffenen

    16.

    vertritt die Auffassung, dass Menschen mit Behinderungen per Gesetz Optionen und Unterstützung bei den Entscheidungen bekommen sollen, die sie, ihr tägliches Leben und die Gestaltung lokaler Dienstleistungen betreffen. Wichtig ist eine zielgruppengerechte Information. Den Vereinigungen der Betroffenen und Angehörigen zuzuhören und mit ihnen zusammenzuarbeiten, verbessert deren Mitwirkung und Teilhabe. Die Kenntnisse und Erfahrungen der Betroffenen sind wertvolle Kompetenzen, die es zu berücksichtigen gilt. Der AdR empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten die Einrichtung und die Arbeit der Betroffenenorganisationen unterstützen;

    Rechtsvorschriften und Leitlinien

    17.

    hält es für bedeutsam, dass geltende Gesetze und Leitlinien die Umsetzung im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Behindertenrechtskonvention unterstützen. Die Rechte des Kindes müssen dabei im Mittelpunkt stehen. Der AdR vertritt außerdem den Standpunkt, dass die Gesetzgebung den Einzelnen bei einem selbstbestimmten Leben auf Grundlage seiner individuellen Bedürfnisse und Wünsche unterstützen sollte;

    18.

    unterstreicht die Bedeutung von Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Personen mit schweren Behinderungen nach dem Tod ihrer Eltern und Familienangehörigen; hält insbesondere die Gewährleistung von Unterstützung, Wohlergehen, gesellschaftlicher Inklusion und möglichst weitgehender Selbstständigkeit von Menschen mit Behinderungen, die nicht zu voller Eigenverantwortung in der Lage sind, für grundlegend, um deren automatische Heimunterbringung zu vermeiden;

    Daten und Statistiken für die weitere Arbeit

    19.

    hält es aufgrund des Datenmangels für schwierig, den Verlauf der Deinstitutionalisierung zu verfolgen und vergleichende Analysen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten anzustellen. Dementsprechend empfiehlt der AdR, die Definition und die Entwicklung von Indikatoren zu priorisieren. Sie müssen Teil der Strategie und der Planung des Übergangs zu einer stärker im Nahumfeld ansetzenden Versorgung und Betreuung sein. Der Paradigmenwechsel hin zu einer individuelleren, stärker auf den Einzelnen fokussierten Betreuung sollte sich außerdem in den zu entwickelnden Standards und Indikatoren ausdrücken. Dabei sollten die Lebensqualität und die Rechte der Betroffenen stärker im Mittelpunkt stehen als die Weiterverfolgung eher technisch orientierter Eckdaten. Der AdR empfiehlt die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zur Entwicklung und Definition von Standards und Indikatoren;

    Arbeit und Beschäftigung

    20.

    verweist unter Bezugnahme auf Artikel 27 der Behindertenrechtskonvention darauf, dass das Recht auf Arbeit ein Grundrecht ist. Es darf nicht durch z. B. Vorurteile oder Zugangsbarrieren beeinträchtigt werden. Der AdR hebt hervor, dass Anstrengungen notwendig sind, damit Menschen mit Behinderungen einer ihren persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit nachgehen können. Eine gute Rehabilitation und die Anpassung der Arbeitsplätze und der Arbeitsaufgaben sind sehr bedeutungsvoll. Andere Formen der Tätigkeit für Menschen, die keiner bezahlten Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt nachgehen können, werden ebenfalls als wichtig für die Förderung der Gesundheit, die Entstigmatisierung und die Aufhebung der Isolation angesehen, weshalb Reha-Einrichtungen, Hilfsdienste, Unternehmen und Werkstätten, die hauptsächlich Menschen mit Behinderungen anstellen, so wichtig sind. Hierfür bedarf es eines Zusammenspiels zwischen den sozialen Diensten und dem Arbeitsmarkt, und zwar mithilfe von Strukturen, die Dienste zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erbringen und die Durchführung von vielfältigen personalisierten Orientierungsprogrammen, Schulungs-, Arbeitsvermittlungs- und Arbeitsplatzerhaltungsmaßnahmen sowie Maßnahmen zur gesellschaftlichen Eingliederung im Arbeitsumfeld ermöglichen. Maßnahmen, die der Gesundheit und der Beschäftigung dienen, müssen eher als Investitionen denn als Kosten betrachtet werden. Arbeit zu haben, für die man ein Entgelt oder eine sonstige Vergütung erhält, dient nicht nur der Inklusion, sondern verringert auch das Armutsrisiko. Für alle Menschen ist es wichtig, sich als Teil eines größeren Zusammenhangs zu fühlen, einen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können und eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben. Gleichzeitig schärft dies auch das Bewusstsein in der Gesellschaft in Bezug auf Menschen mit Behinderungen, deren Potenzial und deren Schwierigkeiten;

    Wirtschaftliche Auswirkungen

    21.

    weist darauf hin, dass die langfristige Tragfähigkeit der umfeldnahen Betreuung ein radikales Umdenken bei den öffentlichen Ausgaben und eine Ausrichtung der Ressourcen auf Prävention und frühzeitige Intervention erfordert; hält es daher bei der Bewertung und Analyse der wirtschaftlichen Auswirkungen der Umstellung auf eine umfeldnahe Betreuung für wichtig, nicht nur die absoluten Kosten im Blick zu haben, sondern sie im Verhältnis zu sehen zu stärker qualitätsbezogenen Ergebnissen und langfristigen Auswirkungen sowohl für den Einzelnen als auch die Gesellschaft. Gesundheitsökonomische Studien haben ergeben, dass umfeldnahe psychiatrische Dienste im Allgemeinen genauso viel kosten wie die Krankenhausversorgung. Da sie aber häufig bessere Ergebnisse für den Einzelnen haben, erweisen sie sich in diesen Fällen aus gesamtgesellschaftlicher Sicht als kosteneffizienter. Positive Gesundheitseffekte sorgen dafür, dass mehr Menschen auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Dies führt zu einer Produktionssteigerung, einer besseren sozialen Inklusion und einem geringeren Kriminalitätsrisiko, was das Justizwesen entlasten würde (11). Investitionen in Form von Prävention, frühem Eingreifen und Unterstützung der Kinder und Jugendlichen mitsamt ihrer Eltern kann ihnen helfen, einen Schulabschluss zu erreichen. So können sie ihren Bildungsweg fortsetzen und den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen. Der Wechsel aus großen Einrichtungen und spezialisierten Krankenhäusern kann erst dann stattfinden, wenn Alternativen und umfeldnahe Betreuungsformen eingerichtet und organisiert sind. Dies kann anfänglich höhere Kosten in der Phase der Umstellung auf eine umfeldnahe Betreuung verursachen;

    Zusammenarbeit und Koordinierung

    22.

    weist darauf hin, dass es bei einer Deinstitutionalisierung nicht reicht, wenn nur ein Akteur tätig wird. Mehrere gesellschaftliche Akteure müssen sich beteiligen und untereinander zusammenarbeiten. Es bedarf einer klaren und deutlichen Aufgabenverteilung, und ebenso eindeutig muss sein, worauf sich die Zusammenarbeit bezieht und wie sie ablaufen soll. Je nach verfassungsrechtlicher Situation im jeweiligen Mitgliedstaat gestaltet sich die staatliche Lenkung und Kontrolle der Organisation und Durchführung der Gesundheits- und Sozialdienste auf kommunaler und regionaler Ebene unterschiedlich. In Ländern wie zum Beispiel Schweden, wo die Kommunen und Provinzialverbände eine starke Selbstverwaltung haben, ist die Verantwortung dafür, wie der Übergang zu einer umfeldnahen Betreuung zu gestalten ist, dezentralisiert. Das Verfassungsrecht des jeweiligen Mitgliedstaats ist außerdem maßgeblich dafür, an welche Ebene sich die Empfehlungen des AdR richten. Unbeschadet der Frage der Zuständigkeitsverteilung zwischen der nationalen, kommunalen und regionalen Ebene ist der AdR der Auffassung, dass die Unterstützung durch die nationale Ebene äußerst wichtig ist und dass es eine Koordinierung der Tätigkeiten und Maßnahmen auf den verschiedenen Ebenen geben muss (12).

    Gleichberechtigte Versorgung und Pflege

    23.

    verweist auf die Behindertenrechtskonvention (Art. 25 VN-BRK), der zufolge die Angehörigen der Gesundheits- und Pflegeberufe Menschen mit Behinderungen eine gleich gute Versorgung wie der übrigen Bevölkerung bieten sollen. Wenn Menschen aus Betreuungseinrichtungen, in denen die gesamte medizinische Kompetenz vorhanden ist, ausziehen, um ein eigenständiges Leben zu führen, muss in der primären Gesundheitsversorgung mehr Kompetenz für behinderte Menschen aufgebaut werden, um auch dieser Patientengruppe gerecht werden zu können. Die gesellschaftliche Inklusion auf mehreren Ebenen und eine Sichtweise, bei der Menschen mit verschiedenen Arten von Funktionsbeeinträchtigungen als natürlicher Bestandteil der menschlichen Vielfalt aufgefasst werden, beugt der sozialen Ausgrenzung vor und fördert die gleichberechtigte Versorgung und Pflege;

    24.

    nimmt zur Kenntnis, dass die Lebenserwartung mit der Entwicklung der Gesundheitswissenschaften steigt. Folglich altern heute auch Menschen mit Behinderungen, die früher aus Mangel an angemessenen Behandlungsmöglichkeiten oftmals kein hohes Alter erreichen konnten. Die sozialen Dienste, die die gesellschaftliche und berufliche Integration sicherstellen müssen, betreuen nunmehr auch ältere Menschen mit Behinderungen. Das im Rahmen dieser Dienste tätige Fachpersonal ist nicht ausreichend geschult, um den Bedürfnissen im Zusammenhang mit sowohl dem Alter als auch der Behinderung der Betroffenen gerecht zu werden; hält es deshalb für erforderlich, die Ausbildungsanforderungen des medizinisch-sozialen Gesundheitspersonals anzupassen, das auch weiterhin Dienstleistungen zur gesellschaftlichen Integration dieser Zielgruppe im Einklang mit den Anforderungen der EU erbringen muss.

    Brüssel, den 30. November 2017.

    Der Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen

    Karl-Heinz LAMBERTZ


    (1)  http://europa.eu/rapid/press-release_IP-10-1505_de.htm?locale=DE.

    (2)  http://indicators.ohchr.org/.

    (3)  http://www.deinstitutionalisationguide.eu/.

    (4)  http://www.euro.who.int/de/publications/abstracts/european-mental-health-action-plan-20132020-the.

    (5)  Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention.

    (6)  http://www.deinstitutionalisationguide.eu/.

    (7)  http://www.nsph.se/projekt/projektet-din-ratt/.

    http://bringchange2mind.org/.

    (8)  http://www.socialstyrelsen.se/publikationer2017/2017-10-34/.

    (9)  http://www.socialstyrelsen.se/publikationer2014/2014-3-19.

    (10)  http://www.socialstyrelsen.se/Lists/Artikelkatalog/Attachments/18607/2012-2-17.pdf.

    (11)  http://www.deinstitutionalisationguide.eu/.

    (12)  http://www.deinstitutionalisationguide.eu/.


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