EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 10.11.2015
COM(2015) 557 final
2015/0257(NLE)
Vorschlag für einen
DURCHFÜHRUNGSBESCHLUSS DES RATES
zur Ermächtigung Ungarns, eine von Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem abweichende Maßnahme anzuwenden
BEGRÜNDUNG
1.KONTEXT DES VORSCHLAGS
•Gründe und Ziele des Vorschlags
Gemäß Artikel 395 Absatz 1 der Richtlinie 2006/112/EG vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden „MwSt-Richtlinie“) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhindern.
Mit Schreiben, die am 23. Dezember 2014 und 8. Mai 2015 bei der Kommission registriert wurden, hat Ungarn die Ermächtigung beantragt, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Regelung anzuwenden. Mit Schreiben vom 2. Juli 2015 hat die Kommission gemäß Artikel 395 Absatz 2 der MwSt-Richtlinie die anderen Mitgliedstaaten über den Antrag Ungarns in Kenntnis gesetzt. Mit Schreiben vom 7. Juli 2015 hat die Kommission Ungarn mitgeteilt, dass sie über alle für die Beurteilung des Antrags erforderlichen Angaben verfügt.
Die ungarischen Behörden haben der Kommission mitgeteilt, dass sie mit systematischem Betrug bei der Gestellung von Personal konfrontriert sind, insbesondere bei Zeitarbeitsagenturen sowie ähnlichen Diensteanbietern wie Genossenschaften im Schulbereich, deren Mitglieder Leistungen für Dritte erbringen. Rund 1000 Unternehmen sind in Ungarn als Zeitarbeitsagenturen registriert.
Einige in der Branche tätige Unternehmen sind Mitglied nationaler ungarischer Verbände (z. B. des nationalen ungarischen Verbands der Zeitarbeitsagenturen oder der nationalen Vereinigung der Genossenschaften im Schulbereich). Nach ungarischen Angaben bietet die Mitgliedschaft in diesen Verbänden eine gewisse Gewähr dafür, dass die betreffenden Unternehmen rechtmäßig tätig sind. Zahlreiche Unternehmen gehören jedoch keinem nationalen Verband an, und Ungarn zufolge sind insbesondere die Unternehmen dieser Kategorie (40-50 %) an betrügerischen Tätigkeiten beteiligt.
Der Betrug habe unterschiedliche Formen wie die fiktive Erbringung von Dienstleistungen oder die Fälschung von Rechnungen; die Hauptform bestehe darin, dass Leistungserbringer nach dem Ausstellen einer Rechnung für Leistungen nicht mehr auffindbar sind, die ausgestellte Rechnung die Leistungsempfänger aber zum Vorsteuerabzug berechtigt. Für 2014 beziffert Ungarn den MwSt-Betrug im betreffenden Wirtschaftszweig auf rund 22 500 000 EUR.
Ein Merkmal dieser Art von Dienstleistungen ist, dass umfangreiche Investitionen oder Fachwissen nicht erforderlich sind. Daher ist die Gründung eines solchen Unternehmens, das nach kurzer Zeit wieder verschwindet, vergleichsweise leicht. Da der Investitionsbedarf gering ist, übersteigt die von den Kunden erhaltene Mehrwertsteuer die abzugsfähige Vorsteuer auf diese Investitionen bzw. Vorleistungen im allgemeinen häufig deutlich. Die nicht abgezogene Vorsteuer stellt daher nur einen geringen Kostenfaktor dar, wenn diese Unternehmen, die kaum oder gar keine Vermögenswerte besitzen, wieder verschwinden. Die nicht abgeführte Mehrwertsteuer kann nur schwer oder überhaupt nicht beigetrieben werden.
Die ungarischen Behörden haben zwar bestimmte Kontrollmaßnahmen (z. B. verstärkte Überwachung und Kontrollen bei der Registrierung neuer Unternehmen) eingeführt, sehen sich jedoch außerstande, dem Betrug in diesem Wirtschaftszweig Einhalt zu gebieten. Sie beantragen daher die Ermächtigung, abweichend von der allgemeinen Vorschrift des Artikels 193 der MwSt-Richtlinie in diesem Wirtschaftszweig die Steuerschuldnerschaft umzukehren (Reverse-Charge-Verfahren), so dass nicht der Leistungserbringer, sondern der steuerpflichtige Kunde die auf den betreffenden Umsatz geschuldete Steuer in seiner MwSt-Erklärung auszuweisen hat. Ein solcher Kunde würde, sofern er zum vollständigen Vorsteuerabzug berechtigt ist, die auf den Umsatz geschuldete Mehrwertsteuer gleichzeitig anmelden und abziehen, so dass er in der Praxis keine Mehrwertsteuer an den Fiskus abzuführen hätte. Dadurch ließe sich verhindern, dass betrügerische Leistungserbringer mit der Mehrwertsteuer abtauchen können. Zudem geht aus den von Ungarn vorgelegten Informationen nach Auffassung der Kommission hervor, dass die Empfänger der betreffenden Leistungen in der Regel steuerehrlicher sind als die Erbringer. Die vorgeschlagene Regelung wird somit auch dazu führen, dass die MwSt-Pflichten von kleineren, weniger zuverlässigen Unternehmen auf größere, zuverlässigere steuerpflichtige Unternehmen verlagert werden. Zugleich bestehen keine Risiken in Bezug auf eine Verlagerung des Betrugs auf andere Mitgliedstaaten, die diese Regelung nicht anwenden. Ebenso wenig ist von einer Verlagerung des Betrugs auf die Einzelhandelsebene auszugehen, da die betreffende Art von Dienstleistungen in der Regel nicht für den Endverbrauch bestimmt ist.
Die MwSt-Richtlinie sieht bei der Gestellung von Personal bereits die fakultative Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens vor (Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe b). Diese Möglichkeit ist zwar im Wesentlichen auf den Immobiliensektor begrenzt (Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a der MwSt-Richtlinie), hat aber einen ähnlichen Hintergrund wie der vorliegende Antrag. Die vorgeschlagene Ausnahmeregelung sollte daher nur für Situationen gelten, die nicht bereits durch die MwSt-Richtlinie geregelt sind.
Überdies wurde die Kommission darüber unterrichtet, dass Ungarn die beantragte Ausnahmeregelung bereits anwendet, ohne auf die Annahme eines Ratsbeschlusses auf der Grundlage dieses Vorschlags gewartet zu haben.
2.RECHTSGRUNDLAGE, SUBSIDIARITÄT UND VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT
•Rechtsgrundlage
Artikel 395 der MwSt-Richtlinie.
•Subsidiarität (bei nicht ausschließlicher Zuständigkeit)
In Anbetracht der Bestimmung der MwSt-Richtlinie, auf die sich der Vorschlag stützt, fällt der Vorschlag in die ausschließliche Zuständigkeit der Union. Daher findet das Subsidiaritätsprinzip keine Anwendung.
•Verhältnismäßigkeit
Der Vorschlag entspricht aus folgenden Gründen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:
Der Beschluss ermächtigt einen Mitgliedstaat auf eigenen Antrag und stellt keine Verpflichtung dar.
In Anbetracht ihres engen Anwendungsbereichs ist die Ausnahmeregelung dem angestrebten Ziel – der Bekämpfung der Steuerhinterziehung – angemessen. Sie geht nicht über das zur Betrugsbekämpfung in einem bestimmten Wirtschaftszweig erforderliche Maß hinaus.
•Wahl des Instruments
Gemäß Artikel 395 der MwSt-Richtlinie dürfen die Mitgliedstaaten nur dann von den gemeinsamen MwSt-Vorschriften abweichen, wenn der Rat sie hierzu auf Vorschlag der Kommission einstimmig ermächtigt. Ein Ratsbeschluss ist das geeignetste Rechtsinstrument, da er an einzelne Mitgliedstaaten gerichtet werden kann.
3.ERGEBNISSE DER EX-POST-BEWERTUNG, DER KONSULTATION DER INTERESSENTRÄGER UND DER FOLGENABSCHÄTZUNG
•Konsultation der Interessenträger
Der Vorschlag stützt sich auf einen Antrag Ungarns und betrifft nur diesen Mitgliedstaat.
•Einholung und Nutzung von Expertenwissen
Externes Expertenwissen war nicht erforderlich.
•Folgenabschätzung
Der Beschluss zielt auf die Bekämpfung des MwSt-Betrugs bei der Gestellung von Personal ab und sieht vor, dass der steuerpflichtige Leistungsempfänger die Mehrwertsteuer schuldet.
Er dürfte sich daher insofern positiv auf die MwSt-Einnahmen auswirken, als betrügerische Leistungserbringer nicht mehr mit der von ihren Kunden erhaltenen Mehrwertsteuer abtauchen können.
4.AUSWIRKUNGEN AUF DEN HAUSHALT
Der Vorschlag hat keine negativen Auswirkungen auf den EU-Haushalt.
5.WEITERE ANGABEN
Der Vorschlag enthält eine Verfallsklausel; die Ausnahmeregelung endet automatisch am 31. Dezember 2017.
2015/0257 (NLE)
Vorschlag für einen
DURCHFÜHRUNGSBESCHLUSS DES RATES
zur Ermächtigung Ungarns, eine von Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem abweichende Maßnahme anzuwenden
DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —
gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union,
gestützt auf die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, insbesondere auf Artikel 395 Absatz 1,
auf Vorschlag der Europäischen Kommission,
in Erwägung nachstehender Gründe:
(1)Mit Schreiben, die am 23. Dezember 2014 und am 8. Mai 2015 bei der Kommission registriert wurden, hat Ungarn die Ermächtigung beantragt, eine von Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG abweichende Regelung in Bezug auf den Mehrwertsteuerschuldner einzuführen.
(2)Die Kommission hat die anderen Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 2. Juli 2015 über den Antrag Ungarns in Kenntnis gesetzt. Mit Schreiben vom 7. Juli 2015 hat die Kommission Ungarn mitgeteilt, dass sie über alle für die Beurteilung des Antrags erforderlichen Angaben verfügt.
(3)Gemäß Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG wird die Mehrwertsteuer grundsätzlich vom Steuerpflichtigen geschuldet, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt. Die von Ungarn beantragte Ausnahmeregelung bezweckt die Verlagerung der Mehrwertsteuerschuldnerschaft bei der Gestellung von Personal auf den Leistungsempfänger.
(4)Ungarn zufolge machen sich einige Unternehmen im Zeitarbeitssektor des Betrugs schuldig, indem sie Dienstleistungen erbringen, ohne die Mehrwertsteuer an die Steuerbehörde abzuführen. Da diese Art von Tätigkeit nicht notwendigerweise bedeutende Vorleistungen bzw. Investitionen erfordert, übersteigt die Mehrwertsteuer, die die betreffenden Agenturen erhalten, die an ihre Lieferanten gezahlte abzugsfähige Mehrwertsteuer häufig deutlich. Einige dieser Agenturen, die kaum oder gar keine Vermögenswerte besitzen, verschwinden nach kurzer Zeit – eventuell nach nur wenigen Monaten – wieder, was eine Beitreibung der nicht abgeführten Mehrwertsteuer erschwert oder unmöglich macht.
(5)Durch die Ausnahmeregelung wird in solchen Fällen der Leistungsempfänger zum Mehrwertsteuerschuldner, so dass die beschriebene Form der Steuerhinterziehung nicht mehr möglich ist. Für einige in Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2006/112/EG angeführte Fälle ist es bereits möglich, bei der Gestellung von Personal vorzusehen, dass die Mehrwertsteuer vom Leistungsempfänger geschuldet wird. Die Ausnahmeregelung sollte somit nur für Fälle der Gestellung von Personal gelten, die nicht bereits durch die Richtlinie 2006/112/EG geregelt sind.
(6)Die Ausnahmeregelung hat keine nachteiligen Auswirkungen auf die Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Europäischen Union —
HAT FOLGENDEN BESCHLUSS ERLASSEN:
Artikel 1
Abweichend von Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG wird Ungarn ermächtigt, vorzusehen, dass die Mehrwertsteuer von dem Steuerpflichtigen geschuldet wird, dem Personal gestellt wird, das andere als in Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2006/112/EG genannte Tätigkeiten ausübt.
Artikel 2
Dieser Beschluss gilt bis zum 31. Dezember 2017.
Artikel 3
Dieser Beschluss ist an Ungarn gerichtet.
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