EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 17.10.2014
COM(2014) 635 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT UND DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT
über die Anwendung der Richtlinie 2004/81/EG über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren
{SWD(2014) 318 final}
1.EINLEITUNG
Bei der Bekämpfung des Menschenhandels geht es nicht nur um Kriminalitätsprävention und -bekämpfung, sondern auch um Schutz und Unterstützung der Opfer. In der Absicht, zu diesen Zielen beizutragen und entschiedener gegen illegale Einwanderung vorzugehen, erließ der Rat die Richtlinie 2004/81/EG über die Erteilung befristeter Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den für die Untersuchung und Verfolgung der Täter zuständigen Behörden kooperieren.
In den zehn Jahren nach Erlass dieser Richtlinie wurden auf EU-Ebene politische Schritte unternommen, um das Problem des Menschenhandels anzugehen. Die vorliegende Mitteilung zieht Bilanz der bisher erzielten Fortschritte und gibt einen aktuellen Überblick über die wichtigsten rechtlichen und praktischen Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung der Richtlinie 2004/81/EG.
Am 5. April 2011 wurde die Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer erlassen. Während die Richtlinie 2004/81/EG spezifische Bestimmungen für Aufenthaltstitel und die Behandlung von Drittstaatsangehörigen enthält, die mit den Behörden zusammenarbeiten, gilt die Richtlinie 2011/36/EU als allgemeine Regelung sowohl für EU-Bürger als auch für Drittstaatsangehörige. Sie verschärft einige der Bestimmungen der Richtlinie 2004/81/EG und sieht für Kinder einen besseren Schutz und Beistand vor. Die beiden Richtlinien können daher nicht getrennt voneinander betrachtet werden. 2012 stellte die Kommission die Strategie der EU zur Beseitigung des Menschenhandels 2012-2016 vor, deren Halbzeitbericht zusammen mit dieser Mitteilung vorgelegt wird.
Im ersten Bericht über die Umsetzung der Richtlinie 2004/81/EG hatte die Kommission 2010 auch auf laufende Initiativen hingewiesen, die einen Beitrag zur Stärkung der Rechte der Opfer von Menschenhandel leisten sollten. Diese Initiativen wurden inzwischen abgeschlossen. Hierzu gehörte der Erlass einer Richtlinie über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten im Jahr 2012 und die Vollendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im Juni 2013 mit der Einführung gemeinsamer Normen und einer engeren Zusammenarbeit zur Gewährleistung einer fairen Behandlung von Asylbewerbern.
Ein Problem, auf das die Kommission in ihrem Bericht von 2010 hingewiesen hatte, betraf die begrenzte Verfügbarkeit vergleichbarer Daten. Seitdem sind zwei Arbeitspapiere von Eurostat zur Bekämpfung des Menschenhandels veröffentlicht worden. Außerdem wurden vom Europäischen Migrationsnetzwerk seit 2010 acht Ad-hoc-Umfragen zum Menschenhandel und eine Studie zum Thema „Identifizierung von Personen, die Opfer von Menschenhandel sind, in Verfahren zur Gewährleistung internationalen Schutzes und in Rückführungsverfahren“ veröffentlicht.
Die neuesten verfügbaren Zahlen zeigen, dass in der EU im Jahr 2013 856 neue Aufenthaltstitel erteilt worden sind (gegenüber 1124 im Jahr 2012 und 1194 im Jahr 2011). Nach dem jüngsten Eurostat Working Paper über Menschenhandel sind in den 23 MS, die Daten bereitstellen konnten, im Jahr 2012 2171 Drittstaatsangehörige als Opfer von Menschenhandel identifiziert/vermutet worden gegenüber 2002 im Jahr 2011. 19 MS übermittelten für 2011 und 2012 Angaben zu der Zahl der Opfer, denen eine Bedenkzeit gewährt wurde (1110 Personen im Jahr 2012 und 1011 Personen im Jahr 2011).
2.BEGRIFFSBESTIMMUNGEN UND ANWENDUNGSBEREICH
Nach Inkrafttreten der Richtlinie 2011/36/EU ist für die Anwendung der Richtlinie 2004/81/EG die Definition des Begriffs „Menschenhandel“ in Artikel 2 der Richtlinie 2011/36/EU maßgebend.
Alle MS müssen die Richtlinie 2004/81/EG auf alle Drittstaatsangehörigen, einschließlich im Fall einer irregulären Einreise in ihr Hoheitsgebiet, anwenden.
Gemäß Artikel 3 Absatz 2 dieser Richtlinie können die MS beschließen, die Richtlinie auch auf Personen anzuwenden, die im Sinne der Richtlinie 2002/90/EG eingeschleust worden sind, d. h. im Falle der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt. Zehn MS haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Artikel 3 Absatz 3 ermöglicht es den MS, auch Kinder in den Anwendungsbereich der Richtlinie einzubeziehen. Alle MS, ausgenommen SK, haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht; in LT gelten für Kinder allerdings besondere Voraussetzungen.
3.IDENTIFIZIERUNG DER OPFER UND BEREITSTELLUNG VON INFORMATIONEN
Die frühzeitige Identifizierung der Opfer ist für die wirksame Anwendung der Richtlinie von entscheidender Bedeutung, damit die Opfer unverzüglich über ihre Rechte informiert werden können, damit sie sich erholen und überlegen können, ob sie mit den Behörden kooperieren möchten.
Gemäß Artikel 5 müssen die Opfer über die im Rahmen der Richtlinie gebotenen Möglichkeiten informiert werden, wenn „die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats der Auffassung [sind], dass ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen kann“. Die Verpflichtung zur Bereitstellung von Informationen ist nunmehr auch in Artikel 11 Absatz 6 der Richtlinie 2011/36/EU verankert, der ausdrücklich auf die Richtlinie 2004/81/EG verweist.
Der Zeitpunkt, ab dem die Behörden zur Bereitstellung von Informationen verpflichtet sind, lässt sich dank Artikel 11 Absatz 2 der Richtlinie 2011/36/EU ebenfalls klarer bestimmen. Danach müssen die Mitgliedstaaten für Unterstützung und Betreuung des Opfers sorgen, „sobald den zuständigen Behörden berechtigte Gründe für die Annahme vorliegen“, dass es sich bei der Person um ein Opfer handeln könnte.
Zehn MS haben in ihrer Gesetzgebung die Bereitstellung der Informationen zeitlich präzisiert. In den Rechtsvorschriften einiger MS ist unklar, ob die Informationen auch mutmaßlichen Opfern, erst nach amtlicher Feststellung des Opferstatus oder zu Beginn des Strafverfahrens bereitgestellt werden. In einigen MS sind in den Rechtsvorschriften zusätzliche Bedingungen festgelegt, wie beispielsweise die Erlangung nützlicher Informationen vom Opfer über die mutmaßliche Straftat, oder es wird auf die Bereitstellung von Informationen an Drittstaatsangehörige verwiesen, „die mit den zuständigen Behörden kooperieren“, was zu Bedenken hinsichtlich der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie Anlass geben könnte.
In RO ist im Gesetz nicht geregelt, welche Informationen von welcher Behörde und in welcher Form bereitgestellt werden sollen. In AT scheinen die Informationen in der Praxis erteilt zu werden, aber Artikel 5 ist nicht explizit umgesetzt worden, sondern nur durch allgemeine Verwaltungsvorschriften. In HR und PL gibt es kein eindeutiges gesetzliches Gebot, dass sich die Informationen auf alle in der Richtlinie gebotenen Möglichkeiten erstrecken müssen.
Laut der Strategie der EU zur Beseitigung des Menschenhandels zeigt die relativ geringe Zahl der Aufenthaltstitel, dass die Erkennung von Opfern des Menschenhandels verbessert werden muss. Bisher haben mindestens 15 MS nationale oder regionale Referenzsysteme für Opfer eingerichtet. Darüber hinaus verpflichtet Artikel 11 der Richtlinie 2011/36/EU die MS, „die erforderlichen Maßnahmen [zu treffen], um [...] geeignete Verfahren für die frühzeitige Erkennung, Unterstützung und Betreuung von Opfern festzulegen.“
Die wenigsten MS haben gesetzlich festgelegt, in welcher Form die Informationen bereitgestellt werden. In der Praxis bieten die meisten Länder die Informationen sowohl mündlich als auch schriftlich. In einigen MS ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Informationen in einer Sprache bereitgestellt werden, die die betreffende Person versteht. Die Informationen werden bereitgestellt mittels gedruckter Broschüren, Websites und spezieller Hotlines.
In einigen MS ist die Behörde, die für die formelle Feststellung des Opferstatus zuständig ist, auch für die Bereitstellung der Informationen verantwortlich, was die Beteiligung anderer Behörden jedoch nicht ausschließt. In vielen Fällen werden die Informationen auch von Organisationen der Zivilgesellschaft bereitgestellt.
4.
BEDENKZEIT
Damit sich das Opfer erholen und eine fundierte Entscheidung treffen kann, muss ihm eine Bedenkzeit eingeräumt werden. In dieser Zeit hat die Person (in Erwartung einer Entscheidung der zuständigen Behörde) Anspruch auf Hilfe und Schutz vor Ausweisung.
Alle MS haben Artikel 6 in nationales Recht umgesetzt, mit Ausnahme von AT und IT. In diesen MS wird diese Frist jedoch anscheinend in der Praxis gewährt oder ersetzt durch die Möglichkeit, unabhängig von der Zusammenarbeit mit den Behörden unverzüglich eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. In den meisten MS ist die Vollstreckung von Ausweisungsverfügungen gesetzlich ausdrücklich untersagt.
Es ergibt sich aus Wesen und Zweck der Bedenkzeit selbst, dass diese nicht von der Kooperationsbereitschaft des Opfers abhängig gemacht werden kann. Diese Bestimmung wird in Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 2011/36/EU weiter ausgeführt, wonach zumindest während der Bedenkzeit die Unterstützung und Betreuung ohne Vorbedingung gewährt werden, einschließlich für Opfer, die sich nicht rechtmäßig in dem betreffenden MS aufhalten. Erst wenn das Opfer nach Abschluss des Feststellungsverfahrens oder nach Ablauf der Bedenkzeit „nicht für einen Aufenthaltstitel in Frage kommt und auch ansonsten keinen rechtmäßigen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat hat oder falls das Opfer das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verlassen hat“, sind die Mitgliedstaaten nicht mehr verpflichtet, Unterstützung und Betreuung zu gewähren.
In der Richtlinie ist weder der Zeitpunkt, zu dem die Bedenkzeit (nach der Entdeckung oder amtlichen Feststellung der Opfer) beginnen sollte, noch deren Dauer vorgesehen. Stattdessen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, dies in ihrem innerstaatlichen Recht zu regeln. In der Praxis gewähren rund die Hälfte der MS die Bedenkzeit offiziell erst nach der förmlichen Feststellung des Opferstatus. 13 MS gewähren eine Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen, die in einigen Fällen für schutzbedürftige Personen oder bei besonderen persönlichen Umständen verlängert werden kann, während andere von Anfang an einen längeren Zeitraum von 45, 60 oder 90 Tagen einräumen. Bei der Höchstdauer gibt es erhebliche Unterschiede – von einem Monat ohne vorgesehene Verlängerung bis zu mehreren Monaten. Mitunter kann die Höchstdauer auch von Fall zu Fall verlängert werden. Ähnliche Unterschiede bestehen hinsichtlich der Art des Aufenthaltsstatus.
Die MS können die Bedenkzeit auch aus Gründen der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit beenden oder in Fällen, in denen die betroffene Person aktiv, freiwillig und aus eigener Initiative wieder Kontakt zu den Tätern aufgenommen hat (Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie 2004/81/EG). Die meisten MS haben diese Bestimmung umgesetzt. In einigen Fällen gehen die Gründe für die Beendigung der Bedenkzeit über die in der Richtlinie festgelegten Kriterien hinaus und sind möglicherweise zu weit gefasst.
5.
BEHANDLUNG VOR ERTEILUNG DES AUFENTHALTSTITELS
Artikel 7 betrifft die Behandlung der Opfer während der Bedenkzeit in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörde. Er wird durch die Richtlinie 2011/36/EU weiter konkretisiert.
Erstens muss der Richtlinie 2011/36/EU zufolge Unterstützung und Betreuung während der Bedenkzeit allen Opfern ohne Vorbedingung unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus gewährt werden. Nach Ablauf der Bedenkzeit oder nach Abschluss des Feststellungsverfahrens gilt die Richtlinie 2011/36/EU jedoch „unbeschadet der Richtlinie 2004/81/EG oder vergleichbarer nationaler Vorschriften“ (Artikel 11 Absatz 3). Wenn das Opfer daher nicht für einen Aufenthaltstitel in Frage kommt, sich nicht rechtmäßig in dem betreffenden MS aufhält oder das Hoheitsgebiet dieses MS verlassen hat, ist letzterer nicht verpflichtet, weiterhin Unterstützung und Betreuung auf der Grundlage der Richtlinie 2011/36/EU (18. Erwägungsgrund) zu gewähren.
Zweitens werden die Begriffe Unterstützung, Betreuung und Schutz der Opfer durch die Artikel 11 bis 16 der Richtlinie 2011/36/EU inhaltlich gegenüber den Bestimmungen der Richtlinie 2004/81/EG konkretisiert.
5.1
Sicherstellung des Lebensunterhalts
Vor Erteilung eines Aufenthaltstitels müssen die MS dafür sorgen, dass den Opfern, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, die Mittel zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts gewährt werden und sie Zugang zu medizinischer Notversorgung erhalten. Sie müssen zudem die speziellen Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Personen beachten und ihnen bei Bedarf psychologische Hilfe gewähren.
In der Praxis stellen die meisten MS – zumeist über besondere Einrichtungen – Unterkünfte bereit. In HU ist allerdings unklar, ob die Verpflichtung der Opfer, eine Bescheinigung vorzulegen, die ihnen von den nationalen Behörden auf Antrag ausgestellt wird, bereits eine gewisse Kooperationsbereitschaft impliziert, bevor Unterstützung und Unterkunft gewährt werden können. In BG und RO ist die Dauer der Unterbringung in Unterkünften auf 10 Tage beschränkt und ist damit kürzer als die Dauer der Bedenkzeit. Eine Verlängerung ist auf Antrag des Opfers oder der Justizbehörden möglich.
Alle MS gewährleisten anscheinend eine medizinische Versorgung, die über die in Artikel 7 Absatz 1 vorgeschriebene Notversorgung hinausgeht. In der Praxis scheinen die meisten MS auf die speziellen Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Personen einzugehen (einschließlich psychologischer Hilfe und Beratung); in einigen MS wurde diese Verpflichtung allerdings nicht explizit in innerstaatliches Recht umgesetzt.
Die meisten MS bieten allen oder den besonders schutzbedürftigen Opfern auch eine gewisse finanzielle Unterstützung.
5.2
Sicherheits- und Schutzbedürfnisse
Eine adäquate Risiko- und Bedarfsanalyse ist für die Sicherheit der Opfer und eine effiziente Zusammenarbeit mit den Behörden von entscheidender Bedeutung (Artikel 7 Absatz 2). Die meisten MS haben explizite Rechtsvorschriften, Protokolle oder Leitlinien zu den Sicherheits- und Schutzbedürfnissen eingeführt und/oder führen in der Praxis eine Risiko- und Bedarfsanalyse durch.
Die in Artikel 12 Absätze 3 und 4 der Richtlinie 2011/36/EU vorgesehene Pflicht zur individuellen Begutachtung der persönlichen Umstände und Risiken des Opfers trägt zur weiteren Stärkung des Opferschutzes bei.
5.3
Übersetzung- und Dolmetschleistungen sowie Prozesskostenhilfe
Artikel 7 Absatz 3 verpflichtet die Mitgliedstaaten, den betroffenen Drittstaatsangehörigen Übersetzungs- und Dolmetschleistungen zur Verfügung zu stellen, allerdings nur sofern erforderlich. In CZ ist unklar, ob Dolmetschleistungen unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, und zwar auch im Vorfeld eines Strafverfahrens. In BG scheinen Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen gesetzlich nur während des Strafverfahrens garantiert zu sein.
Insgesamt sehen die meisten MS Übersetzungs- und Dolmetschleistungen vor, aber in der Praxis scheint es beträchtliche Unterschiede zu geben. Vor allem außerhalb des Strafverfahrens könnte sich der Zugang der Opfer zu solchen Dienstleistungen als problematisch erweisen.
Die meisten Mitgliedstaaten haben Artikel 7 Absatz 4, der die Möglichkeit einer unentgeltlichen Bereitstellung eines Rechtsbeistands vorsieht, in nationales Recht umgesetzt. Diese Bestimmung wird durch Artikel 12 der Richtlinie 2011/36/EU bekräftigt, wonach die Rechtsberatung und gegebenenfalls die rechtliche Vertretung kostenlos zu erbringen ist, wenn das Opfer nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügt.
6.
AUFENTHALTSTITEL: ERTEILUNG, NICHTVERLÄNGERUNG UND ENTZUG
Vor Erteilung eines Aufenthaltstitels müssen die MS prüfen, ob die Verlängerung des Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen im nationalen Hoheitsgebiet für Ermittlungen oder Gerichtsverfahren sachdienlich ist und ob die Person bereit ist, mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, und jeden Kontakt zu den mutmaßlichen Tätern abgebrochen hat. Diese Bedingungen gelten unbeschadet der Gründe der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit.
In einigen wenigen MS muss das Gerichtsverfahren gegen den mutmaßlichen Täter begonnen haben, bevor dem Opfer ein Aufenthaltstitel ausgestellt werden kann. Auch die Pflicht zur Zusammenarbeit mit den Behörden wird unterschiedlich ausgelegt: Das Spektrum reicht von der Pflicht, Informationen mitzuteilen, bis zur offiziellen Anzeige und Klageerhebung oder Aussage vor Gericht. Durch Artikel 12 der Richtlinie 2011/36/EU wurde der Opferschutz jedoch durch die Festlegung konkreter Maßnahmen für Personen, die an strafrechtlichen Ermittlungen und Verfahren beteiligt sind, zusätzlich zu den Garantien in der Richtlinie 2012/29/EU über die Rechte der Opfer von Straftaten weiter verstärkt.
In einigen MS ist die Zusammenarbeit für die Erteilung eines Aufenthaltstitels entweder unerheblich, oder es kann aufgrund der persönlichen Umstände des Opfers von dem Erfordernis der Zusammenarbeit abgesehen werden. Andere MS haben dagegen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zusätzliche Bedingungen eingeführt, zum Beispiel Nachweis einer Unterkunft oder Zahlung einer Gebühr. Zusätzliche Anforderungen, die den Behörden ein weites Ermessen einräumen, insbesondere in Fällen, in denen keine Ausnahmen zugelassen werden, können ohne triftigen Grund dazu führen, dass kein Aufenthaltstitel erteilt wird. In solchen Fällen ist es deshalb fraglich, ob die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt worden ist.
Der Aufenthaltstitel ist der Richtlinie zufolge mindestens sechs Monate gültig. Dieses Erfordernis ist in den Rechtsvorschriften von BG, EE, HR, HU und NL nicht erfüllt. Drei MS gewähren per Gesetz einen Aufenthaltstitel von einem Jahr, während andere die Gültigkeitsdauer von Fall zu Fall je nach Dauer des Verfahrens oder der besonderen Umstände festlegen.
Die MS sind nach Artikel 8 verpflichtet, den Aufenthaltstitel zu verlängern, wenn die Voraussetzungen gemäß Artikel 8 Absatz 2 weiterhin erfüllt sind. Diese Verlängerbarkeit ist jedoch in PL gesetzlich nicht eindeutig vorgeschrieben und scheint in LT nur als Möglichkeit zu bestehen. In einigen MS kann der Aufenthaltstitel unter bestimmten Bedingungen in ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht umgewandelt werden.
Nach Artikel 14 schließlich kann der Aufenthaltstitel jederzeit entzogen werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung nicht mehr erfüllt sind. Eine Minderheit von MS hat für den Entzug des Aufenthaltstitels weiter gehende Gründe – z. B. öffentliche Gesundheit – eingeführt, die häufig für alle Arten von Aufenthaltstiteln gelten. In einigen Fällen können diese über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgehen.
7.
BEHANDLUNG NACH ERTEILUNG DES AUFENTHALTSTITELS
Nach Erteilung des Aufenthaltstitels muss Opfern, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, gemäß Artikel 9 zumindest die in Artikel 7 vorgesehene Behandlung gewährt werden.
Darüber hinaus sollte den Opfern während der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zur beruflichen und allgemeinen Bildung im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften gewährt werden (Artikel 11).
Die meisten MS scheinen Zugang zum Arbeitsmarkt sowie zur beruflichen und allgemeinen Bildung zu gewähren, obwohl der Zugang zum Arbeitsmarkt in einigen Fällen problematisch erscheint.
Artikel 12 gewährt Opfern Zugang zu Programmen für die Rückkehr in ein normales soziales Leben, einschließlich zur Verbesserung der beruflichen Fähigkeiten. In den MS, die über gezielte Programme für Opfer verfügen, äußern sich die Beteiligten im Allgemeinen positiv dazu. In HR ist die Teilnahme an Hilfs- und Schutzprogrammen für Opfer von Menschenhandel eine Voraussetzung für die Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels.
8.
KINDER
MS, die die Richtlinie auf Kinder anwenden, müssen das Wohl des Kindes berücksichtigen, für geeignete Verfahren sorgen und ihnen unter den gleichen Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen Zugang zum Bildungssystem gewährleisten, wobei sie den Zugang auf das öffentliche Bildungssystem beschränken können (Artikel 10). Alle MS gewährleisten Zugang zum Bildungssystem.
Einige MS haben besondere Vorschriften zum Kindeswohl erlassen, während andere der Auffassung waren, dass dieser Grundsatz bereits im nationalen Recht geregelt ist, nicht zuletzt durch die Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, und es somit keiner weiteren Legislativmaßnahmen bedarf. Letztere Auffassung bietet aber nicht unbedingt ausreichend Klarheit in Bezug auf die Frage, inwieweit das Übereinkommen im Hinblick auf die diesbezüglichen Bestimmungen der Richtlinie anwendbar ist. In jedem Fall sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Durchführung von Unionsrecht das Wohl des Kindes zu achten.
Artikel 10 Buchstabe c betrifft unbegleitete Kinder. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten, nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts für eine rechtliche Vertretung zu sorgen und die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um ihre Identität, ihre Staatsangehörigkeit und ihren Status als unbegleitete Minderjährige festzustellen und so schnell wie möglich ihre Angehörigen ausfindig zu machen. Nicht alle MS haben diese Anforderungen explizit in ihr nationales Recht eingeführt. Im September 2012 hatte die Kommission in ihrem Halbzeitbericht über die Umsetzung des Aktionsplans für unbegleitete Minderjährige (2010-2014) die Auffassung vertreten, dass das Wohl des Kindes Vorrang vor ihrem Migrantenstatus haben muss. Das Europäische Parlament begrüßte diesen Standpunkt in seiner Entschließung vom September 2013.
Zu den Bedenken hinsichtlich der praktischen Anwendbarkeit von Artikel 10 zählen die ordnungsgemäße Identifizierung und die Einrichtung geeigneter Verfahren im Interesse des Kindeswohls, insbesondere für unbegleitete Kinder sowie für Kinder, die sich Betreuungseinrichtungen entziehen. Für den Schutz von Kindern, die an Strafverfahren beteiligt sind, wurden u. a. in FI und IT besondere Verfahren als Best Practice eingeführt.
Einige MS bieten für Kinder günstigere Bedingungen: z. B. längere Bedenkzeit, einen nicht an Bedingungen geknüpften Aufenthaltstitel oder besondere Unterkünfte.
Die Artikel 13 bis 16 der Richtlinie 2011/36/EU regeln speziell den Schutz von Kindern, die Opfer von Menschenhandel sind, sowie die Unterstützung, Betreuung und den Schutz dieser Kinder. Ihre Umsetzung wird sich positiv auf die Situation minderjähriger Drittstaatsangehöriger und die Art und Weise auswirken, wie die Richtlinie 2004/81/EG auf diese Personengruppe angewendet wird.
9.ERGEBNIS
Trotz einiger Fortschritte in den letzten Jahren liegen noch immer nicht genügend Daten über die Anwendung dieser Richtlinie vor. Hier besteht Verbesserungsbedarf. Den derzeit verfügbaren Zahlen ist allerdings zu entnehmen, dass nicht ausreichend Gebrauch von der Möglichkeit gemacht wird, Drittstaatsangehörigen als Gegenleistung für ihre Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden einen Aufenthaltstitel zu erteilen. Ein befristeter Aufenthaltstitel, der nur für die Dauer der Ermittlungen oder des Strafverfahrens gilt, reicht für schutzbedürftige Personen, die Zeit brauchen, um sich von einer traumatischen Erfahrung zu erholen, bevor sie sich für eine förmliche Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungs- und Justizbehörden entscheiden können, als Anreiz unter Umständen nicht aus. Einige MS bieten bereits allen Opfern oder bestimmten Opfern aufgrund ihrer persönlichen Umstände oder ihrer Schutzbedürftigkeit einen nicht an Bedingungen geknüpften Aufenthaltstitel. In den meisten Fällen handelt es sich dabei allerdings um Ausnahmen von der Regel, dass ein Aufenthaltstitel nur gegen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Behörden erteilt wird. Die Opfer können daher nicht absehen, ob sie einen Aufenthaltstitel erhalten oder nicht. Außerdem ist unklar, wie häufig solche Aufenthaltstitel tatsächlich erteilt werden und auf welcher Grundlage die Schutzbedürftigkeit und die persönlichen Umstände geprüft werden. Weniger strenge Anforderungen an die Kooperationsbereitschaft und andere, günstigere Bedingungen, wie beispielsweise die Trennung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels von der Dauer des Verfahrens oder eine längere Mindestdauer, könnten ebenfalls zur Erholung der Opfer und somit zu ihrer Kooperationsbereitschaft beitragen.
Mehrere Bestimmungen der Richtlinie 2004/81/EG sind eng mit der Richtlinie 2011/36/EU und der Strategie der EU zur Beseitigung des Menschenhandels verknüpft. Ihre Wirkung wird sich verstärken, sobald die Richtlinie 2011/36/EU umgesetzt ist. Im Zuge der Umsetzung dieser EU-Instrumente werden die MS ihre nationalen Rechtsvorschriften in Kürze ändern. Die Kommission wird daher erst nach Analyse der Umsetzung der Richtlinie 2011/36/EU, die für 2015 erwartet wird, genau abschätzen können, ob und inwieweit es angezeigt ist, Anwendungsleitlinien herauszugeben oder die Richtlinie 2004/81/EG zu ändern. Die Kommission wird eine Konsolidierung der EU-Vorschriften zur Bekämpfung des Menschenhandels, auch in Bezug auf die Aufenthaltstitel für Opfer, die Staatsangehörige eines Drittlands sind, in Erwägung ziehen.
In der Zwischenzeit wird die Kommission in bilateralen Gesprächen mit den Mitgliedstaaten auf eine vollständige, korrekte Umsetzung der Richtlinie 2004/81/EG hinwirken. Auf diesem Wege wird sie auch zur Durchführung der Maßnahmen beitragen, die von der im Oktober 2013 ins Leben gerufenen Task Force „Mittelmeerraum“ genannt worden sind, um unter anderem durch eine intensivere Bekämpfung des Menschenhandels und Schmuggels zu verhindern, dass Migranten im Mittelmeer zu Tode kommen.
Für die wirksame Anwendung der Richtlinie sind abgesehen von gesetzgeberischen Maßnahmen auch praktische Maßnahmen, wie Optimierung des Identifizierungsprozesses, Durchführung individueller Risikobewertungen für alle Opfer vor und während ihrer Zusammenarbeit mit den Behörden oder Verbesserung der Verfahren für die rechtzeitige Gewährung von Bedenkzeit und Aufenthaltstiteln, entscheidend. Die Kommission kann den weiteren Austausch von Informationen und bewährten Verfahren im Rahmen der bestehenden Strukturen unter Einbeziehung der MS, der Zivilgesellschaft, der EU-Agenturen und internationalen Organisationen erleichtern und auf diese Weise zu einer wirksameren Bekämpfung des Menschenhandels beitragen.