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Document 52011PC0275

    Vorschlag für RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe

    /* KOM/2011/0275 endg. - COD 2011/0129 */

    52011PC0275

    RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe Vorschlag für RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe /* KOM/2011/0275 endg. - COD 2011/0129 */


    BEGRÜNDUNG

    1.           HINTERGRUND DES VORGESCHLAGENEN RECHTSAKTS

    Dieser Vorschlag gehört zu einem Legislativpaket, das die Rechte von Opfern in der EU stärken soll und zwei weitere Elemente umfasst: eine Mitteilung über die Stärkung der Opferrechte in der EU und einen Verordnungsvorschlag über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen.

    Die Europäische Kommission hat den Schutz von Verbrechensopfern und die Festlegung von Mindeststandards auf der Grundlage des Stockholmer Programms und des dazugehörigen Aktionsplans[1] in ihrem Arbeitsprogramm als strategische Priorität[2] eingestuft. Dem Opferschutz wird danach auf EU-Ebene besondere Bedeutung beigemessen. Zudem wird auf die Notwendigkeit integrierter und koordinierter Opferschutzmaßnahmen hingewiesen und die Absicht bekundet, im Sinne der Schlussfolgerungen des Rates „Justiz und Inneres“ vom Oktober 2009[3] entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

    Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln. Eckpfeiler dieses Raums ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Strafsachen. Mit ihrem Bericht über die Unionsbürgerschaft vom 27. Oktober 2010[4] möchte die Kommission auf die Beseitigung der Hindernisse für die Ausübung von Unionsbürgerrechten hinwirken, indem sie den Rechten, die dem Einzelnen auf EU-Ebene gewährt werden, mehr Substanz gibt. Die Stärkung der Opferrechte wie der Verfahrensrechte von Verdächtigen und Angeklagten in Strafverfahren ist als ein Beitrag hierzu zu sehen.

    Die Europäische Union ist mit dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren bereits im Bereich der Opferrechte in Strafverfahren tätig geworden. Zwar wurden diese Rechte gestärkt, doch konnten die Ziele des Rahmenbeschlusses nicht vollständig umgesetzt werden.

    Das Europäische Parlament hat dem Rat zudem empfohlen, einen umfassenden Rechtsrahmen zu beschließen, der Opfern von Verbrechen bestmöglichen Schutz bietet.[5] In seiner Entschließung vom 26. November 2009[6] zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen fordert das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, ihre einzelstaatlichen Gesetze und Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Frauen zu verbessern und Schritte gegen die Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu ergreifen, nicht zuletzt mittels vorbeugender Maßnahmen; die Europäische Union wurde aufgefordert, das Recht auf Beistand und Unterstützung für alle Opfer von Gewalt zu gewährleisten. Zudem werden die Mitgliedstaaten in Erklärung 19 zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgefordert, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um jede Art häuslicher Gewalt zu verhindern und zu ahnden sowie die Opfer zu unterstützen und zu schützen.

    Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen. Die gegenseitige Anerkennung kann ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie sich auf Vertrauen stützt: nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an einem Strafrechtsprozess Beteiligten sowie andere Personen mit berechtigtem Interesse müssen darauf vertrauen können, dass die Regeln aller Mitgliedstaaten angemessen sind und ordnungsgemäß angewandt werden. Wenn nicht EU-weit einheitliche Mindeststandards für Verbrechensopfer gelten und wenn daher Ungewissheit über die Behandlung von Opfern besteht oder die Verfahrensregeln unterschiedlich sind, kann das Vertrauen schwinden.

    Gemeinsame Mindestvorschriften schaffen daher Vertrauen in die Strafjustiz aller Mitgliedstaaten, was wiederum zu einer wirksameren justiziellen Zusammenarbeit in einem Klima gegenseitigen Vertrauens und einer solideren Grundrechtskultur in der Europäischen Union führen wird. Auch lassen sich dadurch Hindernisse für die Freizügigkeit abbauen, da die gemeinsamen Mindestvorschriften für alle Verbrechensopfer EU-weit gelten.

    Übereinstimmung mit anderen Politikbereichen und Zielen der Europäischen Union

    Dieser Vorschlag soll sicherstellen, dass die vielen verschiedenen Belange der Opfer von Straftaten, die unterschiedliche Politikbereiche der EU berühren, Beachtung finden und die Opfer die nötige Hilfe erhalten. Der Schutz der Opferrechte ist ein wichtiger Aspekt der EU-Maßnahmen und/oder ‑Instrumente in den Bereichen Menschenhandel, sexueller Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern, Gewalt gegen Frauen, Terrorismus, organisierte Kriminalität und Verfolgung von Verkehrsdelikten.

    Der Vorschlag baut auf vorhandenen Instrumenten auf und ergänzt sie. Insbesondere gilt dies für die Richtlinie 2011/36/EU des Rates zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz von Opfern[7], die Richtlinie des Rates zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie[8], die derzeit debattiert wird, sowie den Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates zur Terrorismusbekämpfung[9] in der geänderten Fassung des Rahmenbeschlusses 2008/919/JI des Rates vom 28. November 2008[10]. Der Vorschlag führt Mindeststandards für die Rechte der Opfer ein, was den Opferschutz im EU-Recht und der EU-Politik insgesamt stärkt. Während die einzelnen Instrumente, beispielsweise die Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung, über den Kinderhandel, den sexuellen Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie, auf die Bedürfnisse der jeweiligen Opfergruppen zugeschnitten sind, weist dieser Vorschlag einen horizontalen Ansatz auf und bietet sämtlichen Verbrechensopfern, unabhängig von der Art der Straftat oder deren Umstände und dem Ort des Geschehens, Unterstützung. Die Bestimmungen dieses Vorschlags stehen im Einklang mit der Vorgehensweise in den vorgenannten Politikbereichen.

    Diese Richtlinie lässt die Bestimmungen anderer EU-Rechtsakte unberührt, die gezielt die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Opfer behandeln. Die Bestimmungen der Richtlinie 2011/36/EU des Rates, die den Bestimmungen der Artikel 12, 20 Buchstabe b, Artikel 21 Absatz 3 Buchstaben a, c und d dieser Richtlinie entsprechen, gelten insbesondere für erwachsene Opfer des Menschenhandels. Für minderjährige Opfer des Menschenhandels gelten die Bestimmungen der Richtlinie 2011/36/EU des Rates, die den Maßnahmen gemäß den Artikeln 12, 20, 21 Absatz 2 Buchstaben a, b und c, Artikel 21 Absatz 3 und Artikel 22 dieser Richtlinie entsprechen, für minderjährige Opfer sexuellen Missbrauchs, sexueller Ausbeutung und Kinderpornografie die Bestimmungen der Richtlinie [….]/[..]/EU des Rates [zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie], die den Bestimmungen der Artikel 12, 20, 21 Absatz 2 Buchstaben a, b und c, Artikel 21 Absatz 3 und Artikel 22 dieser Richtlinie entsprechen.

    Die verbesserten Mechanismen zur Ermittlung der Bedürfnisse der Opfer, zur Information der Opfer über den Verfahrensverlauf und zur Gewährleistung eines angemessenen Schutzes im Verfahren werden auch den Opfern von Terroranschlägen zugute kommen. Ebenso werden die Belange von Opfern von Verkehrsdelikten, für die keine speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Maßnahmen vorgesehen sind, durch die Sensibilisierungsmaßnahmen und die Änderung der kulturellen Verhaltensmuster der Angehörigen der Rechtsberufe in Verbindung mit Bewertungsmaßnahmen besser berücksichtigt, indem beispielsweise eine ärztliche Versorgung gewährleistet wird, bevor ein Verkehrsdelikt nachgewiesen wurde.

    Darüber hinaus sind in dem Vorschlag ähnlich wie bei den Maßnahmen für Opfer von Menschenhandel und sexuellem Missbrauch, sexueller Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie besondere Maßnahmen für schutzbedürftige Opfer vorgesehen.

    Auch sind längerfristig Maßnahmen für bestimmte Opfergruppen wie Opfer von Terroranschlägen und organisierter Kriminalität geplant. So sollen Lücken im Schutz der Opfer von Terroranschlägen ermittelt werden, um deren Schutz in Europa verbessern zu können.

    Bestehende Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet

    – Menschenhandel, ein Bereich, in dem mit der Richtlinie 2011/36/EU der Schutz der Opferrechte eingeführt wurde, wobei Kinder in besonderem Maße vor Menschenhandel geschützt werden;[11]

    – sexueller Missbrauch, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie, für die ein neuer Richtlinienvorschlag vorgelegt wurde, in dem die Bedürfnisse von minderjährigen Opfern solcher Straftaten besonders berücksichtigt werden;[12]

    – eine EU-Agenda für die Rechte des Kindes, deren Kernziel es ist, die Justizsysteme kinderfreundlicher zu machen; minderjährigen Opfern sollten, so weit wie möglich, negative Erfahrungen in Strafverfahren erspart bleiben und sie sollten die Möglichkeit erhalten, aktiv daran teilzunehmen;[13]

    – Richtlinie 2004/80/EG des Rates zur Entschädigung der Opfer von Straftaten, die die Entschädigung in grenzüberschreitenden Situationen erleichtern soll;[14]

    – Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, die eine strategische Priorität der Gemeinschaftsstrategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2010-2015) und ein Schwerpunkt des Programms DAPHNE III ist;[15]

    – Schutz der Opfer von Terroranschlägen[16].

    2.           ERGEBNISSE DER ANHÖRUNGEN INTERESSIERTER KREISE UND DER FOLGENABSCHÄTZUNGEN

    Die Anhörungsregeln der Kommission wurden beachtet. Experten aus unterschiedlichen Bereichen, u. a. aus Regierungen, Strafverfolgungsbehörden, NRO, internationalen Organisationen und Hochschulen, beteiligten sich an den ausführlichen Debatten über die geplanten Rechtsvorschriften, die in die Folgenabschätzung zu diesem Vorschlag eingeflossen sind.

    Die Kommission gab eine externe Studie zur Vorbereitung der Folgenabschätzung sowie eine weitere Studie in Auftrag, die sich mit den in Betracht kommenden Optionen befasste, wenn es konkret darum geht, wie die Wirkungen einer Schutzanordnung aufrechterhalten werden können, wenn eine gefährdete Person in einen anderen Mitgliedstaat reist oder dorthin umzieht[17]. Daneben flossen die Ergebnisse zweier Umfragen ein: Im Rahmen der externen Studie wurden 384 Vertreter von Regierungen und nichtstaatlichen Stellen befragt, von denen 119 antworteten, und im Rahmen des Projekts „Victims in Europe“[18] gingen 97 Antworten auf einen Fragebogen zur rechtlichen Umsetzung und 218 Antworten auf einen Fragebogen zur praktischen Umsetzung ein.

    Im Zuge der Folgenabschätzung veranstaltete die Kommission eine öffentliche Anhörung, die sich mit der Frage, was die EU unternehmen sollte (u. a. im Bereich von Schutzanordnungen), um die Situation von Verbrechensopfern zu verbessern, an alle Bürger sowie an Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen richtete. Bei Ablauf der Beantwortungsfrist waren 77 Antworten bei der Kommission eingegangen.

    Am 18./19. Februar 2010 fand ein Treffen von Vertretern aus Wissenschaft und Lehre, NRO und Mitgliedstaaten statt gefolgt von einem Rechtsforum am 14. April 2010.

    Zusätzlich zu diesen direkten Konsultationen hat die Kommission zahlreiche Studien und Veröffentlichungen herangezogen.[19]

    Bei der Folgenabschätzung wurde festgestellt, dass der Rahmenbeschluss von 2001 durch eine neue Richtlinie ersetzt werden muss, die konkrete Pflichten im Zusammenhang mit Opferrechten einführt. Im Anschluss an die Verabschiedung der neuen Rechtsvorschriften bedarf es praktischer Maßnahmen zur Umsetzung der Vorschriften. Ein erster Schritt wären weitere Studien und Maßnahmen, insbesondere zur Opferentschädigung und Prozesskostenhilfe.

    3.           RECHTLICHE ASPEKTE DES VORSCHLAGS

    Einige Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurden in ihrer ursprünglichen Form beibehalten oder nur aus Gründen der Klarheit abgeändert. So entsprechen die Artikel 9, 12, 14, 15, 16 und 25 der vorgeschlagenen Richtlinie inhaltlich den Artikeln 3, 6, 9, 11 und 12 des Rahmenbeschlusses. Die nachstehenden Anmerkungen betreffen Artikel, die eine wesentliche Änderung gegenüber dem Rahmenbeschluss darstellen.

    Artikel 2 - Begriffsbestimmungen

    Die Richtlinie soll gewährleisten, dass in der gesamten EU einheitliche Mindeststandards für Verbrechensopfer gelten. So regelt diese Richtlinie insbesondere die Unterstützung und den Schutz von Familienangehörigen von Verbrechensopfern, da diese oft ebenfalls Leidtragende der Straftat sind und selbst von sekundärer Viktimisierung sowie von Viktimisierung oder Einschüchterung durch den Straftäter oder durch dessen Umfeld betroffen sein können. Sämtliche Bestimmungen dieser Richtlinie gelten auch für die Hinterbliebenen eines Opfers, das infolge einer Straftat ums Leben gekommen ist, da diese ein besonderes und rechtmäßiges Interesse am Verfahren haben, das über das von Familienangehörigen von noch lebenden Opfern hinausgeht, und oft als Vertreter des Opfers anerkannt werden.

    Artikel 3, 4, 5 und 6 – Recht auf Information und Recht, zu verstehen und verstanden zu werden

    Diese Artikel sollen sicherstellen, dass Verbrechensopfer die nötigen Informationen in einer für sie verständlichen Form erhalten, so dass sie ihre Rechte in vollem Umfang wahrnehmen können und sich respektvoll behandelt fühlen. Diese Informationen sollten zur Verfügung gestellt werden, sobald ein Verbrechensopfer eine Straftat anzeigt. Außerdem sollte das Opfer während des Strafverfahrens regelmäßig einschlägige Informationen erhalten, auch über den Verlauf des Verfahrens. Die Informationen sollten so ausführlich sein, dass das Opfer in Kenntnis der Sachlage über seine Beteiligung am Verfahren und über die Wahrnehmung seiner Rechte entscheiden kann, insbesondere darüber, ob es eine Überprüfung der Entscheidung, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, beantragen sollte.

    Wenn Opfer die standardmäßig erhältlichen schriftlichen Informationen nur schwer verstehen können, können verschiedene Gründe dafür verantwortlich sein. So versteht das Opfer möglicherweise die Sprache nicht, in der die Informationen erteilt wurden. Oder es ist aufgrund anderer Faktoren beispielsweise wegen seines Alters, seiner Reife, seiner intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, aufgrund von Analphabetismus oder einer Behinderung wie Seh‑ oder Hörproblemen nur begrenzt oder gar nicht in der Lage, die Informationen zu verstehen. Daher sollten mit Rücksicht auf solche Faktoren Informationen möglichst in verschiedener Form erteilt werden.

    Artikel 7 – Recht auf Opferhilfe

    Dieser Artikel soll gewährleisten, dass Verbrechensopfer Zugang zu Opferhilfsdiensten erhalten, die Information und Rat, emotionale und psychische Unterstützung sowie praktische Hilfe bieten, was für die Opfer oft entscheidend wichtig ist, um das Geschehene verarbeiten, die Folgen des Verbrechens bewältigen und die Belastung eines Strafverfahrens verkraften zu können.

    Die Hilfe sollte möglichst umgehend nach einer Straftat einsetzen, ganz gleich, ob die Straftat angezeigt wurde oder nicht. Eine solche Hilfe kann für den Entschluss des Opfers ausschlaggebend sein, letztendlich Strafanzeige zu erstatten. Opfer brauchen möglicherweise sowohl während des Verfahrens als auch langfristig Hilfe. Die Opferhilfe kann von staatlicher oder anderer Stelle organisiert werden und sollte nicht mit aufwändigen Verfahren und Formalitäten verbunden sein, die den Zugang zu solchen Diensten erschweren könnten. Die Opferhilfe kann unterschiedliche Formen annehmen, beispielsweise persönliche Gespräche mit einem Betreuer, Gespräche über Telefon oder andere Kommunikationsmittel, um sicherzustellen, dass die Opferhilfsdienste an möglichst vielen Orten zur Verfügung stehen. Bestimmte Opfergruppen, wie Opfer sexueller Gewalt, von Vorurteilskriminalität wie sexistisch bedingter Gewalt oder durch Rassenhass motivierte Straftaten oder Terrorismusopfer, haben wegen der besonderen Merkmale des Verbrechens, dem sie zum Opfer gefallen sind, spezialisierte Hilfsdienste nötig. Für solche Hilfsdienste sollte nach Möglichkeit gesorgt werden.

    Zwar sollte die Hilfe nicht davon abhängig sein, ob das Opfer die Straftat bei der Polizei oder einer anderen zuständigen Behörde angezeigt hat, doch sind diese Behörden oft am besten in der Lage, die Opfer über die Hilfsmöglichkeiten zu informieren. Die Mitgliedstaaten sollten daher die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Opfer an Opferhilfsdienste vermittelt werden, und für den Schutz der Opferdaten sorgen.

    Artikel 8 – Recht der Opfer auf Anzeigebestätigung

    Dieser Artikel soll sicherstellen, dass das Opfer bei der Anzeige einer Straftat eine amtliche Anzeigebestätigung erhält, auf die es bei weiteren Kontakten Bezug nehmen kann.

    Artikel 9 – Anspruch auf rechtliches Gehör

    Dieser Artikel soll sicherstellen, dass Opfer die Möglichkeit haben, eine Erstaussage und später ergänzende Angaben zu machen, ihre Meinung zu äußern und in einem Strafverfahren auszusagen. Was dieser Anspruch genau umfasst, ist in den Vorschriften der Mitgliedstaaten geregelt und kann von dem einfachen Recht auf Kommunikation mit einer zuständigen Behörde und Beibringung von Beweisen bis zu umfassenderen Rechten gehen wie zum Recht, die Berücksichtigung von Beweisen oder die Erhebung bestimmter Beweise zu verlangen, oder zum Recht auf aktive Teilnahme am Prozess.

    Artikel 10 – Rechte bei Verzicht auf Strafverfolgung

    Dieser Artikel soll dem Opfer die Möglichkeit geben zu prüfen, ob die bestehenden Verfahren und Regeln eingehalten wurden und ob die Entscheidung, auf die Strafverfolgung einer bestimmten Person zu verzichten, ordnungsgemäß war. Die genauen Modalitäten des Überprüfungsverfahrens werden durch mitgliedstaatliches Recht geregelt. Jedoch sollte die Prüfung in jedem Fall von einer anderen Person oder Behörde vorgenommen werden, als derjenigen, die die Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung getroffen hatte.

    Artikel 11 – Recht auf Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Mediations‑ oder anderen Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren

    Der Täter-Opfer-Ausgleich umfasst verschiedene Maßnahmen im Vorfeld eines Strafverfahrens, in Verbindung damit, parallel dazu oder im Anschluss daran. Sie können für bestimmte Arten von Straftaten vorgesehen werden, nur für erwachsene oder nur für minderjährige Straftäter und umfassen beispielsweise die Mediation zwischen Täter und Opfer, Familienkonferenzen und Schlichtungskreise (sentencing circles).

    Mit diesem Artikel soll sichergestellt werden, dass bei einem Täter-Opfer-Ausgleich Schutzmaßnahmen greifen, die gewährleisten, dass das Opfer nicht noch weiter viktimisiert wird. Beim Ausgleich sollten daher die Interessen und Belange des Opfers in den Mittelpunkt gestellt, eine Schädigung des Opfers wiedergutgemacht und eine weitere Schädigung vermieden werden. Das Opfer muss freiwillig über seine Teilnahme an dem Ausgleich entscheiden, was voraussetzt, dass dem Opfer die Risiken und Vorteile dieses Verfahrens hinreichend bekannt sind, so dass es seine Entscheidung in Kenntnis der Sachlage treffen kann. Auch bedeutet das, dass Faktoren wie ein ungleiches Kräfteverhältnis sowie Alter, Reife oder geistige Fähigkeiten des Opfers, die seine Fähigkeit, eine Entscheidung in Kenntnis der Sachlage zu treffen, vermindern oder ein für das Opfer positives Ergebnis behindern könnten, bei der Wahl des Täter-Opfer-Ausgleichsverfahrens und im Verfahren selbst in Betracht zu ziehen sind. Zwar sollten, soweit nicht von den Betroffenen anders vereinbart, private Verfahren im Allgemeinen vertraulich sein, doch könnte es im öffentlichen Interesse erforderlich sein, bestimmte Umstände wie Drohungen, die während des Verfahrens geäußert wurden, bekannt zu machen. Schließlich sollte eine Vereinbarung zwischen den Betroffenen aus freien Stücken zustande kommen.

    Artikel 13 – Anspruch auf Kostenerstattung

    Dieser Artikel entspricht insoweit dem Rahmenbeschluss von 2001, als er festlegt, dass die Kosten, die den Opfern im Strafverfahren entstehen, erstattet werden. Eine Kostenerstattung ist auch dann vorgesehen, wenn das Opfer dem Prozess beiwohnt, ohne Verfahrensbeteiligter zu sein. Dadurch soll dem Opfer ermöglicht werden, dem Prozess bis zur Urteilsverkündung beizuwohnen, auch wenn es nicht die nötigen finanziellen Mittel dazu hat.

    Artikel 18 – Feststellung der besonderen Schutzbedürftigkeit

    Dieser Artikel soll sicherstellen, dass Opfer individuell behandelt werden und dass ein Verfahren vorgesehen ist, um festzustellen, für welche Opfer im Strafverfahren gegebenenfalls besondere Schutzmaßnahmen getroffen werden müssen.

    Grundsätzlich sind alle Opfer von Straftaten schutzbedürftig und müssen daher mit Einfühlungsvermögen und Umsicht behandelt werden. Bestimmte Opfer müssen jedoch verstärkt vor einer weiteren Viktimisierung oder Einschüchterung durch den Tatverdächtigen oder Angeklagten sowie durch dessen Umfeld geschützt werden. Zudem ist das Risiko für manche Opfer, in einem Strafverfahren – bei der Zeugenaussage oder einer anderweitigen Teilnahme – weiterem Leid ausgesetzt zu sein oder eine weitere Schädigung zu erleiden, besonders groß. Für diese Opfer sind besondere Maßnahmen vorzusehen, um die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Schädigung weitgehend zu reduzieren.

    Der Artikel bestimmt, dass das Risiko einer weiteren Schädigung der Opfer anhand ihrer persönlichen Eigenschaften oder anhand des Wesens und der Art der jeweiligen Straftat eingestuft werden sollte. Grundsätzlich ist das Schadensrisiko bei den meisten Minderjährigen und Personen mit Behinderung besonders groß. Sie sind daher als Gruppe automatisch als besonders schutzbedürftig einzustufen und benötigen meist besondere Schutzmaßnahmen. Auch bei anderen Opfergruppen besteht in der Regel je nach Wesen oder Art der Straftat (sexuelle Gewalt, einschließlich sexueller Ausbeutung und Menschenhandel) ein hohes Risiko einer weiteren Viktimisierung während des Verfahrens.

    Gleichzeitig erkennt dieser Artikel an, dass die Opfer Individuen sind, die unterschiedlich auf eine Straftat reagieren und daher in unterschiedlichem Maße Hilfe brauchen und verletzbar sind. Daher kann auch ein Opfer, das nicht einer der vorgenannten Gruppen zuzuordnen ist, besonders schutzbedürftig sein. Daher muss ein Verfahren der individuellen Begutachtung eingeführt werden, mit dem alle besonders schutzbedürftigen Opfer ermittelt werden, die dann angemessen geschützt werden. Dies kann dem Opfer entscheidend bei der Folgenbewältigung helfen und gewährleisten, dass es während des Verfahrens und danach die Hilfe und den Schutz erhält, die es braucht. Opfer werden dadurch so gut wie möglich in die Lage versetzt, sich einer sekundären und wiederholten Viktimisierung sowie der Einschüchterung zu entziehen und ihrem Recht vor Gericht Geltung zu verschaffen. Allerdings muss bei diesem Vorgehen bedacht werden, wie wahrscheinlich die Einleitung eines Strafverfahrens ist und in welchem Umfang besondere Maßnahmen erforderlich sind. Die Schwere der Tat und das Ausmaß der erkennbaren Schädigung des Opfers sind nützliche Indikatoren bei der Begutachtung der Person.

    Bei der individuellen Begutachtung sollte festgestellt werden, was das Opfer im Verfahren benötigt und ob Opferhilfe vermittelt werden sollte. Die Beamten, die nach Anzeige einer Straftat als erste in Kontakt mit dem Opfer kommen, sollten entsprechend geschult sein und Anleitung, Instrumente oder Protokolle erhalten, die ihnen helfen, die Bedürfnisse des Opfers richtig einzuschätzen.

    Bei einer individuellen Begutachtung sind alle Faktoren zu untersuchen, die die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Viktimisierung oder Einschüchterung des Opfers während des Verfahrens erhöhen. Solche Faktoren sind u. a.: Alter, Geschlecht, Geschlechtsidentität, ethnische Zugehörigkeit, Rasse, Religion, sexuelle Ausrichtung, Gesundheitszustand, Behinderung, Kommunikationsschwierigkeiten, Beziehung zum oder Abhängigkeit vom Tatverdächtigen oder Angeklagten, frühere Konfrontation mit einer Straftat, Wesen oder Art der Straftat wie Vorurteilskriminalität, organisierte oder terroristische Verbrechen. Bei Terrorismusopfern ist die Begutachtung besonders wichtig, weil die Straftaten sehr unterschiedlich sein können, angefangen von großen Terroranschlägen bis hin zu Attentaten auf Einzelpersonen.

    Artikel 19 – Recht des Opfers auf Vermeidung des Zusammentreffens mit dem Täter

    Dieser Artikel folgt dem Ansatz des Artikels 8 des Rahmenbeschlusses von 2001, insofern er Maßnahmen vorschreibt, um sicherzustellen, dass ein Opfer, das sich als Verfahrensbeteiligter an einem bestimmten Ort einfinden muss, nicht mit dem Tatverdächtigen oder Angeklagten zusammentreffen muss. Das ließe sich beispielsweise durch getrennte Wartezonen oder durch die zeitliche Trennung des Eintreffens von Opfern und Tätern erreichen. Auch bewährte Praktiken und Verhaltensregeln für die zuständigen Beamten können dazu beitragen, solche Zusammentreffen zu vermeiden.

    Artikel 20 – Recht auf Schutz der Opfer während der Vernehmung in strafrechtlichen Ermittlungen

    Dieser Artikel soll eine sekundäre Viktimisierung verhindern, indem sichergestellt wird, dass das Opfer so früh wie möglich vernommen wird und dass dem Opfer die Interaktionen mit den Behörden so leicht wie möglich gemacht werden, wobei unnötige Interaktionen des Opfers mit den Behörden möglichst zu vermeiden sind. Bei der Entscheidung über eine Vernehmung sollten so weit wie möglich die Belange des Opfers wie auch die Dringlichkeit der Beweissicherung berücksichtigt werden. Opfer können in Begleitung einer Vertrauensperson ihrer Wahl erscheinen. Nur in Ausnahmefällen und nur in Bezug auf eine bestimmte Person sollte dieses Recht eingeschränkt werden können. Das Opfer sollte sich dann von einer anderen Person seiner Wahl begleiten lassen können.

    Artikel 21 und 22 – Schutzanspruch schutzbedürftiger Opfer, wie Minderjähriger, während des Strafverfahrens

    Diese Artikel sollen gewährleisten, dass zugunsten von Opfern, bei denen ein Risiko der weiteren Viktimisierung oder Einschüchterung festgestellt wurde, Maßnahmen ergriffen werden, um eine solche Schädigung zu verhindern. Eine entsprechende Hilfe sollte im gesamten Strafverfahren, also ab Einleitung der Ermittlungen, während der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft wie auch während des Verfahrens selbst zur Verfügung stehen. Die Maßnahmen sind je nach Phase des Verfahrens unterschiedlich.

    Bei der Opfervernehmung während der strafrechtlichen Ermittlungen muss ein Mindestmaß an Schutz sichergestellt werden. Die Vernehmungen der Opfer sind mit Einfühlungsvermögen vorzunehmen, was den Beamten in einer geeigneten Schulung zu vermitteln ist. In dieser Schulung sollten die Beamten geeignete Vernehmungsmethoden erlernen, bei denen die jeweilige Situation des Opfers berücksichtigt wird, das Leid der Opfer verringert und die Sicherung von aussagekräftigen Beweisen erleichtert wird. Je nach Schutzbedürftigkeit des Opfers kann es daher notwendig sein, die Vernehmungen in einer geeigneten Umgebung vorzunehmen. Geeignete Räume sind beispielsweise solche, wo Videoaufzeichnungen gemacht werden können oder wo kind‑ oder behindertengerechtes Mobiliar vorhanden ist.

    Für besonders schutzbedürftige Opfer kann eine Vernehmung sehr qualvoll sein, besonders bei einer Straftat sehr persönlicher Art. Ein Vertrauensverhältnis zum befragenden Beamten kann wichtig sein und lässt sich nur allmählich aufbauen. Daher sieht dieser Artikel vor, dass ein schutzbedürftiges Opfer in der Regel immer von der gleichen Person vernommen werden sollte. Ausnahmen dürfen nur im Einklang mit dem Grundsatz der geordneten Rechtspflege gemacht werden, wenn z. B. der gewohnte Gesprächspartner nicht verfügbar ist, weil er eine andere Person dringend vernehmen muss. Aus ähnlichen Gründen sollten Opfer sexueller Gewalt das Recht haben, von einer Person des gleichen Geschlechts vernommen zu werden.

    Der Schutz vor beabsichtigter oder unbeabsichtigter Einschüchterung ist während der Gerichtsverhandlung ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Entscheidung über geeignete Schutzmaßnahmen. Dieser Artikel bestimmt, welche Maßnahmen mindestens zu ergreifen sind, die auch das Leid der Opfer besonders während ihrer Zeugenaussage möglichst mindern sollen. Beispielsweise sind Maßnahmen zur Verhinderung des Blickkontakts zwischen dem Opfer und dem Angeklagten sowie Maßnahmen zum Ausschluss der Öffentlichkeit und der Presse vorgesehen. Im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte des Tatverdächtigen oder Angeklagten wird die Entscheidung über solche Maßnahmen dem Gericht überlassen. Handelt es sich bei dem Opfer aber um einen Minderjährigen, einen Menschen mit Behinderung, ein Opfer sexueller Gewalt oder des Menschenhandels und spricht das individuelle Gutachten dafür, deutet alles auf die Notwendigkeit von Schutzmaßnahmen hin.

    Wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Minderjährigen sollten – auch unter normalen Umständen – zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Nach Artikel 22 können Vernehmungen aufgezeichnet und als Beweis im Gericht verwendet werden. Außerdem sollte eine Justizbehörde einen Vertreter bestellen, wenn der Minderjährige keinen solchen Vertreter hat.

    Artikel 24 – Schulung betroffener Berufsgruppen

    Dieser Artikel soll den Schulungsbedarf für Beamte festlegen, die Kontakt zu den Opfern haben. Die Intensität, Art und Häufigkeit der Schulung und gegebenenfalls einer Fachschulung sollten sich danach bestimmen, wie eng und welcher Art der Kontakt zu den Opfern ist und insbesondere ob sie mit bestimmten Opfergruppen zu tun haben.

    Bei der Schulung sollten Fragen behandelt werden, die es den Beamten erleichtern, Opfer respektvoll zu behandeln, den Schutzbedarf zu ermitteln und die Informationen zu erteilen, die die Opfer in die Lage versetzen, das Verfahren zu verkraften und ihre Rechte wahrzunehmen. Die Schulung sollte ein Bewusstsein für die negativen Auswirkungen der Straftat auf das Opfer schaffen und über das Risiko einer sekundären Viktimisierung aufklären, Fähigkeiten und Wissen vermitteln, darunter über besondere Maßnahmen und Methoden, die den Opfern helfen und das Trauma verringern, insbesondere das einer sekundären Viktimisierung, Erkennen und Verhindern von Einschüchterung, Drohungen und Schädigungen der Opfer, Informationen über Hilfsdienste sowie über eine auf die Bedürfnisse der Opfer zugeschnittene Unterstützung und darüber informieren, wo diese Unterstützung zu finden ist.

    Zudem wird mit diesem Artikel gewährleistet, dass auch Personen angemessen geschult werden, die Opferhilfe leisten oder am Täter-Opfer-Ausgleich mitwirken. Sie sollen lernen, den Opfern respektvoll und unvoreingenommen gegenüberzutreten und eine professionelle Unterstützung zu bieten.

    4.           Subsidiaritätsprinzip

    Das Ziel des Vorschlags lässt sich auf Ebene der Mitgliedstaaten allein nicht hinreichend verwirklichen, da es darum geht, das Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander zu stärken. Es ist daher wichtig, sich auf gemeinsame Mindeststandards zu einigen, die in der gesamten Europäischen Union gelten. Die vorgeschlagene Richtlinie wird die materiellen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Rechte, Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten aneinander angleichen, um auf dieses Weise das Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander zu stärken.

    Zudem hat die Viktimisierung eine wichtige grenzüberschreitende Dimension, da sehr viele EU-Bürger in anderen EU-Staaten leben, arbeiten oder dorthin reisen und im Ausland eine Straftat erleiden. In diesem Fall ist es für die Opfer besonders schwierig, ihre Rechte wahrzunehmen, und die Strafverfahren können besonders belastend sein. Die Bürger sollten sich darauf verlassen können, dass sie überall in der EU einen Grundstock an Rechten genießen.

    Der Vorschlag steht daher mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang.

    5.           Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

    Der Vorschlag entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da er nicht über das Maß hinausgeht, das erforderlich ist, um das erklärte Ziel auf europäischer Ebene zu erreichen.

    2011/0129 (COD)

    Vorschlag für

    RICHTLINIE DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES

    über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe

    DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION −

    gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf

    Artikel 82 Absatz 2,

    auf Vorschlag der Europäischen Kommission,

    nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente,

    nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses,[20]

    nach Stellungnahme des Ausschusses der Regionen,[21]

    gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren,

    in Erwägung nachstehender Gründe:

    (1) Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln; Eckpfeiler dieses Raums ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Strafsachen.

    (2) Die Europäische Union misst dem Schutz von Opfern von Straftaten und der Einführung von Mindeststandards große Bedeutung bei und hat zu diesem Zweck den Rahmenbeschluss 2001/221/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung von Opfern im Strafverfahren erlassen. Im Stockholmer Programm, das der Europäische Rat auf seiner Tagung vom 10./11. Dezember 2009 angenommen hat, wurden die Kommission und die Mitgliedstaaten aufgefordert zu prüfen, wie die Rechtsvorschriften und die praktischen Unterstützungsmaßnahmen für den Opferschutz verbessert werden können.

    (3) In seiner Entschließung vom 26. November 2009 zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen forderte das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, ihre einzelstaatlichen Gesetze und Maßnahmen zur Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen Frauen zu verbessern und Schritte gegen die Ursachen der Gewalt gegen Frauen zu ergreifen, nicht zuletzt mittels vorbeugender Maßnahmen; die Europäische Union wurde aufgefordert, das Recht auf Beistand und Unterstützung für alle Opfer von Gewalt zu gewährleisten.

    (4) Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension vor. Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe c nennt „die Rechte der Opfer von Straftaten“ als einen der Bereiche, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden können.

    (5) Durch eine Straftat wird nicht nur das Opfer in seinen individuellen Rechten verletzt, sondern die Gesellschaft insgesamt. Opfer sollten als solche anerkannt werden und der Umgang mit ihnen in Behörden, Opferhilfsdiensten oder in Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren sollte respektvoll, sensibel und professionell sein, wobei der persönlichen Situation und den unmittelbaren Bedürfnissen des Opfers, seinem Alter, Geschlecht, einer Behinderung und seiner Reife Rechnung zu tragen ist und seine körperliche, geistige und moralische Integrität zu achten sind. Das Opfer sollte vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung und Einschüchterung geschützt werden, die nötige Unterstützung zur Bewältigung der Tatfolgen und ausreichenden Rechtsschutz erhalten.

    (6) Diese Richtlinie soll die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI ändern und ergänzen. Da es sich um sehr zahlreiche und wesentliche Änderungen handelt, sollte der Rahmenbeschluss aus Klarheitsgründen vollständig ersetzt werden.

    (7) Die Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie soll insbesondere das Recht auf Achtung der Würde des Menschen, das Recht auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Eigentum, die Rechte des Kindes, älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung und das Recht auf ein faires Verfahren stärken.

    (8) Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften festgelegt. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte noch weiter stärken, um ein höheres Schutzniveau vorzusehen.

    (9) Eine Person sollte unabhängig davon, ob der Täter ermittelt, gefasst, verfolgt oder verurteilt wurde und ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Täter und der betroffenen Person besteht, als Opfer betrachtet werden. Auch die Familienangehörigen der Opfer erleiden durch die Straftat einen Schaden, vor allem die Hinterbliebenen eines ums Leben gekommenen Opfers, und haben ein berechtigtes Interesse am Strafverfahren. Daher sollten die Schutzmaßnahmen dieser Richtlinie auch diesen indirekten Opfern zugute kommen. Opfer brauchen Hilfe und Beistand, auch bevor sie Anzeige erstattet haben. Eine solche Hilfe kann sowohl für die Bewältigung der Tatfolgen als auch für die Entscheidung, Strafanzeige zu erstatten, ausschlaggebend sein.

    (10) Die Opfer sollten ausreichend informiert werden und eine respektvolle Behandlung erfahren, so dass sie in Kenntnis der Sachlage über ihre Beteiligung am Verfahren und über die Wahrnehmung ihrer Rechte entscheiden können. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterrichtung des Opfers über Stand und Fortgang des Verfahrens. Dies gilt auch für Informationen, die dem Opfer entscheiden helfen, ob es die Überprüfung der Entscheidung, auf eine Strafverfolgung zu verzichten, beantragen soll.

    (11) Die Behörden, Opferhilfsdienste und für den Täter-Opfer-Ausgleich zuständigen Stellen sollten Informationen und Ratschläge auf verschiedenen Kommunikationswegen und auf eine Weise erteilen, die gewährleistet, dass das Opfer die Information versteht. Ebenso sollte sichergestellt werden, dass sich das Opfer im Verfahren verständlich machen kann. Dabei sind die Kenntnisse des Opfers der Sprache, in der Informationen erteilt werden, sein Alter, seine Reife, seine intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten, seine Lese‑ und Schreibfähigkeit und eine etwaige geistige oder körperliche Behinderung wie Seh‑ oder Hörprobleme zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollte auf Kommunikationsschwierigkeiten des Opfers in Strafverfahren Rücksicht genommen werden.

    (12) Dem Recht kann nur dann Geltung verschafft werden, wenn das Opfer die Umstände der Tat genau erklären und eine Aussage machen kann, die die zuständigen Behörden verstehen können. Gleichermaßen wichtig ist der respektvolle Umgang mit dem Opfer und die Gewährleistung, dass dieses seine Rechte wahrnehmen kann. Daher sollten während der Vernehmung des Opfers und für dessen Teilnahme am Gerichtsverfahren stets kostenlose Dolmetschdienste zur Verfügung stehen. In anderen Phasen des Strafverfahrens kann der Bedarf einer Verdolmetschung und Übersetzung von spezifischen Aspekten, dem Status des Opfers und seiner Verfahrensbeteiligung sowie von besonderen Rechten abhängen, die das Opfer genießt. Daher muss in diesen Fällen nur dann für eine Verdolmetschung und Übersetzung gesorgt werden, wenn das Opfer für die Wahrnehmung seiner Rechte darauf angewiesen ist.

    (13) Vom Zeitpunkt der Straftat an, während des Strafverfahrens wie auch nach dem Verfahren sollte dem Opfer die Hilfe von staatlichen oder nichtstaatlichen Organisationen gewährt werden, die es braucht. Hilfe sollte auf verschiedene Art und Weise ohne unnötige Formalitäten geleistet werden und an möglichst vielen Orten zur Verfügung stehen, so dass alle Opfer darauf zurückgreifen können. Bestimmte Opfergruppen wie Opfer sexueller Gewalt, sexistischer oder durch Rassenhass motivierter Straftaten oder anderer Vorurteilskriminalität sowie Terrorismusopfer benötigen gegebenenfalls wegen der besonderen Merkmale des Verbrechens, dem sie zum Opfer gefallen sind, den Beistand spezieller Betreuungsdienste.

    (14) Zwar sollte die Leistung der Opferhilfe nicht davon abhängig sein, ob das Opfer die Straftat bei der zuständigen Behörde, wie der Polizei, angezeigt hat, doch sind diese Behörden oft am besten in der Lage, die Opfer über die Hilfsmöglichkeiten zu informieren. Die Mitgliedstaaten sollten daher die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Opfer an Opferhilfsdienste vermittelt werden, und für den Schutz der Opferdaten sorgen.

    (15) Die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf eine Strafverfolgung sollte von einer anderen Person oder Behörde vorgenommen werden als derjenigen, die die Entscheidung getroffen hatte. Für Regeln oder Verfahren für eine solche Überprüfung sollte innerstaatliches Recht maßgebend sein.

    (16) Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren, darunter die Mediation zwischen Täter und Opfer, Familienkonferenzen und Schlichtungskreise, können für das Opfer sehr hilfreich sein, doch bedarf es Schutzmaßnahmen zur Vermeidung einer weiteren Viktimisierung. Bei solchen Verfahren sollten daher die Interessen und Belange des Opfers in den Mittelpunkt gestellt, eine Schädigung des Opfers wiedergutgemacht und eine weitere Schädigung vermieden werden. Faktoren wie ein ungleiches Kräfteverhältnis sowie Alter, Reife oder geistige Fähigkeiten des Opfers, die seine Fähigkeit zur Entscheidung in Kenntnis der Sachlage begrenzen oder vermindern oder ein für das Opfer positives Ergebnis verhindern könnten, sind bei der Wahl des Täter-Opfer-Ausgleichsverfahrens und im Verfahren selbst in Betracht zu ziehen. Zwar sollten, soweit nicht von den Betroffenen anders vereinbart, private Verfahren im Allgemeinen vertraulich sein, doch könnte es im öffentlichen Interesse erforderlich sein, bestimmte Umstände wie Drohungen, die während des Verfahrens geäußert wurden, bekannt zu machen.

    (17) Bestimmte Opfer laufen in besonderem Maße Gefahr, einer sekundären und wiederholten Viktimisierung und Einschüchterung durch den Täter oder sein Umfeld ausgesetzt zu werden. Die dadurch bedingte besondere Schutzbedürftigkeit kann aufgrund der persönlichen Merkmale des Opfers oder des Wesens oder der Art der Straftat relativ zuverlässig bestimmt werden. Bei bestimmten Opfern wie Kindern, Menschen mit Behinderung, Opfern sexueller Gewalt und Opfern von Menschenhandel ist das Risiko einer weiteren Viktimisierung besonders groß; für sie bedarf es besonderer Schutzmaßnahmen. Nur in Ausnahmefällen, wenn beispielsweise die Grundrechte des Angeklagten oder Tatverdächtigen zu berücksichtigen sind oder wenn das Opfer dies wünscht, sollten solche Schutzmaßnahmen eingeschränkt werden. Rechte von Opfern von Menschenhandel oder sexuellem Missbrauch von Kindern, sexueller Ausbeutung und Kinderpornografie, für die es in anderen bereits verabschiedeten oder in der Verhandlungsphase befindlichen Rechtsakten bereits spezielle oder ausführlichere Regeln gibt, werden nicht in dieser Richtlinie behandelt.

    (18) Neben diesen Opfergruppen kann jede andere Person ebenfalls aufgrund ihrer persönlichen Merkmale und der Straftat besonders schutzbedürftig sein. Eine solche besondere Schutzbedürftigkeit lässt sich nur anhand einer individuellen Begutachtung, die diejenigen, die Schutzmaßnahmen empfehlen können, möglichst frühzeitig vornehmen sollten, wirksam feststellen. Bei der Begutachtung sind Alter, Geschlecht, Geschlechtsidentität, ethnische Zugehörigkeit, Rasse, Religion, sexuelle Ausrichtung, Gesundheitszustand, Behinderungen, Kommunikationsschwierigkeiten, Beziehung zu dem oder Abhängigkeit vom Tatverdächtigen oder Angeklagten, vorherige Konfrontation mit einer Straftat, Wesen oder Art der Straftat wie organisierte Kriminalität, Terrorismus oder Vorurteilskriminalität sowie der Ausländerstatus des Opfers zu berücksichtigen. Bei Terrorismusopfern ist die Begutachtung besonders wichtig, weil die Straftaten sehr unterschiedlich sein können, angefangen von großen Terroranschlägen bis hin zu Attentaten auf Einzelpersonen.

    (19) Opfer, deren besondere Schutzbedürftigkeit festgestellt wurde, sollten während des Strafverfahrens angemessen geschützt werden. Art und Umfang solcher Maßnahmen sollten durch die individuelle Begutachtung, in Gesprächen mit dem Opfer und nach den Bestimmungen über den Ermessensspielraum der Gerichte im Einzelnen festgelegt werden. Die Bedenken und Befürchtungen des Opfers, was das Verfahren anbelangt, sollten bei der Feststellung, ob besondere Maßnahmen für das Opfer erforderlich sind, ausschlaggebend sein.

    (20) Bei der Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie muss das Wohl des Kindes entsprechend der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 eine vorrangige Erwägung sein.

    (21) Bei der Anwendung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderung gemäß der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen, insbesondere den Bestimmungen der Konvention über die gleiche Anerkennung vor dem Recht, den gleichberechtigten Zugang zur Justiz, das Recht auf Zugang zu Informationen und die Zugänglichkeit von Gebäuden sowie über Freiheit von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und von Gewalt und Missbrauch gleichermaßen wie andere in den Genuss aller Rechte dieser Richtlinie kommen.

    (22) Das Risiko einer weiteren Viktimisierung entweder durch den Täter oder infolge der Teilnahme am Strafverfahren sollte vermindert werden, indem während des Verfahrens auf Koordinierung Wert gelegt und dadurch sichergestellt wird, dass die Opfer respektvoll behandelt werden und Vertrauen in die Behörden fassen können. Interaktionen mit den Behörden sollten dem Opfer so leicht wie möglich gemacht werden, unnötige Interaktionen sollten möglichst vermieden werden, indem Gespräche beispielsweise auf Video aufgezeichnet werden, die dann im Gerichtsverfahren verwendet werden können. Den Angehörigen der Rechtsberufe sollte ein möglichst breites Spektrum an Maßnahmen zur Verfügung stehen, um dem Opfer seelische Belastungen im Gerichtsverfahren insbesondere wegen des Sichtkontakts zum Täter, zu seiner Familie, seinem Umfeld oder zum Publikum zu ersparen. Aus diesem Grund werden die Mitgliedstaaten dazu angehalten, gegebenenfalls mittels realisierbarer und praktischer Maßnahmen in den Gerichtsgebäuden getrennte Wartezonen für Opfer einzurichten. Der Schutz der Privatsphäre des Opfers kann ein wichtiges Mittel zur Vermeidung einer weiteren Viktimisierung sein und durch eine Vielfalt von Maßnahmen erreicht werden, unter anderem durch die Zurückhaltung oder nur begrenzte Preisgabe von Informationen zur Identität und zum Aufenthalt des Betroffenen. Ein solcher Schutz, insbesondere die Geheimhaltung des Namens, ist bei minderjährigen Opfern besonders wichtig.

    (23) Muss nach dieser Richtlinie ein Vormund und/oder Vertreter für einen Minderjährigen bestellt werden, kann eine natürliche oder eine juristische Person, sei es eine Einrichtung oder Behörde, diese Funktion(en) übernehmen.

    (24) Beamte, die voraussichtlich im Strafverfahren mit den Opfern in Kontakt kommen, sollten je nach Art ihrer Kontakte zu den Opfern eine einführende Schulung und Weiterbildungen erhalten, damit sie in der Lage sind zu erkennen, was die Opfer benötigen, und entsprechende Maßnahmen ergreifen können. Dies sollte auch eine angemessene Fachausbildung umfassen.

    (25) Die Mitgliedstaaten sollten Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter anerkannte und aktive Nichtregierungsorganisationen, die sich Verbrechensopfern annehmen, fördern und insbesondere bei der Konzipierung strategischer Initiativen, Informations­‑ und Sensibilisierungskampagnen, Forschungs‑ und Ausbildungsprogrammen und Schulungsmaßnahmen sowie bei der Überwachung und Bewertung der Folgen von Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz von Verbrechensopfern eng mit ihnen zusammenarbeiten.

    (26) Da das Ziel der Festlegung gemeinsamer Mindeststandards durch einseitige Maßnahmen der Mitgliedstaaten weder auf nationaler noch auf regionaler oder lokaler Ebene hinreichend verwirklicht werden kann, sondern in Anbetracht ihrer Bedeutung und der möglichen Auswirkungen nur auf Unionsebene zu erreichen ist, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Richtlinie nicht über das für die Erreichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.

    (27) Die bei der Durchführung dieser Richtlinie zu verarbeitenden personenbezogenen Daten sollten gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/977/JI[22] des Rates vom 27. November 2008 über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden, und gemäß den Grundsätzen des Übereinkommens des Europarates vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten, das alle Mitgliedstaaten ratifiziert haben, geschützt werden.

    (28) Diese Richtlinie lässt die Bestimmungen anderer über sie hinausgehender EU-Rechtsakte unberührt, die gezielt die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Opfer behandeln.

    (29) [Gemäß den Artikeln 1, 2, 3 und 4 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben das Vereinigte Königreich und Irland mitgeteilt, dass sie sich an der Annahme und Anwendung dieser Richtlinie beteiligen möchten] ODER [Unbeschadet des Artikels 4 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beteiligen sich das Vereinigte Königreich und Irland nicht an der Annahme dieser Richtlinie, die daher für das Vereinigte Königreich und Irland weder bindend noch ihnen gegenüber anwendbar ist].[23]

    (30) Gemäß den Artikeln 1 und 2 des dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union beigefügten Protokolls über die Position Dänemarks beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme dieser Richtlinie, die daher für Dänemark weder bindend noch Dänemark gegenüber anwendbar ist –

    HABEN FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

    Kapitel 1

    EINFÜHRUNGSBESTIMMUNGEN

    Artikel 1 Ziele

    Ziel dieser Richtlinie ist es sicherzustellen, dass alle Opfer von Straftaten einen angemessenen Schutz und Hilfe erhalten, sich am Strafverfahren beteiligen können, anerkannt werden und eine respektvolle, einfühlsame und professionelle Behandlung erfahren, und dass jegliche Diskriminierung bei Kontakten mit öffentlichen Behörden, Stellen der Opferhilfe und des Täter-Opfer-Ausgleichs ausgeschlossen ist.

    Artikel 2 Begriffsbestimmungen

    Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

    a)           „Opfer“ sind

    i)       natürliche Personen, die eine Schädigung, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge einer Straftat erlitten haben;

    ii)       die Familienangehörigen einer Person, die infolge einer Straftat ums Leben gekommen ist;

    b)           „Familienangehörige“ sind der Ehepartner, Lebensgefährte, registrierte Partner, Angehörige in direkter Linie, Geschwister und Unterhaltsberechtigte des Opfers;

    c)           „Lebensgefährte“ ist eine Person, die dauerhaft in einer stabilen Lebensgemeinschaft mit dem Opfer zusammenlebt, wobei diese Lebensgemeinschaft nicht bei einer Behörde eingetragen ist;

    d)           „eingetragener Partner“ ist die Person, mit der das Opfer nach dem Recht eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist;

    e)           „Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren“ sind Verfahren, bei denen das Opfer und der Täter zusammengebracht werden, damit sie untereinander eine freiwillige Vereinbarung über die Wiedergutmachung des durch die Straftat verursachten Schadens treffen können;

    f)            „Minderjähriger“ ist eine Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat;

    g)           ein „Mensch mit Behinderung“ ist eine Person, die eine körperliche, seelische, geistige Beeinträchtigung oder Sinnesbeeinträchtigung hat, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern kann.

    Kapitel 2

    INFORMATION UND HILFE

    Artikel 3 Recht auf Information bei der ersten Kontaktaufnahme mit einer zuständigen Behörde

    Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Opfer bei der ersten Kontaktaufnahme mit der für die Anzeige einer Straftat zuständigen Behörde ohne unnötige Verzögerung folgende Informationen erhalten:

    a)           Ort, an dem Strafanzeige erstattet werden kann, und Anzeigeverfahren,

    b)           Angaben zu den Diensten oder Organisationen, an die sich das Opfer wenden kann, um Hilfe zu erhalten,

    c)           Art der Hilfe, die das Opfer erhalten kann,

    d)           weiterer Verfahrensgang nach Anzeige der Straftat und Rolle des Opfers im Verfahren,

    e)           Information darüber, wie und unter welchen Voraussetzungen das Opfer Schutz erhalten kann,

    f)            Information darüber, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen das Opfer Rechtsbeistand, Prozesskostenhilfe oder sonstigen Beistand erhalten kann,

    g)           Information darüber, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen das Opfer eine Entschädigung erhalten kann, sowie Information über die Antragsfristen,

    h)           besondere Vorkehrungen, die zum Schutz der Interessen des Opfers getroffen werden können, falls das Opfer in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft ist,

    i)            Beschwerdeverfahren für den Fall, dass die Rechte des Opfers verletzt worden sind,

    j)            Kontaktangaben für den Fall betreffende Mitteilungen.

    Artikel 4 Recht der Opfer auf Informationen zu ihrem Fall

    1. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Opfer über ihr Recht, folgende Informationen zu ihrem Fall zu erhalten, aufgeklärt werden und dass sie diese Informationen auf Wunsch tatsächlich erhalten:

    a)      Mitteilung jeder begründeten Entscheidung, mit der ein Strafverfahren, das infolge der Strafanzeige durch das Opfer eingeleitet wurde, beendet wird, wie eine Entscheidung über den Verzicht auf Ermittlungen oder Strafverfolgung oder über deren Einstellung, oder eine rechtskräftige Entscheidung in einem Prozess einschließlich über das Strafmaß;

    b)      Mitteilung von Angaben, die es dem Opfer ermöglichen, sich über den Fortgang des auf ihre Strafanzeige hin eingeleiteten Strafverfahrens zu informieren, außer in Ausnahmefällen, wenn dies der ordentlichen Verhandlung der Sache schaden könnte;

    c)      Mitteilung des Zeitpunkts und des Orts der Hauptverhandlung.

    2. Die Mitgliedstaaten räumen den Opfern die Möglichkeit ein, sich von der Freilassung der wegen der Straftat gegen sie strafrechtlich verfolgten oder verurteilten Person in Kenntnis setzen zu lassen. Die Opfer werden in Kenntnis gesetzt, sofern sie einen entsprechenden Wunsch geäußert haben.

    3. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer die in den Absätzen 1 und 2 genannten Informationen nicht erhalten, wenn sie den entsprechenden Wunsch geäußert haben.

    Artikel 5 Recht, zu verstehen und verstanden zu werden

    Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Opfer bei ihren Kontakten mit öffentlichen Behörden im Zusammenhang mit einem Strafverfahren die Informationen, darunter die von den Behörden erteilten Informationen, verstehen können und verstanden werden können.

    Artikel 6 Recht auf Verdolmetschung und Übersetzung

    1. Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Opfer, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen oder sprechen, in Gesprächen oder Opfervernehmungen durch Ermittlungs‑ und gerichtliche Behörden, einschließlich bei polizeilichen Vernehmungen, im Rahmen des Strafverfahrens auf Wunsch kostenfrei eine Verdolmetschung für ihre Teilnahme am Gerichtsverfahren in Anspruch nehmen können; eine Verdolmetschung wird auch in allen Gerichtsverhandlungen und notwendigen Zwischenanhörungen zur Verfügung gestellt.

    2. Damit Opfer im Strafverfahren ihre Rechte wahrnehmen können, stellen die Mitgliedstaaten auch in allen anderen Fällen sicher, dass je nach Bedarf und der Rolle des Opfers im Verfahren auf seinen Antrag eine kostenfreie Verdolmetschung zur Verfügung steht.

    3. Gegebenenfalls können Kommunikationstechnologien wie Videokonferenzen, Telefon oder Internet verwendet werden, es sei denn, ein Dolmetscher wird vor Ort benötigt, damit das Opfer seine Rechte umfassend wahrnehmen oder das Verfahren verstehen kann.

    4. Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer, das die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht versteht oder spricht, auf Wunsch kostenfrei Übersetzungen der folgenden Informationen erhält, wenn diese Informationen dem Opfer zur Verfügung gestellt werden:

    a)      der Anzeige der Straftat bei der zuständigen Behörde,

    b)      der Entscheidung, mit der ein Strafverfahren beendet wird, das aufgrund einer durch das Opfer angezeigten Straftat eingeleitet wurde, einschließlich zumindest einer zusammenfassenden Begründung der Entscheidung,

    c)      der wesentlichen Informationen, die es den Opfern je nach ihrem Bedarf und ihrer Rolle im Verfahren ermöglichen, ihre Rechte wahrzunehmen.

    5. Die Mitgliedstaaten sorgen für ein Verfahren oder einen Mechanismus, mit dem festgestellt werden kann, ob das Opfer die Sprache des Strafverfahrens versteht und spricht und ob es auf eine Übersetzung und den Beistand eines Dolmetschers angewiesen ist.

    6. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Opfer nach innerstaatlichen Verfahren eine Entscheidung anfechten können, mit der die Verdolmetschung oder Übersetzung für unnötig befunden wurde, und dass sie, wenn ihnen solche Dienste zur Verfügung gestellt wurden, die Möglichkeit haben, die Verdolmetschung zu beanstanden, wenn deren mangelnde Qualität die Wahrnehmung ihrer Rechte und die Verfolgung des Verfahrens verhindert.

    Artikel 7 Recht auf Opferhilfe

    1. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Opfer und ihre Familienangehörigen ihrem Bedarf entsprechend kostenfrei Zugang zu Opferhilfsdiensten erhalten, die dem Grundsatz der Vertraulichkeit verpflichtet sind.

    2. Es werden mindestens folgende Dienste zur Verfügung gestellt:

    a)      Information und Beratung über die Opferrechte, unter anderem über staatliche Entschädigungsregelungen für Opfer von Straftaten, sowie über die Rolle des Opfers im Strafverfahren, einschließlich der Vorbereitung auf den Prozess, und Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte;

    b)      Information über spezialisierte Hilfsdienste oder gegebenenfalls Vermittlung solcher Dienste;

    c)      emotionale und psychische Unterstützung;

    d)      Beratung zu finanziellen und praktischen Fragen im Zusammenhang mit einer Straftat.

    3. Die Mitgliedstaaten helfen den Behörden, bei denen eine Straftat angezeigt wurde, und anderen Behörden bei der Vermittlung von Opferhilfsdiensten.

    4. Die Mitgliedstaaten fördern neben allgemeinen Opferhilfsdiensten die Einrichtung oder den Ausbau spezialisierter Hilfsdienste.

    Kapitel 3

    TEILNAHME AM STRAFVERFAHREN

    Artikel 8 Recht der Opfer auf Anzeigebestätigung

    Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Opfer eine schriftliche Bestätigung ihrer Anzeige erhalten, die sie bei einer zuständigen Behörde des Mitgliedstaats erstattet haben.

    Artikel 9 Anspruch auf rechtliches Gehör

    Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer in den Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können.

    Artikel 10 Rechte bei Verzicht auf Strafverfolgung

    1. Die Mitgliedstaaten garantieren dem Opfer das Recht, eine Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung überprüfen zu lassen.

    2. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Opfer die nötigen Informationen erhalten, um entscheiden zu können, ob sie die Überprüfung einer Entscheidung über den Verzicht auf Strafverfolgung beantragen sollen.

    Artikel 11 Recht auf Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit Mediations‑ und anderen Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren

    1. Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften über den Schutz der Opfer vor Einschüchterung und weiterer Viktimisierung, die für die Mediation und den Täter-Opfer-Ausgleich gelten. Die Vorschriften sollten zumindest Folgendes beinhalten:

    a)      Mediations‑ oder Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren kommen nur zur Anwendung, wenn dies im Interesse des Opfers ist, und nur auf der Grundlage der freien und auf Kenntnis der Sachlage begründeten Einwilligung des Betroffenen; die Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden.

    b)      Vor Erklärung seiner Bereitschaft zur Teilnahme an dem Verfahren wird das Opfer umfassend und unparteiisch über das Ausgleichsverfahren und den möglichen Ausgang des Verfahrens sowie über die Verfahren zur Überwachung der Befolgung der Vereinbarung informiert.

    c)      Der Tatverdächtige, Angeklagte oder Täter muss die Verantwortung für seine Tat anerkannt haben.

    d)      Eine Vereinbarung muss freiwillig sein und sollte in weiteren Strafverfahren berücksichtigt werden.

    e)      Nicht öffentlich geführte Gespräche im Rahmen der Mediation oder des Täter-Opfer-Ausgleichsverfahrens sind vertraulich und dürfen auch später nicht veröffentlicht werden, es sei denn, die Betroffenen stimmen der Veröffentlichung zu oder sie ist wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses nach innerstaatlichem Recht erforderlich.

    2. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Mediation beziehungsweise den Täter-Opfer-Ausgleich, indem sie unter anderem Protokolle über die Voraussetzungen für die Einleitung eines solchen Verfahrens festlegen.

    Artikel 12 Anspruch auf Prozesskostenhilfe

    Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer nach innerstaatlichen Verfahren gegebenenfalls Prozesskostenhilfe erhalten, wenn sie als Parteien im Strafverfahren auftreten.

    Artikel 13 Anspruch auf Kostenerstattung

    Die Mitgliedstaaten bieten Opfern, die am Strafverfahren teilnehmen, nach den innerstaatlichen Verfahren die Möglichkeit, sich Ausgaben, die ihnen aufgrund ihrer Teilnahme am Strafverfahren entstanden sind, erstatten zu lassen, auch wenn sie dem Prozess lediglich beiwohnen.

    Artikel 14 Recht auf Rückgabe von Eigentum

    Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Rahmen des Strafverfahrens sichergestelltes Eigentum des Opfers, das für eine Rückgabe in Frage kommt, diesem unverzüglich zurückgegeben wird, es sei denn, das Eigentum wird für das Strafverfahren benötigt.

    Artikel 15 Recht auf Entscheidung über Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens

    1. Die Mitgliedstaaten gewähren Opfern einer Straftat das Recht, im Rahmen des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter zu erwirken.

    Unterabsatz 1 kommt nicht zur Anwendung, wenn das innerstaatliche Recht die Wiedergutmachung oder Entschädigung anders regelt.

    2. Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, um die Bemühungen um eine angemessene Entschädigung der Opfer durch die Täter zu begünstigen.

    Artikel 16 Rechte der Opfer mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat

    1. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass ihre zuständigen Behörden imstande sind, die geeigneten Maßnahmen zu treffen, damit so wenig Schwierigkeiten wie möglich auftreten, wenn das Opfer seinen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat hat, in dem die Straftat begangen wurde, insbesondere beim Ablauf des Verfahrens. Dazu müssen die Behörden des Mitgliedstaats, in dem die Straftat begangen wurde, insbesondere in der Lage sein,

    – die Aussage des Opfers unmittelbar nach der Anzeige der Straftat bei der zuständigen Behörde aufzunehmen;

    – bei der Vernehmung von Opfern mit Wohnsitz im Ausland möglichst umfassend von den Bestimmungen des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000 über die Rechtshilfe in Strafsachen über Video- und Telefonkonferenzen Gebrauch zu machen.

    2. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Wohnsitzstaat Opfer einer Straftat wurden, Anzeige bei den Behörden ihres Wohnsitz-Mitgliedstaats erstatten können, wenn sie in dem Mitgliedstaat, in dem die Straftat verübt wurde, dazu nicht in der Lage sind, oder im Falle einer nach innerstaatlichen Recht als schwer eingestuften Straftat, wenn sie das wünschen.

    3. Unbeschadet der Zuständigkeit des Mitgliedstaats, in dem die Straftat angezeigt wurde, übermittelt die zuständige Behörde, bei der Anzeige erstattet wurde, die Anzeige unverzüglich der zuständigen Behörde im Hoheitsgebiet des Staates, in dem die Straftat verübt wurde.

    Kapitel 4

    ANERKENNUNG DER BESONDEREN SCHUTZBEDÜRFTIGKEIT UND SCHUTZ DER OPFER

    Artikel 17 Schutzanspruch

    1. Die Mitgliedstaaten sorgen für Maßnahmen zum Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vor Vergeltungsmaßnahmen, Einschüchterung, wiederholter oder weiterer Viktimisierung.

    2. Die Maßnahmen gemäß Absatz 1 umfassen insbesondere Verfahren für den physischen Schutz der Opfer und Familienangehörigen, Maßnahmen zur Verhinderung des Zusammentreffens von Straftätern und Opfern in den Gebäuden, in denen das Strafverfahren verhandelt wird, Maßnahmen zur Minimierung des Risikos einer psychischen oder emotionalen Schädigung der Opfer bei der Vernehmung oder bei Zeugenaussagen sowie Maßnahmen zur Garantie ihrer Sicherheit und zum Schutz ihrer Würde.

    Artikel 18 Feststellung der besonderen Schutzbedürftigkeit

    1. Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Opfergruppen wegen ihrer persönlichen Merkmale als besonders schutzbedürftig:

    a)      Minderjährige

    b)      Menschen mit Behinderung.

    2. Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Opfergruppen aufgrund des Wesens oder der Art der erlittenen Straftat als besonders schutzbedürftig:

    a)      Opfer sexueller Gewalt

    b)      Opfer von Menschenhandel.

    3. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass sämtliche Opfer nach Maßgabe der innerstaatlichen Verfahren frühzeitig einer individuellen Begutachtung unterzogen werden, damit festgestellt werden kann, ob sie aufgrund persönlicher Merkmale oder aufgrund der Umstände, Art oder des Wesens der Straftat vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung oder Einschüchterung besonders geschützt werden müssen.

    4. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass sämtliche Opfer, die gemäß den Absätzen 1, 2 und 3 als besonders schutzbedürftig eingestuft wurden, nach Maßgabe der innerstaatlichen Verfahren frühzeitig einer individuellen Begutachtung unterzogen werden, damit festgestellt werden kann, welche besonderen Maßnahmen gemäß Artikel 21 und 22 zu ihren Gunsten zu ergreifen sind. Bei einer solchen Begutachtung sind die Wünsche des schutzbedürftigen Opfers zu beachten, auch der Wunsch auf den Verzicht auf besondere Maßnahmen.

    5. Die Begutachtung kann je nach Schwere der Tat und Ausmaß der erkennbaren Schädigung des Opfers mehr oder weniger umfassend sein.

    Artikel 19 Recht des Opfers auf Vermeidung des Zusammentreffens mit dem Täter

    Die Mitgliedstaaten schaffen nach und nach die Voraussetzungen dafür, dass in Gebäuden, in denen Personen, weil sie Opfer einer Straftat geworden sind, persönlichen Kontakt zu Behörden haben könnten, insbesondere in Gebäuden, in denen das Strafverfahren verhandelt wird, das Zusammentreffen der Opfer mit den Tatverdächtigen oder Angeklagten verhindert wird.

    Artikel 20 Recht auf Schutz der Opfer während der Vernehmung in strafrechtlichen Ermittlungen

    Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass

    a)      die Opfer nach der Anzeige der Straftat bei der zuständigen Behörde ohne ungerechtfertigte Verzögerung vernommen werden;

    b)      sich die Vernehmungen der Opfer auf ein Mindestmaß beschränken und nur dann vorgenommen werden, wenn sie für die Zwecke des Strafverfahrens unabdingbar sind;

    c)      Opfer gegebenenfalls von ihren rechtlichen Vertretern oder einer Person ihrer Wahl begleitet werden können, es sei denn, dass in Bezug auf diese Person eine begründete gegenteilige Entscheidung getroffen wurde.

    Artikel 21 Schutzanspruch schutzbedürftiger Opfer während des Strafverfahrens

    1. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zugunsten von schutzbedürftigen Opfern im Sinne des Artikels 18 auf der Grundlage einer individuellen Begutachtung gemäß Artikel 18 Absatz 4 und im Einklang mit dem jeweiligen Ermessensspielraum der Gerichte die in den Absätzen 2 und 3 vorgesehenen Maßnahmen ergriffen werden.

    2. Schutzbedürftigen Opfern stehen während der strafrechtlichen Ermittlungen folgende Maßnahmen zur Verfügung:

    a)      Das Opfer wird in Räumlichkeiten vernommen, die für diesen Zweck ausgelegt sind oder für diesen Zweck verändert wurden.

    b)      Die Vernehmung des Opfers wird von speziell für diesen Zweck ausgebildeten Fachkräften oder unter deren Mitwirkung durchgeführt.

    c)      Sämtliche Vernehmungen des Opfers werden von denselben Personen durchgeführt, es sie denn, dies ist nicht im Sinne einer geordneten Rechtspflege.

    d)      Opfer sexueller Gewalt werden von einer Person des gleichen Geschlechts vernommen.

    3. Schutzbedürftigen Opfern stehen während der Gerichtsverhandlung folgende Maßnahmen zur Verfügung:

    a)      Maßnahmen zur Verhinderung des Blickkontakts zwischen Opfern und Angeklagten - auch während der Aussage der Opfer - mit Hilfe geeigneter Mittel, unter anderem durch die Verwendung von Kommunikationstechnologien;

    b)      Maßnahmen zur Gewährleistung, dass das Opfer mit Hilfe geeigneter Kommunikationstechnologien verhört werden kann, ohne im Gerichtssaal anwesend zu sein;

    c)      Maßnahmen zur Vermeidung einer unnötigen Vernehmung zum Privatleben des Opfers, wenn dies nicht im Zusammenhang mit der Straftat steht, sowie

    d)      Maßnahmen zur Ermöglichung des Ausschlusses der Öffentlichkeit während der Verhandlung.

    Artikel 22 Schutzanspruch minderjähriger Opfer während des Strafverfahrens

    Wenn es sich bei dem Opfer um einen Minderjährigen handelt, sorgen die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den in Artikel 21 vorgesehenen Maßnahmen dafür, dass

    a)           sämtliche Vernehmungen des Opfers in strafrechtlichen Ermittlungen auf Video aufgezeichnet werden können und die Videoaufzeichnung nach innerstaatlichem Recht als Beweismittel in der Gerichtsverhandlung verwendet werden kann;

    b)           die Justizbehörden bei strafrechtlichen Ermittlungen und in Strafverfahren für das Opfer einen Vertreter bestellen, wenn die Träger der elterlichen Verantwortung den Minderjährigen aufgrund eines Interessenkonflikts zwischen ihnen und dem Opfer nicht in Strafverfahren vertreten dürfen oder wenn es sich um einen unbegleiteten oder von seiner Familie getrennten Minderjährigen handelt.

    Artikel 23 Recht auf Schutz der Privatsphäre

    1. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Justizbehörden während der Gerichtsverhandlung geeignete Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre und des Rechts der Opfer am eigenen Bild und ihrer Familienangehörigen treffen können.

    2. Die Mitgliedstaaten fördern Selbstkontrollmaßnahmen der Presse zum Schutz der Privatsphäre, der persönlichen Integrität und der personenbezogenen Daten der Opfer.

    Kapitel 6

    ALLGEMEINE BESTIMMUNGEN

    Artikel 24 Schulung der betroffenen Berufsgruppen

    1. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass das Personal der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Gerichte eine für ihren Kontakt mit den Opfern angemessene allgemeine wie auch spezielle Schulung erhält, um sie für die Bedürfnisse der Opfer zu sensibilisieren und sie in einem respektvollen, unvoreingenommenen und professionellen Umgang mit den Opfern zu schulen.

    2. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass den Justizbediensteten eine allgemeine wie auch spezielle Schulung zur Verfügung steht, um sie für die Bedürfnisse der Opfer zu sensibilisieren und sie in einem respektvollen, unvoreingenommenen und professionellen Umgang mit den Opfern zu schulen.

    3. Die Mitgliedstaaten ergreifen Maßnahmen um zu gewährleisten, dass Personen, die Opferhilfe leisten oder am Täter-Opfer-Ausgleich mitwirken, eine ihrem Kontakt mit den Opfern angemessene Schulung erhalten und die beruflichen Verhaltensregeln beachten, mit denen sichergestellt wird, dass sie ihre Tätigkeit unvoreingenommen, respektvoll und professionell ausführen.

    4. Je nach den jeweiligen Aufgaben, der Art und Intensität des Kontakts mit den Opfern umfasst die Schulung zumindest Aspekte wie die Folgen der Straftat für die Opfer, das Risiko der Einschüchterung, der wiederholten und sekundären Viktimisierung und die Möglichkeiten zu deren Vermeidung sowie Informationen über die Opferhilfe und deren Bedeutung.

    Artikel 25 Zusammenarbeit und Koordinierung von Diensten

    1. Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um die Rechte und Interessen der Opfer im Strafverfahren wirksamer zu schützen, unabhängig davon, ob in mit dem Justizsystem unmittelbar verbundenen Netzen oder über Verbindungen zwischen Opferhilfe-Organisationen, einschließlich durch die Unterstützung europäischer Opferhilfe-Netze.

    2. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Behörden, die mit Opfern zu tun haben oder Opferhilfe leisten, zusammenarbeiten, um die Opferschutzmaßnahmen zu koordinieren und die negativen Auswirkungen der Straftat, das Risiko einer sekundären und wiederholten Viktimisierung und die auf die Kontakte zwischen Opfern und Strafjustizbehörden zurückzuführende Belastung der Opfer zu minimieren.

    Kapitel 7

    SCHLUSSBESTIMMUNGEN

    Artikel 26 Umsetzung

    1. Die Mitgliedstaaten erlassen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie spätestens am [zwei Jahre nach dem Tag der Annahme] nachzukommen.

    2. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut der wichtigsten innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit, die sie auf dem unter diese Richtlinie fallenden Gebiet erlassen, und fügen eine Tabelle der Entsprechungen zwischen der Richtlinie und diesen innerstaatlichen Rechtsvorschriften bei.

    3. Bei Erlass dieser Vorschriften nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme.

    Artikel 27 Bereitstellung von Daten und Statistiken

    Die Mitgliedstaaten übermitteln der Europäischen Kommission spätestens am [zwei Jahre nach dem Tag der Annahme] Daten über die Anwendung der innerstaatlichen Verfahren für den Schutz von Opfern von Straftaten.

    Artikel 28 Ersetzung

    Der Rahmenbeschluss 2001/220/JI wird in Bezug auf die Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme dieser Richtlinie beteiligen, unbeschadet der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit den Fristen für die Umsetzung in innerstaatliches Recht durch diese Richtlinie ersetzt.

    In Bezug auf die Mitgliedstaaten, die sich an der Annahme dieser Richtlinie beteiligen, gelten Verweise auf den Rahmenbeschluss als Verweise auf diese Richtlinie.

    Artikel 29 Inkrafttreten

    Diese Richtlinie tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

    Artikel 30 Adressaten

    Diese Richtlinie ist gemäß den Verträgen an die Mitgliedstaaten gerichtet.

    Geschehen zu

    Im Namen des Europäischen Parlaments     Im Namen des Rates

    Der Präsident                                                Der Präsident

    [1]               ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1; KOM(2010) 171.

    [2]               KOM(2010) 623.

    [3]               2969. Tagung des Rates „Justiz und Inneres“ vom 23.10.2009, 14936/09 (Presse 306).

    [4]               Bericht über die Unionsbürgerschaft 2010 – Weniger Hindernisse für die Ausübung von Unionsbürgerrechten; KOM(2010) 603.

    [5]               Empfehlung des Europäischen Parlaments vom 7. Mai 2009 zur Entwicklung eines Raums der Strafgerichtsbarkeit in der EU (INI/2009/2012).

    [6]               P_TA(2009)0098.

    [7]               ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1.

    [8]               ABl. L […].

    [9]               ABl. L 164 vom 22.6.2002, S. 3.

    [10]             ABl. L 330 vom 9.12.2008, S. 21-23.

    [11]             Richtlinie 2011/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates.

    [12]             Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI.

    [13]             Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: „Eine EU-Agenda für die Rechte des Kindes“ (KOM(2011) 60 vom 15.2.2011).

    [14]             Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. L 261 vom 6.8.2004, S. 15).

    [15]             Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen. Strategie für die Gleichstellung von Frauen und Männern 2010-2015 (KOM(2010) 491).

    [16]             Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung in der geänderten Fassung des Rahmenbeschlusses 2008/919/JI des Rates vom 28. November 2008 (ABl. L 330 vom 9.12.2008, S. 21-23).

    [17]             Hess Burkhard, „Feasibility Study: The European Protection Order and the European Law of Civil Procedure“. Die Studie wird demnächst veröffentlicht auf http://ec.europa.eu/justice/index_en.htm.

    [18]             APAV/Victim Support Europe, das Projekt „Victims in Europe“, 2009 („APAV-Bericht“).

    [19]             Siehe z. B. APAV-Bericht, „The Implementation of the EU Framework Decision on the standing of victims in the criminal proceedings in the Member States of the European Union“, Lissabon 2009; Bulgarisches Zentrum für Demokratiestudien, ONE-Projekt: „Member States' legislation, national policies, practices and approaches concerning the victims of crime“, Sofia 2009.

    [20]             ABl. C […] vom […], S. […].

    [21]             ABl. C […] vom […], S. […].

    [22]             ABl. L 350 vom 30.12.2008, S. 60.

    [23]             Der endgültige Wortlaut dieses Erwägungsgrunds der Richtlinie hängt davon ab, welche Position das Vereinigte Königreich und Irland entsprechend den Bestimmungen des Protokolls (Nr. 21) letztendlich einnehmen.

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