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Document 52011AE0995

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung — Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

ABl. C 248 vom 25.8.2011, p. 8–15 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

25.8.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 248/8


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung — Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des ungarischen Ratsvorsitzes)

2011/C 248/02

Berichterstatter: Gérard DANTIN

Am 15. November 2010 hat der Ständige Vertreter der Republik Ungarn bei der Europäischen Union, Peter GYÖRKÖS, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss im Namen des künftigen ungarischen Ratsvorsitzes um eine Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema ersucht:

Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung — Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 31. Mai 2011 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 472. Plenartagung am 15./16. Juni 2011 (Sitzung vom 15. Juni) mit 164 gegen 2 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1   Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 einsetzte und sich 2008 verschärfte, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Staatsfinanzen der europäischen Länder und beeinträchtigte insbesondere deren Haushaltslage.

1.2   Die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte von den Kosten zu entlasten, die insgesamt durch die verschiedenen Konjunkturmaßnahmen, die Stützung der Banken - wie dies in einigen Mitgliedstaaten der Fall war - und durch einen nur unzureichend durch die Wirtschaftspolitik vor der Krise berücksichtigten Konjunkturrückgang entstanden sind, führt jetzt in zahlreichen Mitgliedstaaten dazu, dass die öffentlichen Ausgaben reduziert werden. Diese Option birgt die Gefahr, dass die Mitgliedstaaten sich aus ihrem Engagement zurückziehen und der Umverteilungseffekt im Rahmen der Solidarsysteme, sei es in Form der Sozialschutzsysteme oder öffentlicher Dienstleistungen geringer ausfällt.

1.3   Diese Form der raschen Wiederherstellung eines ausgeglichenen Haushalts birgt - neben den beträchtlichen sozialen Kosten, die sie verursacht - die Gefahr, dass es auf lange Sicht nur ein schleppendes Wirtschaftswachstum geben wird. Die Gründe hierfür sind insbesondere in einer Dämpfung der Nachfrage zu sehen, die das Haushaltsdefizit wiederum weiter verschärft und einen erneuten Rückgang der Nachfrage nach sich zieht. Auf diese Weise wird im Schneeballsystem eine Abwärtsspirale erzeugt, die die europäische Wirtschaft in einen Teufelskreis führen kann.

1.3.1   Eine intelligente Haushaltspolitik muss diese Abwärtsspirale durchbrechen.

1.4   Das „Intelligente“ einer Haushaltssanierung zeigt sich in einem „intelligenten“ Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen sowie zwischen Angebot und Nachfrage. Nachhaltiges Wachstum muss das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik sowie aller anderen Politikbereiche sein.

1.4.1   Nachhaltiges Wachstum muss eines der prioritären Ziele der EU sein.

1.5   Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es folgender Maßnahmen:

1.5.1

Eine anspruchsvollere und umfassende Regelung der Finanzmärkte muss eingeführt werden, um der Spekulation Einhalt zu gebieten. Ohne eine solche Regelung würden die Spekulationen fortdauern und alle Bemühungen um eine „intelligente Haushaltskonsolidierung“ zunichte gemacht.

1.5.2

Eine wachstumsfreundliche Haushaltspolitik:

Einführung einer europäischen Anleihe zur Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch Mobilisierung von Sparguthaben;

Schaffung von Euro-Bonds insbesondere zur Reduzierung der Kosten für die Refinanzierung der in Schwierigkeiten geratenen Länder der Euro-Zone;

Möglichst flexible Gestaltung des Konsolidierungszeitraums, da durch einen „Urknall“ die Wachstumsaussichten aufs Spiel gesetzt würden.

1.5.3

Eine wachstumsfreundliche Steuerpolitik:

Anstreben einer stärkeren Koordinierung der Steuerpolitik der Mitgliedstaaten in Einklang mit den EU-Verträgen;

Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Steuerbetrug durch optimale Nutzung von Eurofisc;

Verlagerung der Steuerlast durch neue Einkommensquellen wie etwa Steuern auf Finanztransaktionen, Energiesteuer, Abgaben auf Finanzinstitute, auf CO2-Emissionen - denkbar ist eine Umorganisierung des Marktes für Emissionszertifikate.

1.5.4

Es sollten Steuern eingeführt werden, mit denen die durch das Verhalten des Finanzsektors erzeugten externen Kosten insofern internalisiert werden, als sie dazu beitragen, im Prozess der Entwicklung und Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes gerechtere Bedingungen zu schaffen;

1.5.4.1

Die Europäische Kommission plant in Übereinstimmung mit dem Ausschuss zur Bestimmung der potenziellen Struktur und der Durchführungsmodalitäten für diese Besteuerung die Durchführung einer Folgenabschätzung. Entscheidungen über eine solche Besteuerung sollten auf jeden Fall nicht ohne Kenntnis der Ergebnisse dieser Studie getroffen werden.

1.5.5

Das Wachstum von morgen schaffen:

Umsetzung der 2020-Strategie, deren Ziel vor allem die Entwicklung eines nachhaltigen und integrativen Wachstums ist und durch die auf der Grundlage verstärkter Koordinierung der Wirtschaftspolitiken die maßgeblichen Wachstumshemmnisse angegangen werden - einschließlich der Probleme, die das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen;

Festlegung und Umsetzung einer ehrgeizigen und wirksamen Industriepolitik, die in erster Linie auf Branchen mit hoher Wertschöpfung, Hochtechnologiebranchen und Branchen mit hohem Wachstumspotenzial sowohl im Bereich Industrie als auch im Bereich Dienstleistung abzielt;

Schaffung eines echten europäischen „Small Business Act“;

Zugrundelegung des „magischen Dreiecks“ aus Bildung, Forschung und Innovation als Basis für Wachstum. Hierzu sind folgende Maßnahmen notwendig:

die Investitionen in Bildung sowie Forschung und Entwicklung müssen ungeachtet der Haushaltszwänge fortgesetzt und intensiviert werden, da andernfalls ein Absinken des Wohlstands in der EU unausweichlich die Folge sein wird;

es muss darauf geachtet werden, dass Ausbildung und Qualifikationen und die entsprechende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt miteinander in Einklang gebracht werden;

das Steuerrecht muss angepasst werden, um der Industrie Anreize zu mehr Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation zu geben;

die Arbeit und Kooperation von Forschern und Innovatoren in der gesamten EU muss erleichtert und die erfolgreiche Schaffung eines „Europäischen Forschungsraumes“ sichergestellt werden;

zahlreiche Hindernisse wie beim Zugang zu Finanzmitteln für die KMU oder dem Erwerb von Rechten an geistigem Eigentum müssen gemindert oder gar ausgeräumt und über die Umsetzung des EU-Patents durch eine verstärkte Zusammenarbeit so schnell wie möglich eine Einigung erzielt werden;

die „Wettbewerbspole“ müssen weiter ausgebaut werden, sie sollten mehr Mittel und mehr Aufträge bekommen. Durch ein zu diesem Zweck eingerichtetes europäisches Netz kann das Verhältnis zwischen Forschung und Innovation verbessert werden.

1.6   Bei der praktischen Realisierung dieser Maßnahmen muss, sofern diese unter die alleinige Entscheidungsbefugnis der einzelnen Mitgliedstaaten fallen, den großen Unterschieden in der wirtschaftlichen Leistung zwischen den 27 Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Wachstumsraten des BIP, Arbeitslosenrate und Trends, Höhe des Haushaltsdefizits und Ausgaben für Forschung und Entwicklung variieren erheblich, wobei sich jedoch bestimmte Muster erkennen lassen.

2.   Einführung

2.1   Der ungarische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema ersucht: „Intelligente Strategien der haushaltspolitischen Konsolidierung - Wo sind die Wachstumsmotoren für Europa? Wie kann das Arbeitskräftepotenzial unserer Volkswirtschaften angesichts der unabdingbaren Haushaltskonsolidierung bestmöglich genutzt werden?“

2.2   Der Ausschuss ist erfreut über diese Befassung.

2.3   Das Thema, das dem EWSA zur Behandlung vorgeschlagen wurde, steht im Einklang mit den Anliegen des Ausschusses und den Arbeiten, die dieser seit Beginn der Finanzkrise bereits geleistet hat.

2.4   Anhand der vorliegenden Stellungnahme werden die bisherigen Überlegungen des Ausschusses auf den neuesten Stand gebracht. Diese dienen dem vorliegenden Beitrag als Grundlage und sollen entsprechend dem Thema der Befassung fortgesetzt werden (1).

2.5   Daher werden zunächst kurz die Ursachen der Krise untersucht und anschließend deren Auswirkungen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Gefahren einer „nicht-intelligenten“ Konsolidierung erörtert. Schließlich werden Vorschläge unterbreitet, wie die Entwicklung eines nachhaltigen Wachstums gefördert werden kann, da nur ein solches Wachstum der europäischen Wirtschaft zum Wiederaufschwung verhelfen kann.

3.   Die Krise und ihre Folgen

3.1   Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2007 einsetzte und sich 2008 verschärfte, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Staatsfinanzen der europäischen Länder. Zum einen haben zahlreiche Regierungen Maßnahmen zur Rettung des Finanzsystems ergriffen. Zum anderen haben sie beträchtliche haushaltspolitische Maßnahmen ergriffen, um mithilfe ihrer Konjunkturprogramme den Konjunkturrückgang so weit wie möglich abzufedern. Diese Programme dienten neben dem Mechanismus der automatischen Stabilisatoren dazu, einen Zusammenbruch der wirtschaftlichen Aktivitäten zu verhindern, sie hatten in vielen Ländern aber auch negative Folgen für den Haushalt.

3.2   Durch die massiven öffentlichen Ausgaben während der Finanzkrise konnte zwar die Liquidität der Märkte aufrechterhalten werden. Nun aber führt die Notwendigkeit, die Haushalte von den Kosten zu entlasten, die durch Stützung der Banken - wie dies in einigen Mitgliedstaaten der Fall war - und Ermessensmaßnahmen entstanden sind, dazu, dass die steigende Arbeitslosigkeit und die in mehreren Ländern ergriffenen zusätzlichen Sparmaßnahmen insgesamt eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum darstellen.

3.3   Vor diesem Hintergrund hat sich das Haushaltsdefizit in der Europäischen Union beträchtlich vergrößert und ist laut der Vorausschätzungen von Eurostat in der gesamten EU voraussichtlich von 2,3 % des BIP im Jahr 2008 auf 7,5 % im Jahr 2010 angestiegen; innerhalb der Eurozone von 2 % auf 6,3 %. Im gleichen Zeitraum soll die Schuldenquote innerhalb der Europäischen Union von 61,6 % des BIP im Jahr 2008 auf 80 % und in der Eurozone von 69,4 % auf 78,7 % angestiegen sein. Das Wirtschaftswachstum dürfte 2010 0,7 % betragen, die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich von EU-weit 7,1 % im Jahr 2007 auf 9,1 % im Jahr 2009 ansteigen und Ende 2010 die 10,3 %-Marke erreichen. Damit werden nahezu 25 Mio. Menschen arbeitslos sein, darunter etwa 8 Mio., die infolge der Krise ihren Arbeitsplatz verloren haben.

3.4   Die in einigen Mitgliedstaaten durchgeführten Maßnahmen, die im Wesentlichen der Reduzierung der öffentlichen Ausgaben dienen, um rasch wieder ein Haushaltsgleichgewicht und einen Schuldenabbau herbeizuführen, bergen zudem die Gefahr, dass sich die Mitgliedstaaten aus dem Umverteilungseffekt der Solidarsysteme ausklinken. Äußerst besorgniserregend ist daher der Abbau der Sozialschutzsysteme und der öffentlichen Dienstleistungen, deren Rolle als automatische Stabilisatoren und als wirksame Puffer in der Krise doch einhellig begrüßt wurde.

3.4.1   Nach Ansicht des Ausschusses muss das europäische Sozialkapital und das natürliche Kapital als unverzichtbare Faktoren für ein stärkeres Wachstum bewahrt werden.

3.4.2   Es wäre für die Glaubwürdigkeit der EU (und ihrer Mitgliedstaaten) verheerend, wenn sie ihren Bürgern ein Bild von Europa präsentieren würde, das mit Entschlossenheit umfangreiche Maßnahmen zugunsten des für die derzeitige Krise verantwortlichen Finanz- und Bankensektors ergreift (wie dies in einigen Mitgliedstaaten der Fall war), das aber dann, wenn es um die Bekämpfung des Konjunkturrückgangs, des starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Unsicherheit sowie um die Sicherstellung von Solidarität durch Sozialschutzsysteme und öffentliche Dienstleistungen geht, keine wirksamen Maßnahmen ergreifen und damit die Bürger bestrafen würde, die mit der „Erzeugung“ der Wirtschafts- und Finanzkrise absolut nichts zu tun haben. Die Distanz, die bereits zwischen den Bürgern und der EU besteht, würde hierdurch nur noch größer.

3.5   Diese Form der raschen Wiederherstellung eines ausgeglichenen Haushalts, die vor allem auf einer Reduzierung der öffentlichen Ausgaben beruht, droht - neben den entstehenden sozialen Kosten - zur Folge zu haben, dass es auf lange Sicht nur ein schleppendes Wirtschaftswachstum geben wird. Die Gründe hierfür sind insbesondere in einer Dämpfung der Nachfrage über einen längeren Zeitraum hinweg, einer andauernden bzw. ansteigenden Arbeitslosigkeit und damit einer Unterminierung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sehen.

3.5.1   Durch die angespannte Haushaltslage droht ein Rückgang der Nachfrage, der wiederum einen Konjunkturrückgang mit neuen Defiziten mit sich bringt und schließlich die europäische Wirtschaft in einen Teufelskreis führen kann.

3.5.2   Der Rückgang der Nachfrage wird umso stärker ausfallen, als sich auch das Wohlstandsgefälle verschärft (in Frankreich ist z.B. das durchschnittliche Arbeitseinkommen der 0,01 % bestverdienenden Personen zwischen 1998 und 2005 um 51 % gestiegen) und die Kaufkraft der Haushalte aufgrund der wirtschaftlichen Lage, aber auch aufgrund des deutlich gesunkenen Anteils der Löhne und Gehälter an der Verteilung des Mehrwerts, automatisch abnimmt. Nach Angaben des IWF aus dem Jahr 2007 ist der Anteil der Löhne und Gehälter am BIP in Europa von 73 % im Jahr 1980 auf 64 % im Jahr 2005 gesunken.

4.   Hin zu einer intelligenten Haushaltskonsolidierung

4.1   Es stellt sich weniger die Frage, ob das Haushaltsgleichgewicht wiederhergestellt werden muss, sondern vielmehr, was unternommen werden muss, damit das Wachstum wieder zunimmt, in welchem Tempo dies zu geschehen hat und „wer dafür zahlt“.

4.1.1   Das „Intelligente“ einer Haushaltssanierung zeigt sich in einem „intelligenten“ Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen sowie zwischen Angebot und Nachfrage. Im Hinblick auf dieses Ziel ist es zur Krisenbekämpfung unerlässlich, im Rahmen einer expansiven Politik einen konsum- und investitionsfreundlichen Kontext zu schaffen und so zu Wirtschaftswachstum zurückzufinden.

4.1.2   Die Haushaltssanierung ist zum Teil auch den Forderungen der Währungspolitik geschuldet, die so gestaltet sein muss, dass sie ihren eigenen Zielen - Preisstabilität und Vertrauen der Märkte - gerecht wird und zugleich weiterhin die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum schafft.

4.2   Eine Haushaltspolitik im Dienste des Wachstums

4.2.1   Bereits deutlich vor der derzeitigen Krise war das Wirtschaftswachstum in Europa nicht ausreichend. Das anvisierte Wachstumsziel von jährlich 3 %, das im Kern die Grundlage der Lissabon-Strategie bildet, wurde nur zweimal erreicht. Dieser Wachstumsmangel wurde generell nicht in ausreichendem Maße durch die von den jeweiligen Regierungen festgelegte Wirtschafts- und Haushaltspolitik berücksichtigt und durch öffentliche und private Kredite ausgeglichen. Hier trägt das Finanzsystem z.B. in Zusammenhang mit Immobilienkrediten einen Großteil der Verantwortung. Nachhaltiges Wachstum muss daher das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik sowie aller anderen Politikbereiche sein. Vor diesem Hintergrund können durch eine Haushaltssanierung, insbesondere durch eine wirksame Zuweisung der Finanzmittel die Mittel gefunden werden, um mittelfristig eine Wiederherstellung ausgeglichener öffentlicher Haushalte zu erzielen, ohne das Ziel eines hohen Wachstums zu beeinträchtigen.

4.2.2   Die Finanzkrise und die mangelhafte Schockresistenz der EU-Wirtschaft verdeutlichen die Notwendigkeit einer wirtschaftspolitischen Neuausrichtung. Ein ausgewogener makro-ökonomischer Mix, der angebotsorientierte mit nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik in einer ausgeglicheneren Art und Weise verknüpft, muss aus Sicht des EWSA zu einem integralen Bestandteil der europäischen Strategie werden. In einer finanzialisierten Welt, die auf kurzfristige Investitionen ausgerichtet und somit dem Risiko einer Verlangsamung des technischen Fortschritts ausgesetzt ist, gilt es, sich von einem Wachstum abzuwenden, das zu einem guten Teil auf „Spekulationsblasen“ beruht, und wieder an ein Wirtschaftswachstum anzuknüpfen, das auf Konsum und Investitionen, insbesondere in den innovativen Branchen der Realwirtschaft (2), beruht und kohlenstoffarme und rohstoffschonende Produktionsmethoden begünstigt.

4.2.3   Es könnte eine europäische Anleihe zur Finanzierung von europäischen Infrastrukturprojekten eingeführt werden. Eine solche Anleihe wäre ein wichtiges Mittel, um Sparguthaben anzuziehen, das derzeit verfügbar ist und nicht zur Unterstützung der europäischen Wirtschaft genutzt wird. Dies muss Hand in Hand gehen mit einem koordinierten wettbewerbsorientierten Ansatz der Industriepolitik (3) entsprechend den in der Europa-2020-Strategie festgelegten Leitlinien (4). Unter diesem Gesichtspunkt ist der Ausschuss erfreut über die Erklärung des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 14. Dezember 2010 im Europäischen Parlament, laut der dieser auf die Vorlage von Plänen zur Einführung von Anleihen „dringen“ will. Die Einführung von Anleihen kann jedoch keine Alternative oder ein Ersatz für die Schaffung von Euro-Bonds sein.

4.2.4   Der Ausschuss spricht sich für Euro-Bonds aus, da diese nicht nur - wie Anleihen - die Finanzierung großer Infrastrukturprojekte mit dem Ziel ermöglichen, Europa durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und durch die Wiederbelebung der Konjunktur zu modernisieren, sondern auch die Kosten für die Refinanzierung der in Schwierigkeiten geratenen Euro-Länder verringern, indem sie dem Markt der Staatsanleihen eine europäische Dimension verleihen. Durch die Euro-Bonds würde wie bereits mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität die Solidarität im Inneren der Europäischen Union gegenüber dem Markt gestärkt und die EU könnte zugleich unter Beweis stellen, dass sie sich mit ihrer Politik für die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Unumkehrbarkeit des Euros einsetzt.

4.2.4.1   Durch diese Praktik, die das US-Finanzministerium anwendet und die 2009 von Europäischem Parlament und IWF befürwortet wurde, könnte den Ländern der Eurozone, die sich in Schwierigkeiten befinden, eine Erleichterung des Schuldendienstes und damit im Hinblick auf die Ankurbelung des Wachstums mehr Handlungsspielraum gewährt werden.

4.2.5   Die Mitgliedstaaten mit Leistungsbilanzüberschüssen und/oder niedrigen Staatsschulden sollten eine expansive Haushaltspolitik fahren, um Nachfrage zu stimulieren. Im Allgemeinen wird dies jedoch, vor allem aus Angst davor, von den Ratingagenturen „bestraft“ zu werden, nicht getan. „Diese Ratingagenturen spielen eine zentrale Rolle […] und dürfen deshalb nicht unbeaufsichtigt bleiben“ (5). „Unter diesem Gesichtspunkt ist der EWSA besorgt, dass die Einrichtung eines europäischen Gremiums zur Bewertung staatlicher Schuldtitel gescheitert ist“ (6).

4.3   Wachstum und Steuerwesen

4.3.1   Das Steuerwesen ist, sofern es zum Funktionieren des Binnenmarktes, zur Wettbewerbsfähigkeit und zur Erleichterung der öffentlichen Finanzlast beiträgt, ein wachstumsfördernder Faktor. Der Ausschuss bedauert, dass die Kommission bei der Haushaltssanierung fast ausschließlich an der Ausgabenseite ansetzt und die Einnahmenseite vernachlässigt. Ein solches Vorgehen führt zumeist zur Belastung sozial Schwächerer und wirkt durch zurückgehende Nachfrage wachstumsdämpfend.

4.3.2   „In Einklang mit den EU-Verträgen ist eine stärkere EU-weite Koordinierung der Steuerpolitik der Mitgliedstaaten anzustreben (u.a. harmonisierte Bemessungsgrundlagen sowie Mindestsätze) anzustreben, v.a. in jenen Bereichen, in denen die Steuerbasis international besonders mobil und das Risiko der Steuerflucht und des Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten am größten ist.“ Das Ziel dieser europäischen Koordinierung muss insbesondere die Sicherung und Steigerung der Steuereinnahmen sein (7).

4.3.3   Auch eine bessere administrative Zusammenarbeit ist Grundlage für die wirksame Bekämpfung von Steuerbetrug. Die Einrichtung des dezentralen Netzwerks Eurofisc, das allen Mitgliedstaaten offensteht und das rasche und gezielte Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung im Bereich Mehrwertsteuer ermöglichen soll, ist ein erster Schritt in diese Richtung (8). In seiner einschlägigen Stellungnahme hat der EWSA hervorgehoben, dass mit den anderen Einrichtungen, die im Bereich Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Geldwäsche tätig sind, Kontakt hergestellt und eine Zusammenarbeit ins Leben gerufen werden sollte (9).

4.3.4   Um die Steuerlast zu tragen, müssen neue Einnahmequellen aufgetan werden; hierzu zählen etwa Steuern auf Finanztransaktionen, Energiesteuer, Abgaben auf Finanzinstitute, auf CO2-Emissionen (10) - denkbar ist eine Umorganisierung des Marktes für Emissionszertifikate. Diese Form von Steuer könnte eine „doppelte Dividende“ mit sich bringen: kurz- und mittelfristig würden die öffentlichen Haushalte entlastet, langfristig wäre dies ein Beitrag dazu, die Mittel auf nachhaltige Investitionen in die Realwirtschaft allgemein und speziell in umweltfreundliche Technologien und Branchen umzulenken (11). Diese Steuerform könnte auch von Nutzen sein, um den Haushalt der Europäischen Union mit Eigenmitteln auszustatten (12).

4.4   Besteuerung des Finanzsektors

4.4.1   Konkret kann durch eine Besteuerung des Finanzsektors eine größere Stabilität und Effizienz der Finanzmärkte erzielt werden, indem Schwankungen sowie die schädlichen Auswirkungen einer übermäßigen Risikofreudigkeit eingedämmt werden (13). Es kann daher als sinnvoll erachtet werden Steuern einzuführen, mit denen die durch das Verhalten dieses Sektors erzeugten externen Kosten insofern internalisiert werden, als sie dazu beitragen, im Prozess der Entwicklung und Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes gerechtere Bedingungen zu schaffen.

4.4.2   Steuern auf Finanztransaktionen

4.4.2.1   Der EWSA hat in seiner Stellungnahme zum Larosière-Bericht (14) die Besteuerung von Finanztransaktionen grundsätzlich gutgeheißen: „Nach Auffassung des EWSA muss an die Stelle des kurzfristigen Denkens ein langfristiges treten, bei dem Boni nicht nach Spekulationsgeschäften berechnet werden. Daher unterstützt der EWSA den Gedanken einer Besteuerung der Finanztransaktionen“. „Eine solche Steuer verfolgt das Ziel, Mittel für die öffentlichen Kassen zu erschließen. Diese neue Einnahmequelle könnte zur allgemeinen Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung in den Entwicklungsländern, für die Finanzierung klimapolitischer Maßnahmen in den Entwicklungsländern oder zur Stützung der öffentlichen Haushalte eingesetzt werden. Letzteres bedeutet auch, dass die Finanzbranche die öffentlichen Finanzhilfen zurückerstattet. Langfristig sollte eine solche Steuer eine neue allgemeine Einnahmequelle für die öffentliche Hand sein“ (15). Darüber hinaus hat eine Finanztransaktionssteuer auch erwünschte Lenkungseffekte, indem Verhaltensänderungen der Marktteilnehmer bewirkt werden.

4.4.2.2   In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Präsident der Europäischen Kommission am 8. September 2010 in einer Erklärung für den Grundsatz der Besteuerung von Finanzaktivitäten eingetreten ist.

4.4.2.3   Der Ausschuss vertritt wie in seinen bisherigen Stellungnahmen die Auffassung, dass die EU und die Mitgliedstaaten eine Finanztransaktionsteuer brauchen, um die Mittel zur Reduzierung des Haushaltsungleichgewichts, zur Finanzierung der Maßnahmen für Konjunktur und Wachstum sowie zur Eindämmung rein spekulativer Geschäfte bereitzustellen.

4.4.3   Finanzaktivitätssteuer

4.4.3.1   Die Finanzaktivitätssteuer (16) in ihrer umfassendsten Form (Additionsmethode) ist so konzipiert, dass sie die gesamten Gewinne und Einkünfte aus der unternehmerischen Aktivität der Finanzinstitute belastet, unabhängig von den Produkten, die diese vermarkten.

4.4.3.2   Sie könnte als Besteuerung des von den Unternehmen des Finanzsektors geschaffenen Mehrwerts aufgefasst werden, mit der sich dem derzeit eher schwachen Steuerbeitrag dieses Sektors, der sich aus der Mehrwertsteuerbefreiung für zahlreiche ihrer Aktivitäten ergibt, begegnen ließe.

4.4.3.3   Die auf europäischer Ebene erzielten Einnahmen könnten für die Sanierung der Haushalte der Mitgliedstaaten eingesetzt werden.

4.4.4   Die Europäische Kommission plant in Übereinstimmung mit dem Ausschuss zur Bestimmung der potenziellen Struktur und der Durchführungsmodalitäten für diese Besteuerung die Durchführung einer Folgenabschätzung sowie eine Bewertung der neuen Reformen des Finanzsektors, die die Einlagensicherung, die neuen Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen usw. betreffen. Auf dieser Grundlage gilt es, das richtige Gleichgewicht zu finden zwischen einerseits der Bekämpfung der Haushaltsungleichgewichte und andererseits dem Ziel, dem Bankensektor die Möglichkeit der Kreditvergabe zu erhalten und einen Beitrag zu Wirtschaftswachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu leisten. Entscheidungen über eine solche Besteuerung sollten auf jeden Fall nicht ohne Kenntnis der Ergebnisse dieser Studie getroffen werden.

5.   Ideen für das Wachstum von morgen

5.1   In Europa zeichnen sich größere Bedrohungen ab:

etwa die einer finanzialisierten Welt, die sich der politischen Demokratie entzieht, teilweise von der Realwirtschaft abgekoppelt und auf kurzfristige Investitionen ausgerichtet ist, die ihrerseits den technischen Fortschritt gefährden können. Die Verlagerung von Real- zu Finanzinvestitionen wirkt auch dämpfend auf Beschäftigung, Einkommen, Nachfrage und öffentliche Haushalte;

der Zerfall der bestehenden Sozialsysteme in Kombination mit den Risiken einer Allianz zwischen den USA und den großen Schwellenländern, aus der Europa ausgeschlossen wäre und durch die der Arbeitsmarkt destabilisiert würde. Um den heutigen Herausforderungen zu begegnen, müssen die politischen Schwerpunkte für das Wachstum von morgen festgelegt werden.

5.2   Um wieder zu einem intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wachstum zurückzufinden, hat die EU die Europa-2020-Strategie angenommen. Auf der Grundlage verstärkter wirtschaftspolitischer Koordinierung sollen mit dieser neuen Strategie die maßgeblichen Wachstumshemmnisse auf Unionsebene - einschließlich der Probleme, die das Funktionieren des Binnenmarkts und der Infrastrukturen beeinträchtigen - sowie die Notwendigkeit einer gemeinsamen Energiepolitik und einer neuen ehrgeizigen Industriepolitik angegangen werden. Der Europäische Rat betonte, dass alle Politikbereiche der EU - einschließlich der Gemeinsamen Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik - zu dieser Strategie beitragen müssen und dass diese eine starke außenpolitische Komponente enthalten soll (17).

5.3   Der EWSA hat einen Lenkungsausschuss eingerichtet, der sich in enger Zusammenarbeit mit den Fachgruppen, der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel, den nationalen Wirtschafts- und Sozialräten und den Beobachtungsstellen mit der Umsetzung der Strategie und speziell mit den sieben Leitinitiativen zur Ankurbelung von Wachstum und Beschäftigung befasst. In diesem Zusammenhang wird der Ausschuss Stellungnahmen zu den „Leitinitiativen“ abgeben, mit denen die „fünf Ziele“ dieser Strategie erreicht werden sollen. Um die Form der Umsetzung dieser neuen Strategie festzulegen, müssen eingehende Überlegungen zu den Wirtschaftszweigen, den Akteuren und den vorrangigen Maßnahmen angestellt werden.

5.4   Die vorrangigen Wirtschaftszweige. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Wachstumsmotoren genannt, von denen manche schon existieren, die meisten jedoch erst im Entstehen begriffen sind, da sie Branchen mit hoher Wertschöpfung, Hochtechnologiebranchen und Branchen mit hohem Wachstumspotenzial sind. Die Aufzählung betrifft selbstverständlich sowohl Industrie- als auch Dienstleistungsbranchen:

Kohlenstoffarme Energie, umweltfreundlicher Verkehr und umweltfreundliche Gebäude, die die Schaffung „grüner Arbeitsplätze“ (18) mit sich bringen;

„Seniorenwirtschaft“: Bioengineering im Dienste der Gesundheit, Biowissenschaften (19);

Biotechnologie (20);

Digitale Gesellschaft, Nanotechnologien (21), Robotik;

Agrarwissenschaft und Hydraulik, um der beschränkten Menge an Agrarflächen zu begegnen, die Erzeugungsprozesse im Hinblick auf geringeren Rohstoffverbrauch und den Umgang mit Seltenerdmetallen zu überdenken;

Forschungen in allen Industriebranchen nach kohlenstoffärmeren Entwicklungsverfahren und -methoden für ein neues Konzept der Industriepolitik;

usw.

5.4.1   Auch die Bildung muss Vorrang genießen, um unterstützend für alle anderen Bereiche zu wirken. Die Bildung ist einer der für das Wachstum unerlässlichen Faktoren, denn sie unterstützt die Bildung von Humankapital, das für die Entwicklung unbedingt notwendig ist. Deshalb muss darauf geachtet werden, dass die Qualifikationen und die entsprechende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt miteinander in Einklang gebracht werden.

5.5   Vorrangige Maßnahmen für mehr Wachstum

5.5.1   Der Ausbau des europäischen Binnenmarktes muss im Rahmen der Europa-2020-Strategie für die Europäische Union eine Priorität sein. Der EWSA ist der Ansicht, dass nur so im Hinblick auf ein starkes, anhaltendes Wirtschaftswachstum deutliche Fortschritte erzielt werden können und eine gerechtere Entwicklung der Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann.

5.5.2   Für die Umsetzung einer effizienten Industriepolitik

5.5.2.1   Die Bedeutungen er des Begriffs „Industriepolitik“ haben sich im Laufe der Jahre stark gewandelt. Daher gilt es, die Prinzipien zu ermitteln, die eine eindeutige und zeitgemäße Definition des Begriffs ermöglichen.

Zunächst muss klargestellt werden, welchen Branchen Vorrang einzuräumen ist (22). Ferner müssen die Vorgehensweisen natürlich sehr diversifiziert sein. In einigen Fällen, wie zum Beispiel im Bereich Energie, handelt es sich um große europäische Projekte. In anderen Fällen um Kapitalfinanzierung. Oder, im Falle von Unternehmensneugründungen und Unternehmen in der Aufbauphase, um Unterstützung zur Entwicklung neuer Technologien. Auf jeden Fall sollte eine solche Industriepolitik so konzipiert sein, dass sie sowohl auf den Binnenmarkt als auch auf die Ausfuhren ausgerichtet ist.

Letztlich geht es darum, in einer Zeit der Haushaltskonsolidierung die Mittel zu finden, um diese Unternehmenspolitik und das Wachstum, das diese langfristig mit sich bringen kann, zu finanzieren. Ein möglicher Hebel wäre die massive Ausrichtung europäischer Sparguthaben auf langfristig produktive Investitionen (23), die wirtschaftlich und sozial rentabel sind, d.h. die Schaffung vieler Arbeitsplätze nach sich ziehen. Das Problem könnte in einer starken Risikoaversion liegen. Diese könnte dadurch überwunden werden, dass das Risiko auf öffentliche Hand und private Investoren verteilt wird, wobei die öffentliche Hand wie ein Rückversicherer das größere, langfristige Risiko trägt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, eine umfassende europäische Anleihe zu schaffen (24).

5.5.2.2   Zur Entwicklung eines ausgewogenen und soliden Produktionssystems jedoch müssen natürlich die beiden wichtigen Politikbereiche Steuerpolitik und Beschäftigungspolitik herangezogen werden. Auf die Steuerpolitik wird unter Ziffer 4.3.1 Bezug genommen. Bei der Beschäftigungspolitik besteht die Hauptaufgabe darin, das Erwerbspotenzial zu aktivieren, also auch in großem Umfang junge und ältere Menschen einzubeziehen. Zugleich muss auch ein breites Angebot an hochwertigen Kinderbetreuungsmöglichkeiten geschaffen werden, um Eltern in ihrer Berufstätigkeit zu unterstützen (25).

5.5.3   Für einen europäischen „Small Business Act“

5.5.3.1   Dieser bereits mehrfach vorgebrachte Vorschlag wurde nie vollständig umgesetzt, ist aber dennoch notwendig. Der amerikanische Small Business Act zum Beispiel funktioniert sehr effizient, da er die Finanzierung sowohl von Innovationen als auch von traditionellen Investitionen ermöglicht und den KMU einen Teil der öffentlichen Aufträge garantiert. Er deckt sowohl Unternehmensneugründungen als auch Unternehmen ab, die in schnellem Wachstum begriffen sind. Der europäische Small Business Act muss ebenso wie sein amerikanisches Pendant eine Palette von Instrumenten umfassen, die sowohl das öffentliche Auftragswesen als auch die Finanzierung betreffen. Der EWSA schlägt einen ehrgeizigen europäischen Small Business Act vor (26).

5.5.4   Für eine Politik der Berufsbildung, Forschung, Entwicklung und Innovation

5.5.4.1   Zu diesem Thema ließen sich mehrere Stellungnahmen des Ausschusses heranziehen (27), in denen dieser im Wesentlichen stets darauf hingewiesen hat, dass Forschung und Entwicklung (FuE) und Innovation die zentralen Bereiche sind, die - entsprechend der Bedeutung sowie der finanziellen Mitteln, die Europa ihnen gewährt - über die Stellung Europas in der Welt von morgen entscheiden werden.

5.5.4.2   Die EU und die Mitgliedstaaten müssen auch in dieser haushaltspolitisch schwierigen Zeit weiter in Bildung, Forschung, Entwicklung und Innovation investieren. Diese Investitionen sollten nicht nur von Einschnitten in den Haushalt ausgenommen, sondern noch weiter ausgebaut werden (28). Ohne diese Maßnahmen wäre ein Absinken des Wohlstands in der EU unausweichlich die Folge, was gleichbedeutend wäre mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Verschlechterung der Lebensqualität ihrer Bürger.

5.5.4.3   Seitens der Europäischen Union sollte darauf hingewirkt werden, dass das Steuerrecht besser auf das Ziel ausgerichtet wird, Anreize für stärkere Investitionen der Industrie in Forschung und Entwicklung zu schaffen (29). Eine solche Anpassung sollte insbesondere die Unterstützung für die Entwicklung von KMU mit FuE-Schwerpunkt in den ersten Jahren ihres Bestehens ermöglichen. Aufgrund der strategischen Rolle der KMU für die Wirtschaft der Europäischen Union empfiehlt der EWSA, dass jeder Mitgliedstaat eine optimale Vielfalt möglicher steuerlicher Anreize nutzt, durch die Fortbestand und Wachstum von KMU in der jeweiligen Volkswirtschaft erleichtert werden (30). Zugleich wäre es zweckmäßig, gemeinsame Vorhaben von Forschungseinrichtungen mit KMU zu fördern und auszubauen, etwa unter der Schirmherrschaft öffentlicher Forschungsagenturen (einzelstaatliche oder europäische Ebene), um die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Akteuren zu unterstützen.

5.5.4.4   Im Hinblick auf eine effiziente FuE muss für Forscher und Innovatoren die Arbeit und Kooperation in der gesamten EU ebenso leicht werden wie innerhalb eines Landes. Hierzu müssen im Rahmen des innerhalb von vier Jahren zu verwirklichenden „Europäischen Forschungsraums“ (31) die notwendigen Strukturen für einen wirklich freien Austausch von Wissen geschaffen werden, mit dem die EU zu einem echten Mehrwert für die nationalen Forschungsbereiche beiträgt.

5.5.4.5   Ferner müssen zahlreiche Hindernisse reduziert oder sogar beseitigt werden: der Zugang zur Finanzierung muss insbesondere für die KMU verbessert werden, der Erwerb von Rechten an geistigem Eigentum muss erschwinglich sein, die Ziele müssen ehrgeiziger und die beträchtlichen Mittel für öffentliche Aufträge strategisch genutzt werden. Die Frage, die zurzeit am allermeisten drängt, ist die einer Einigung über ein EU-Patent. Eine verstärkte Zusammenarbeit in dieser Frage könnte als Übergangslösung in Betracht gezogen werden.

5.5.4.6   Im Rahmen der Lissabon-Strategie war festgelegt worden, dass die EU für Forschung und Entwicklung 3 % ihres BIP aufwenden sollte, wovon zwei Drittel aus der Privatwirtschaft fließen sollten. Hiervon ist die EU weit entfernt. Die Verwirklichung dieses Ziels ist jedoch von entscheidender Bedeutung, da hierdurch bis 2020 3,7 Mio. Arbeitsplätze geschaffen werden könnten und das jährliche BIP bis 2027 um nahezu 800 Mrd. Euro gesteigert werden könnte (32). Die Verwirklichung dieses Ziels muss mehr denn je vorrangige Bedeutung für die EU haben.

5.5.4.7   Eine in mehreren europäischen Ländern sehr positive Initiative war schließlich die Schaffung von Wettbewerbspolen. Im Hinblick darauf, diese weiter auszubauen, ihnen mehr Mittel an die Hand zu geben und die Zahl der Aufträge zu steigern, ist die Einrichtung eines europäischen Netzwerkes wahrscheinlich die beste Lösung, um das Verhältnis zwischen Forschung und Innovation zu verbessern, da in die Verwaltung der Wettbewerbspole alle Akteure einbezogen sind.

6.   Die Zivilgesellschaft

6.1   Aufgrund der zahlreichen Folgen, die die Haushaltskonsolidierung und die Suche nach Wachstumsmöglichkeiten für den Alltag der Bürger nach sich ziehen, müssen der soziale Dialog und der Dialog mit der Zivilgesellschaft, sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der Ebene der Europäischen Union vorbildlich sein.

6.2   Die Zivilgesellschaft, insbesondere die nationalen Wirtschafts- und Sozialräte und vergleichbaren Einrichtungen, muss konsultiert werden und sich im Vorfeld der Entscheidungen einschalten. Eine starke Sozialpartnerschaft ist notwendig, da bei einem so sensiblen Thema keine mittel- und langfristig tragfähigen und positiven Entscheidungen getroffen werden können, ohne dass die Bürger die entsprechenden Reformen mittragen.

Brüssel, den 15. Juni 2011

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Staffan NILSSON


(1)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA „Die Finanzkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirtschaft“, ABl. C 255 vom 22.9.2010, S. 10 und „Neubelebung der Wirtschaft: aktueller Stand und konkrete Initiativen“, ABl. C 48 vom 15.2.2011, S. 57.

(2)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Die Lissabon-Strategie nach 2010“, ABl. C 128 vom 18.5.2010, S. 3.

(3)  Siehe Ziffer 5.5.1.

(4)  Siehe Schreiben des Präsidenten des EWSA an den Präsidenten der Europäischen Kommission vom 31.3.2010.

(5)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ratingagenturen“, ABl. C 277 vom 17.11.2009, S. 117, Absatz 1.1.

(6)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum Thema „Ratingagenturen“, ABl. C 54 vom 19.2.2011, S. 37, Ziffer 1.4.

(7)  Ebenda, Fußnote 2.

(8)  Verordnung 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (Neufassung), ABl. L 268 vom 12.10.2010, S. 1.

(9)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (Neufassung)“ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 74, Ziffer 1.10.

(10)  Ebenda, Fußnote 2.

(11)  Ebenda, Fußnote 4.

(12)  Mitteilung der Kommission „Überprüfung des EU-Haushalts“, KOM(2010) 700 endg. vom 19.10.2010.

(13)  Siehe KOM(2010) 549 endg.: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - „Besteuerung des Finanzsektors“.

(14)  Siehe Stellungnahme des EWSA zum „Bericht der de-Larosière-Gruppe“, ABl. C 318 vom 23.12.2009, S. 57.

(15)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Steuer auf Finanztransaktionen“, ABl. C 44 vom 11.02.2011, S. 81, Zusammenfassung und Schlussfolgerungen, Ziffer 1.10.

(16)  Dieser Vorschlag geht auf den Internationalen Währungsfonds zurück.

(17)  Siehe die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 25./26. März 2010 und vom 17. Juni 2010.

(18)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Förderung nachhaltiger grüner Arbeitsplätze für das Energie- und Klimapaket der EU“, ABl. C 44 vom 11.2.2011, S. 110.

(19)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Biowissenschaften und Biotechnologie: eine Strategie für Europa. Fortschrittsbericht und künftige Ausrichtung“, ABl. C 234 vom 30.9.2003, S. 13.

(20)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu der „Mitteilung der Kommission: Eine strategische Vision für Biowissenschaften und Biotechnologie - Konsultationspapier“, ABl. C 94 vom 18.4.2002, S. 23.

(21)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Nanowissenschaften und Nanotechnologien: Ein Aktionsplan für Europa 2005-2009“, ABl. C 185 vom 8.8.2006, S. 1.

(22)  Siehe Ziffer 5.4.

(23)  Siehe Ziffer 4.2.3.

(24)  Ebenda Fußnote 19.

(25)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Jahreswachstumsbericht: Gesamtkonzept der EU zur Krisenbewältigung nimmt weiter Gestalt an“, ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 26, Ziffer 4.2.

(26)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Vorfahrt für KMU in Europa - Der ‚Small Business Act‘ für Europa“, ABl. C 182 vom 4.8.2009, S. 30.

(27)  Siehe dazu die Stellungnahmen zum 7. Forschungsrahmenprogramm und insbesondere die Stellungnahme „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung eines Rahmenprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (2007-2013)“, ABl. C 65 vom 17.3.2006, S. 22.

(28)  „Leitinitiative der Strategie Europa 2020 - Innovationsunion“, KOM(2010) 546 endg. vom 6.10.2010.

(29)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Wege zu einer wirksameren steuerlichen Förderung von FuE“, ABl. C 10 vom 15.1.2008, S. 83.

(30)  Siehe Stellungnahme des EWSA „Das Potenzial Europas für Forschung, Entwicklung und Innovation freisetzen und stärken“, ABl. C 325 vom 30.12.2006, S. 16, Ziffer 3.5.

(31)  Siehe die Stellungnahmen des EWSA „Forscher im europäischen Forschungsraum: ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten“, ABl. C 110 vom 30.4.2004, S. 3 und „Grünbuch - Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“, ABl. C 44 vom 16.2.2008, S. 1.

(32)  Siehe P. Zagamé, The Cost of a non-innovative Europe (2010).


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