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Document 52008DC0423

Grünbuch - Migration & Mobilität: Chancen und Herausforderungen für die EU-Bildungssysteme {SEK(2008) 2173}

/* KOM/2008/0423 endg. */

52008DC0423

Grünbuch - Migration & Mobilität: Chancen und Herausforderungen für die EU-Bildungssysteme {SEK(2008) 2173} /* KOM/2008/0423 endg. */


[pic] | KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN |

Brüssel, den 3.7.2008

KOM(2008) 423 endgültig

GRÜNBUCH

Migration & Mobilität: Chancen und Herausforderungen für die EU-Bildungssysteme

{SEK(2008) 2173}(Vorlage der Kommission)

1. EINLEITUNG

1. In diesem Grünbuch geht es um eine große Herausforderung, der sich die Bildungssysteme heute gegenübersehen, eine Herausforderung, die zwar nicht neu ist, aber in den letzten Jahren an Intensität und Umfang gewonnen hat, nämlich die hohe Zahl von Schülern mit Migrationshintergrund, die sich in einer schwachen sozioökonomischen Position befinden.

2. Die Begriffe „Kinder mit Migrationshintergrund“, „Migrantenkinder“ und „Migrantenschüler“ werden im Kontext dieses Grünbuchs für Kinder aller Personen verwendet, die in einem EU-Land leben, in dem sie nicht geboren wurden, unabhängig davon, ob es sich um Drittstaatsangehörige oder Bürger eines anderen EU-Mitgliedstaates handelt oder ob sie später die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates erworben haben. Dies stellt gleichzeitig eine weite Definition von „Migration“ dar, die von bestimmten EU-Texten auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik abweicht.[1] Obwohl erhebliche rechtliche und praktische Unterschiede zur Lage von Drittstaatsangehörigen bestehen, werden in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte EU-Bürger einbezogen, denn die spezifischen bildungspolitischen Aspekte, die nachstehend behandelt werden, dürften auch auf einen Großteil dieser Persongruppe zutreffen. Im Übrigen stützt sich das Grünbuch weitgehend auf die PIRLS- und die PISA-Studie, die bei den Herkunftsländern nicht nach EU-Staaten und Drittstaaten unterscheiden.[2]

3. Der große Zustrom von Drittstaatsangehörigen in die EU, gekoppelt mit einer hohen EU-internen Mobilität im Gefolge der beiden jüngsten Erweiterungsrunden, hat dazu geführt, dass Schulen in einer Reihe von EU-Ländern mit einem plötzlichen und zahlenmäßig starken Anstieg solcher Kinder konfrontiert werden. Wie aus den PISA-Daten (2006)[3] hervorgeht, sind in der EU-15 mindestens 10 % der Schulbevölkerung im Alter von 15 Jahren entweder im Ausland geboren oder haben Eltern, die beide in einem anderen Land geboren wurden; im vierten Primarschuljahr steigt dieser Anteil auf fast 15 %. In einigen Ländern wie Irland, Italien und Spanien hat sich der Prozentsatz der im Ausland geboren Schüler seit 2000 verdreifacht oder vervierfacht. Im Vereinigten Königreich hat die Zahl der Schüler, die erst vor kurzem ins Land gekommen sind, in zwei Jahren um 50 % zugenommen, sodass der bereits hohe Anteil von Schüler mit Migrationshintergrund weiter gestiegen ist. Darüber hinaus führen Migrationsströme in der Regel zur Konzentration von Migrantenschülern in städtischen Gebieten oder bestimmten Städten; in Rotterdam, Birmingham oder Brüssel hat etwa die Hälfte der Schulbevölkerung einen Migrationshintergrund.[4] In Madrid hat sich der Anteil der Migrantenschüler seit 1991 verzehnfacht.

4. Die signifikante Präsenz von Migrantenschülern hat für die Bildungssysteme erhebliche Folgen. Die Schulen müssen sich darauf einstellen und die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder in die traditionelle Aufgabenstellung einbeziehen, d. h. eine qualitativ hochwertige Bildung zu vermitteln und gerechte Bildungschancen zu bieten. Bildung ist der Schlüssel dafür, dass diese Schüler zu integrierten, erfolgreichen und produktiven Bürgern des Aufnahmelandes heranwachsen können, oder anders gesagt, dafür, dass sich die Migration sowohl für die Migranten selbst als auch für das Aufnahmeland als positives Phänomen erweist. Die Schulen müssen eine führende Rolle bei der Schaffung einer integrativen Gesellschaft übernehmen, denn vor allem sie bieten Jugendlichen aus Migrantenfamilien und einheimischen Jugendlichen die Möglichkeit, einander kennenzulernen und zu respektieren. Migration kann für alle ein bereicherndes Element der Bildungserfahrung sein: sprachliche und kulturelle Vielfalt kann für die Schulen eine nicht zu überschätzende Ressource sein. Sie kann helfen, pädagogische Konzepte, Fertigkeiten und die Wissensbasis selbst zu erweitern und zu stärken.

5. Die Migration kann selbst in Familien mit hohem sozioökonomischen und Bildungsstatus die Bildungserfahrung der Kinder beeinflussen. Zumindest kurzfristig können Probleme wegen der unterbrochenen Schullaufbahn oder infolge sprachlicher und kultureller Differenzen auftreten; allerdings sind die langfristigen Perspektiven für den Bildungserfolg dieser Kinder positiv und die Konfrontation mit einer neuen Kultur und Sprache dürfte ihr Potenzial eher noch stärken. Zweifellos fallen zahlreiche Migrantenkinder, auch solche der letzte Migrationswelle, in diese Gruppe. Allerdings befasst sich das vorliegende Grünbuch schwerpunktmäßig mit der Kombination von sprachlicher/ kultureller Differenz und sozioökonomischer Benachteiligung und ihrer tendenziellen Konzentration auf bestimmte Gebiete und Schulen. Hier liegt eine große bildungspolitische Herausforderung; ob die Systeme diese Herausforderung bewältigen können oder daran scheitern, hat gravierende soziale Auswirkungen. Wie die nachstehend vorgelegten Daten beweisen, bestehen signifikante und häufig anhaltende Unterschiede bei den Bildungsleistungen von Kindern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Gleichaltrigen. In einem 1994 veröffentlichen Bericht ging die Kommission darauf ein, welche Risiken sich ergeben können, wenn die Bildungschancen von Migrantenkindern nicht verbessert werden – Vertiefung sozialer Gräben über Generationen hinweg, kulturelle Segregation, Ausgrenzung von Gemeinschaften und interethnische Konflikte. Das Potential hierfür ist weiterhin vorhanden.

6. Die Bildungspolitik bleibt fest in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verankert. Allerdings stoßen die hier geschriebenen Herausforderungen zunehmend auf ein breites Echo. So hat der Europäische Rat auf seiner Tagung am 13. und 14. März 2008 die Mitgliedstaaten aufgefordert, das Qualifikationsniveau von Lernenden mit Migrationshintergrund anzuheben. In dem gemeinsamen Bericht von 2008 über die Umsetzung des Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ wird die Bildungsbenachteiligung zahlreicher Migrantenschüler thematisiert und darauf verwiesen, dass sie zusätzliche Aufmerksamkeit benötigen.[5] Wie die nachstehende Analyse zeigt, waren einige Länder beim Abbau der Bildungsunterschiede zwischen Migrantenschülern und gleichaltrigen Einheimischen erfolgreicher als andere. Welche Faktoren die Bildungsbenachteiligung beeinflussen und welche Abhilfemaßnahmen denkbar sind, könnte sicherlich durch gegenseitiges Lernen vertieft werden.

7. Die Richtlinie 77/486/EWG stellt einen frühen Versuch der EU dar, das Augenmerk der Mitgliedstaaten auf die schulische Betreuung der Kinder von Migranten zu lenken. Die Richtlinie gilt für Kinder, die nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaates der Schulpflicht unterliegen und gegenüber einem Arbeitnehmer, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates hat, unterhaltsberechtigt sind. Danach sollten die Mitgliedstaaten:

- diesen Kindern einen kostenlosen Unterricht anbieten, der insbesondere eine ihren spezifischen Bedürfnissen angepasste Unterweisung in der Amtsprache des Aufnahmestaates umfasst und

- in Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten und unter Koordinierung mit dem Regelunterricht die Unterweisung in der Muttersprache und der heimatlichen Landeskunde fördern.

8. Das Grünbuch fordert dazu auf, darüber nachzudenken, welche Rolle die Richtlinie künftig übernehmen könnte, um das ursprüngliche Ziel, nämlich eine bessere schulische Bildung der Kinder von Wanderarbeitnehmern aus EU-Ländern, zu erreichen und so einen Beitrag zur Verwirklichung einer der vier im Vertrag verankerten Freiheiten zu leisten.

9. Seit Erlass der Richtlinie 77/486/EWG haben sich die bildungspolitischen Herausforderungen für die Schulsysteme erheblich verändert. Da die Richtlinie nur auf die schulische Betreuung der Kinder abzielt, die EU-Bürger sind, wird ein wesentlicher Teil dieser Herausforderung, nämlich die schulische Betreuung der Kinder von Drittstaatsangehörigen, vernachlässigt.[6] Auch ist die Richtlinie nur bruchstückhaft umgesetzt worden. Deshalb wäre zu überlegen, ob die Richtlinie einen Mehrwert für die politischen Bemühungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich bringt und auf EU-Ebene der beste Weg ist, um diese Bemühungen zu unterstützen.

10. Das Grünbuch gibt auch einen Rahmen vor, um das ganze Bündel von Herausforderungen in Zusammenhang mit der schulischen Bildung von Migrantenkindern zu prüfen; interessierte Kreise werden aufgefordert, ihre Vorstellungen darüber zu äußern, wie die EU künftig die Mitgliedstaaten bei der Formulierung ihrer Bildungspolitik in diesem Bereich unterstützen könnte und wie ein künftiger Prozess des Austausches und gegenseitigen Lernens gestaltet werden könnte und welche Themen abgedeckt werden sollten.[7]

2. BILDUNGSSITUATION VON KINDERN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND

2.1. Viele Migrantenkinder leiden unter Bildungsbenachteiligung

11. Es gibt klare und übereinstimmende Beweise dafür, dass die Bildungsleistungen von Migrantenkinder schlechter sind als die Gleichaltriger. Wie aus der PIRLS-Studie über Lesekompetenz hervorgeht, schneiden Migrantenschüler zum Ende der Grundschulzeit schlechter ab als Gleichaltrige, die nicht aus Migrantenfamilien kommen.

Schaubild 1 – Leistungsdifferenz im Lesen zwischen Schülern, deren Eltern beide im Land geboren sind und deren Eltern im Ausland geboren sind, 2006

(Leistung auf der PIRLS-Leseskala – Mittelwert ) [pic]

[pic] | beide Elternteile im Land geboren | [pic] | nur ein Elternteil im Land geboren | [pic] | beide Elternteile im Ausland geboren |

Datenquelle: PIRLS-Datenreihe 2006

12. Die PISA-Erhebung der OECD zur Leistungsmessung von 15jährigen bestätigt, dass Migrantenschüler dieser Altersgruppe in den Testbereichen Naturwissenschaften, Mathematik und vor allem Lesen schlechter abschneiden als inländische Schüler.

Schaubild 2 – Leistungsdifferenz zwischen Schülern in Mathematik nach Migrationsstatus und Land

(Leistung auf der Mathematikskala – Mittelwert)

[pic]

[pic] | Schüler der ersten Generation | [pic] | Schüler der zweiten Generation | [pic] | Inländische Schüler |

Datenquelle: PISA-Studie (OECD) 2006

Schaubild 3 – Leistungsdifferenz zwischen Schülern im Lesen nach Migrationsstatus und Land

(Leistung auf der Leseskala – Mittelwert)

[pic]

[pic] | Schüler der ersten Generation | [pic] | Schüler der zweiten Generation | [pic] | Inländische Schüler |

Datenquelle: PISA-Studie (OECD) 2006

Schaubild 4 – Leistungsdifferenz zwischen Schülern in Naturwissenschaften nach Migrationsstatus und Land

(Leistung auf der Naturwissenschaftsskala – Mittelwert)

[pic]

[pic] | Schüler der ersten Generation | [pic] | Schüler der zweiten Generation | [pic] | Inländische Schüler |

Datenquelle: PISA-Studie (OECD) 2006

13. Nationale Indikatoren bestätigen diese Beobachtung.[8]

14. Ein vergleichbares Muster schwacher Bildungsleistungen spiegelt sich in der Schulkarriere von Migrantenschülern wider. Auch wenn es in den letzten Jahren gewisse Verbesserungen gegeben hat, besuchen in den meisten Länder weniger Migrantenkinder vorschulische Bildungseinrichtungen und im Allgemeinen später als ihre Altersgenossen. Im Primarbereich gibt es aufgrund der Schulpflicht keinen Unterschied zwischen der Besuchsquote von Migrantenkindern und anderen Schülern. In der Sekundarstufe zeigt sich allerdings eine klare Segregation, denn Migrantenkinder sind in beruflich orientierten Schulen, die in der Regel nicht zur Hochschulreife führen, überrepräsentiert. Außerdem gibt es klare Anhaltspunkte dafür, dass Migrantenschüler in den meisten Ländern die Schule früher verlassen. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass nur eine relativ geringe Zahl von Studenten mit Migrationshintergrund ein Hochschulstudium abschließt.

15. Schließlich bringt die PISA-Studie einen weiteren Sachverhalt ans Licht, der für bildungspolitische Entscheidungsträger von besonderem Interesse ist – in einigen Ländern haben sich in allen drei Kompetenzbereichen die Leistungen der Migrantenschüler der zweiten Generation gegenüber denen der ersten Generation verschlechtert. Dies bedeutet, dass es dem Bildungssystem nicht gelingt, als integrierende Kraft zu fungieren, dass sich die wachsenden Bildungsunterschiede verfestigen und die soziale Ausgrenzung von Migranten noch verstärken.

Schaubild 5 – Anteil der frühzeitigen Schulabgänger nach Staatsangehörigkeit, 2005

(Prozentualer Anteil der 18-24jährigen, die lediglich über einen Abschluss der Sekundarstufe I verfügen und keine weiterführende Schul- oder Berufsbildung durchlaufen, nach Staatsangehörigkeit, 2005)

[pic]

[pic] | Inländische Bevölkerung | [pic] | Ausländische Bevölkerung | [pic] | Insge-samt |

Datenquelle: Eurostat (Arbeitskräfteerhebung), 2005

2.2. Auswirkungen der Migration auf die Bildungssysteme

16. Ein hoher Anteil von Migrantenschülern stellt Klassen, Schulen und Schulsysteme vor zahlreiche Herausforderungen.

17. Die Klassen und Schulen müssen sich auf eine wachsende sprachliche, kulturelle und leistungsmäßige Vielfalt einstellen. Neue, angepasste Unterrichtskompetenzen werden notwendig sein und es müssen neue Wege gefunden werden, um Brücken zu Migrantenfamilien und –gemeinschaften zu schlagen.

18. Auf Ebene der Bildungssysteme kann eine hohe Konzentration von Migrantenschülern die – selbst in den besten Schulsystemen – vorhandene Tendenz zur Segregation nach sozioökonomischen Merkmalen verstärken. Dies kann unterschiedliche Formen annehmen, da sozial bevorzugte möglicherweise Schulen mit hohem Migrantenanteil verlassen.[9] Jedenfalls vergrößert dieses Phänomen die Disparitäten zwischen Schulen und erschwert die Aufgabe, Chancengleichheit im Bildungswesen herzustellen.

19. Bildungspolitische Herausforderungen müssen stets im breiteren Kontext der Wahrung des sozialen Zusammenhalts gesehen werden – jedes Scheitern der schulischen Integration von Migrantenschülern kann zum Scheitern der sozialen Integration beitragen. Geringes Bildungsniveau, keine abgeschlossene Schulausbildung und frühzeitiges Ausscheiden aus dem Schulsystem schmälern die späteren Chancen junger Migranten auf eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Die fehlende schulische Integration kann auch die Entstehung positiver sozialer Bindungen und Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Gruppen beeinträchtigen, die für eine integrative Gesellschaft erforderlich sind. Machen Migrantenkinder in der Schule die Erfahrung, dass sie dem Leistungsanspruch nicht genügen und ausgegrenzt werden und sich dies in ihrem späteren Leben fortsetzt, besteht die Gefahr, dass solche Muster auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Andererseits werden Schulen, deren Angebot den Migrantenschülern gerecht wird, diese auf eine erfolgreiche Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft vorbereiten. Auf diese Weise kann eine gute Schulbildung der Migrantenschüler gleichzeitig zu Gerechtigkeit und Effizienz beitragen.

20. Migration kann der Schule wertvolle kulturelle und bildungsbezogene Elemente bieten. Die Konfrontation mit anderen Standpunkten und Perspektiven kann sowohl für Schüler als auch für Lehrer bereichernd sein. Interkulturelle Kompetenz und die Fähigkeit, mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in einem toleranten und respektvollen Dialog zu treten, sind Fertigkeiten, die aufgebaut werden können und müssen.

3. GRÜNDE FÜR DIE BILDUNGSBENACHTEILIGUNG VON KINDERN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND

21. Für die oben beschriebene Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund können verschiedene Faktoren ausschlaggebend sein.

3.1. Situation und Hintergrund von Kindern mit Migrationshintergrund

22. Generell besteht eine starke Korrelation zwischen Schulleistung und sozioökonomischem Milieu .[10] Einer der Hauptgründe für die Schwierigkeiten von Migrantenschülern ist häufig ihre schlechte sozioökonomische Situation. Allerdings kann die sozioökonomische Situation nicht für das gesamte Ausmaß der Benachteiligung von Migrantenschülern verantwortlich gemacht werden – wie aus der PISA-Studie hervorgeht, erbringen sie häufig schlechtere Schulleistungen als andere Kinder mit ähnlichem sozioökonomischen Hintergrund und dies trifft auf einige Länder mehr zu als auf andere.[11]

23. Zu den ursächlichen Faktoren zählen u.a.:

- Migranten und ihre Familien machen die Erfahrung, dass ihr angesammeltes Wissen , insbesondere die Kenntnis ihrer Muttersprache, aber auch die Kenntnis der Funktionsweise von Institutionen und speziell von Bildungssystemen an Wert verlieren. Darüber hinaus werden ihre Qualifikationen möglicherweise nicht förmlich anerkannt oder als weniger relevant betrachtet.[12]

- Sprache ist ein Schlüsselfaktor. Die Beherrschung der Unterrichtssprache ist eine unerlässliche Voraussetzung für den Schulerfolg.[13] Selbst für im Aufnahmeland geborene Migrantenkinder kann dies ein Problem sein, wenn die in der Schule gesprochene Sprache zuhause nicht vertieft werden kann. So kann Sprache eine Barriere zwischen Migrantenfamilien und der Schule bilden und es Eltern schwer machen, ihre Kinder zu unterstützen.

- Erwartungen sind im Bildungsbereich enorm wichtig. Familien und Gemeinschaften, die der Bildung große Bedeutung beimessen, werden ihre Kinder in der Schule wahrscheinlich stärker unterstützen.[14] Besonderen Einfluss auf die schulischen Leistungen haben Mütter.[15] Wie gebildet und stark Frauen in einer bestimmten Migrantengemeinschaft sind und ob sie in der Lage sind, Entscheidungen für ihre Kinder treffen, kann die Leistung ihrer Kinder maßgeblich beeinflussen. Erhalten Mädchen keine abgeschlossene Schulausbildung, leiden nicht nur sie darunter, sondern dies kann dazu beitragen, dass die Benachteiligung an die nächste Generation weitergegeben wird. Kinder haben möglicherweise eine weniger positive Einstellung zur Bildung, wenn sie in einem Umfeld leben, wo in der eigenen Gemeinschaft hohe Arbeitslosigkeit herrscht und Erfolg auf dem Arbeitsmarkt oder in der Wirtschaft eher selten ist.

- Rollenbilder und die Unterstützung der Gemeinschaft können entscheidenden Einfluss haben, aber fehlen, wenn sich die betreffende Gemeinschaft in einer schwachen sozioökonomischen Position befindet.[16] Hierfür lassen sich konkrete Beispiele anführen; so sind bestimmte Migrantengruppen asiatischer Herkunft im Vereinigten Königreich vergleichsweise benachteiligt, dennoch ist ihr Anteil an den Hochschulzulassungen sehr hoch.

3.2. Bildungsumfeld

24. Selbst bei ähnlichen Migrationsmustern bestehen zwischen europäischen Ländern Unterschiede in der schulischen Leistung von Migrantenschülern derselben ethnischen Herkunft.[17] Demnach spielen Politik- und Bildungskonzepte eine Rolle. Der Aufbau des Bildungssystems und wie sich Schulen und Lehrer ihnen gegenüber verhalten, kann sich signifikant auf ihre schulischen Leistungen auswirken. Druck durch Gleichaltrige beeinflusst das Leistungsniveau. Migrantenschüler erbringen im Allgemeinen bessere Leistungen, wenn sie gemeinsam mit Klassenkameraden unterrichtet werden, die die Sprache des Aufnahmelandes beherrschen und hohe Bildungsansprüche haben.[18]

25. Aber in zahlreichen Systemen ist eine starke Tendenz zur Segregation zu beobachten. Migrantenschüler konzentrieren sich häufig auf Schulen, die de facto vom Mainstream abgegrenzt sind und sich in einer nach unten gerichteten Qualitätsspirale befinden, was z. B. die hohe Lehrerfluktuation zeigt. Nach der PISA-Studie sind die Schülerleistungen an Schulen mit einer hohen Konzentration von Migrantenschülern niedriger.[19] Segregation findet auch innerhalb der Schulen statt: Bei der Einordnung nach Leistungsgruppen/Differenzierung wird ein unverhältnismäßig hoher Anteil von Migrantenschülern weniger anspruchsvollen Schulzweigen zugewiesen – möglicherweise aufgrund eines anfänglich geringeren Bildungs- und/oder Sprachniveaus.[20] Darüber hinaus ist die hohe Konzentration von Migrantenkindern in Sonderschulen für lernschwache Schüler, wie in einigen Ländern festzustellen, ein extremer Fall von Segregation.[21] A priori ist es unwahrscheinlich, dass der Anteil lernbehinderter Migrantenschüler zwischen verschiedenen Ländern stark variiert.

26. Alle Formen der schulischen Segregation schwächen die Fähigkeit des Bildungssystems, eine seiner Hauptaufgaben zu erfüllen, nämlich soziale Eingliederung, Freundschaften und gesellschaftliche Bindungen zwischen Migrantenkindern und ihren Altersgenossen zu fördern.[22] Je stärker die Schulen gegen alle Formen der D e-facto- Segregation von Migrantenschülern vorgehen, desto positiver wird in der Regel die Bildungserfahrung sein.

27. Wie vorstehend erwähnt, können Erwartungseffekte durch Bildungskonzepte noch verstärkt werden. Niedrige Erwartungen an sprachlich weniger versierte Schüler (zu denen höchstwahrscheinlich zahlreiche Migrantenkinder gehören) können zur Folge haben, dass ihr Potenzial unterschätzt wird.

3.3. Einige positive politische Antworten

28. Im Rahmen von Forschungs- und Austauschtätigkeiten sind Politikansätze und Konzepte ermittelt worden, die den Bildungserfolg von Migrantenschülern stützen können. Generell ist festzustellen, dass Migrantenschüler besser abschneiden, wenn sozioökonomischer Status und Bildungserfolg weniger korreliert sind. In anderen Worten, jene Systeme, die stark auf die Chancengleichheit im Bildungswesen ausgerichtet sind, werden ihren besonderen Bedürfnissen am ehesten gerecht. Umfassende Strategien, die alle Stufen und Zweige des Bildungssystems einbeziehen, funktionieren am Besten; partielle Maßnahmen verlagern das Problem der Ungleichheit oder Bildungsschwäche nur von einem Segment des Systems auf ein anderes. Außerdem sind Maßnahmen zur Verwirklichung der Chancengleichheit im Bildungswesen dann am erfolgreichsten, wenn sie sich in einem breit gefächerten Rahmen zum Aufbau einer integrativen Gesellschaft einfügen.

29. Es gibt auch eine Reihe politischer Konzepte, welche die besonderen Aspekte der Bildungserfahrung von Migrantenschülern angehen.

- Alle Mitgliedstaaten betrachten den Erwerb der Sprache des Aufnahmelandes als Schlüssel zur Integration und haben hierzu besondere Vorkehrungen getroffen[23]; so werden beispielsweise Sprachklassen für neu ankommende Migrantenschüler eingerichtet (mitunter gilt dieses Angebot auch für Schüler mit Migrationshintergrund, die im Aufnahmeland geboren sind, aber dessen Sprache noch nicht beherrschen). Andere Maßnahmen fördern einen möglichst frühen Spracherwerb durch frühe Sprachtests für alle Kinder; vorschulischen Sprachunterricht und Qualifizierung von Lehrkräften, damit sie die Sprache des Aufnahmelandes als Zweitsprache unterrichten können.

- Neben der vorrangigen Ausrichtung auf die Sprache des Aufnahmelandes werden auch Anstrengungen unternommen, um das Erlernen der Herkunftssprache („heritage language“) zu fördern, z.B. im Rahmen bilateraler Abkommen mit anderen Mitgliedstaaten wie in der Richtlinie 77/486/EWG[24] vorgesehen. Neue Möglichkeiten eröffnen sich hierfür durch Mobilität, Medien- und Internetkontakt mit dem Herkunftsland sowie Schulpartnerschaften („e-twinning“) zwischen Aufnahme- und Herkunftsländern. Die Stärkung der Herkunftssprache kann in bildungspolitischer Hinsicht vorteilhaft sein. Die Beherrschung der Herkunftssprache ist wertvoll für das kulturelle Bewusstsein und das Selbstwertgefühl von Migrantenkindern und kann auch für die künftige Beschäftigungsfähigkeit ein Pluspunkt sein. Außerdem ziehen manche Migrantenfamilien eine eventuelle Rückkehr in das Herkunftsland als mögliche Option in Betracht; dies wird durch die Unterweisung in der Herkunftssprache erleichtert.

- Viele Länder bieten gezielte Unterstützung an, um Bildungsbenachteiligung auszugleichen. Auch wenn sich diese Maßnahmen nicht per se an Migrantengruppen richten, können sie für sie äußerst relevant sein. Solche Maßnahmen können individuell ausgerichtet sein wie Stipendien und (allerdings häufig höchst umstrittene) Quoten für den Zugang zu renommierten Bildungseinrichtungen. Andere Maßnahmen zielen auf Familien ab in Form von Zuwendungen, die an den Schulbesuch gebunden oder leistungsabhängig sind; solche Maßnahmen haben zu einigem Erfolgt geführt. Gezielte Unterstützung wird auch Schulen mit einem hohen Migrantenanteil gewährt, aber die Ergebnisse sind dem Anschein nach eher bescheiden; möglicherweise wurde die kritische Masse nicht erreicht oder die Förderung erfolgt nicht systematisch genug.[25]

- Es gibt zahlreiche Programme, die Zielgruppen zusätzliche Bildungsförderung anbieten, beispielsweise Lern- und Hausaufgabenhilfe nach dem regulären Schulunterricht, häufig in Partnerschaft mit der Migrantengemeinschaft. Ein anderes Beispiel sind Mentoring und Tutoring durch Studenten. Als besonders erfolgreich erwiesen haben sich solche Angebote, wenn sie von Personen gleicher Herkunft und als Teil einer breit angelegten Partnerschaft mit Elternorganisationen und Gemeinschaftseinrichtungen durchgeführt werden und auch andere Maßnahmen wie die Ernennung von Schulmediatoren einschließen.[26]

- Einige Systeme bieten eine zweite Bildungschance , doch handelt es sich hier nicht um ein paralleles, gesondertes Angebot für jene, die im allgemeinen System scheitern. Erwachsenenbildung , insbesondere Sprachausbildung, wird in Migrantengemeinschaften umfassend gefördert und soll dazu beitragen, die bereits erwähnte intergenerationale Transmission von Benachteiligung zu durchbrechen und die Kommunikation zwischen Schulen und Familien zu erleichtern.

- Vorschulerziehung bringt erhebliche Vorteile.[27] Wird großes Gewicht auf die sprachliche Entwicklung gelegt, kann ein besonderer Beitrag geleistet werden, um Migrantenschüler auf den späteren Schulbesuch vorzubereiten.[28] Doch wie in Abschnitt 2.1 erläutert, gehören Migrantenkinder häufig zu denjenigen, die davon am wenigsten profitieren; auch die finanzielle Unterstützung sozial benachteiligter Familien für den Zugang zu Kinderbetreuung bringt gute Ergebnisse.[29]

- Integrierte Bildung, die den bereits erwähnten Segregationstendenzen entgegenwirkt, ist ein ausdrückliches Ziel einiger Systeme. Da Segregation schwer zu überwinden ist, wenn sie sich einmal etabliert hat, haben Länder, die erst in jüngster Zeit einen massiven Migrationszustrom zu verzeichnen haben, ein Interesse daran, eine Präventivstrategie zu entwickeln um zu gewährleisten, dass die sozioökonomische und ethnische Balance von Anfang an gewahrt bleibt. Schulen und sonstige Einrichtungen können vernetzt werden, um Migrantenschüler besser zu verteilen und so Konzentrationen zu vermeiden. Ermutigende Ergebnisse haben auch Maßnahmen gebracht, um die Attraktivität von Schulen mit einem hohen Anteil benachteiligter Schüler zu steigern, wie die Schaffung sogenannter „Magnetschulen“ [30].

- Die Sicherung von Qualitätsstandards an allen Schulen ist ein entscheidender Schritt. Qualitätsaufbau kann unterschiedliche Maßnahmen umfassen wie Brücken zu den Eltern schlagen, Infrastruktur verbessern, außerlernplanmäßige Aktivitäten erweitern und eine Ethik des Respekts schaffen. Aber in erster Linie liegt der Schwerpunkt auf Unterricht und Führung .[31] Einige Systeme haben versucht, die hohe Lehrerfluktuation an benachteiligten Schulen dadurch anzugehen, dass Anreize für Lehrer geschaffen werden, sich für solche Schulen zu entscheiden und dort zu bleiben. Lehrkräfte werden zunehmend darin aus- und fortgebildet , wie mit Vielfalt umzugehen ist und wie Kinder in schwierigen Situationen zu motivieren sind. Die Erhöhung der Zahl von Lehrkräften mit Migrationshintergrund ist ein ausdrückliches Ziel einiger Systeme.

- Die Vertiefung der Kenntnisse über die eigene Kultur und über die Kultur der anderen kann Migrantenschülern mehr Selbstvertrauen geben und für alle Schüler von Nutzen sein. Eine solche interkulturelle Bildung braucht in keiner Weise die vorrangige Ausrichtung auf die Identität, die Werte und Symbole des Aufnahmelandes zu schwächen. Vor allem geht es darum, gegenseitigen Respekt aufzubauen, die negativen Folgen von Vorurteilen und Stereotypen zu verstehen und die Fähigkeit zu kultivieren, unterschiedliche Standpunkte einzunehmen[32], während gleichzeitig das Wissen über und der Respekt für die Kernwerte und Grundrechte der Gesellschaft des Aufnahmelandes vertieft werden.

4. BEWÄLTIGUNG DES PROBLEMS AUF EUROPÄISCHER EBENE

30. Inhalt und Organisation der allgemeinen und beruflichen Bildung fallen in die nationale Zuständigkeit. Deshalb müssen Strategien auf nationaler oder regionaler Ebene konzipiert und umgesetzt werden. Die Mitgliedstaaten haben ihr Interesse an einer Zusammenarbeit bei der Eingliederung von Migrantenkindern bekundet. Die Europäische Kommission kann eine solche Zusammenarbeit erleichtern. Da die Herausforderungen und die zugrundeliegenden Faktoren dieselben sind und in verschiedenen Mitgliedstaaten, Regionen und Städten unterschiedliche Ansätze verfolgt werden, könnte sich ein fruchtbarer Dialog entwickeln.

31. Die Europäische Union hat bereits verschiedenartige Maßnahmen durchgeführt, die sich direkt oder indirekt auf die diesbezügliche Politik der Mitgliedstaaten auswirken. Außerdem ist die Rolle der Richtlinie 77/486/EWG bei der Politikgestaltung in diesem Bereich zu berücksichtigen.

4.1. Rolle der Programme und Maßnahmen der EU

32. Die Europäische Kommission unterstützt bereits zahlreiche Programme und Maßnahmen, die sich u.a. mit dieser Frage befassen. Im Jahr 2005 legte die Kommission „Eine gemeinsame Integrationsagenda – Ein Rahmen für die Integration von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Union“[33] vor; darin werden Maßnahmen zur Umsetzung der gemeinsamen Grundprinzipien für Integration (GGP)[34] sowie eine Reihe unterstützender EU-Mechanismen vorgeschlagen wie nationale Kontaktstellen für Integrationsfragen, ein Europäisches Integrationsforum und Jahresberichte über Migration und Integration. Außerdem werden über den Europäischen Fonds für die Integration von Drittstaatsangehörigen Maßnahmen zur Eingliederung von Migrantenkindern und –jugendlichen gefördert. In der Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates über „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“ vom 18. Dezember 2006 wird aufgelistet, welche Einstellungen, Kenntnisse und Fähigkeiten des Bildungssystems vermitteln sollte, um Menschen ihre Selbstverwirklichung und persönliche Entfaltung, eine aktive Bürgerschaft, soziale Integration und Beschäftigung in einem modernen Europa zu erleichtern. Die in Nummer 6 (soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz) und Nummer 9 (Kulturbewusstsein) genannten Kompetenzen sind im Kontext eines hohen Anteils von Migrantenschülern besonders relevant und können als Rahmen für die Entwicklung nationaler Bildungskonzepte herangezogen werden.

33. Das Programm Lebenslanges Lernen, insbesondere die Aktionen Comenius (Schulbildung), Leonardo da Vinci (Berufsbildung) und Grundtvig (Erwachsenbildung) und das Programm Jugend fördern Projekte in Zusammenhang mit der interkulturellen Bildung, der schulischen Integration von Migrantenschülern und der sozialen Eingliederung benachteiligter Jugendlicher. Beispiele sind im Anhang aufgeführt.

34. Die Kohäsionspolitik kann über die Strukturfonds, insbesondere den ESF und den EFRE Projekte und Maßnahmen zur Förderung der sozialen Eingliederung auf nationaler und regionaler Ebene unterstützen. Im Rahmen des Urbact-Programms wird die Initiative „Regionen für den Wirtschaftswandel“ die grenzübergreifende Zusammenarbeit und den Austausch bewährter Verfahren fördern. Dabei hat die soziale Eingliederung von Migrantenjugendlichen hohe Priorität. Auch das Gemeinschaftsprogramm für Beschäftigung, soziale Solidarität und Fortschritt bietet Raum für eine transnationale Kooperation.

35. Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle (2007) und das Europäische Jahr des interkulturellen Dialogs (2008) geben den Rahmen für die Förderung einer europäischen Debatte über die Integration von Migrantenjugendlichen vor.

4.2. Politikaustausch auf europäischer Ebene

36. Die offene Methode der Koordinierung im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung bietet ein Forum für die Kooperation und den Austausch zwischen den Mitgliedstaaten über gemeinsame bildungspolitische Herausforderungen. Die Kommission wird hierzu im Dezember 2008 Vorschläge für einen neuen Rahmen unterbreiten, der u. a. einen Politikaustausch zu diesem Thema einbeziehen könnte. Dabei könnte auch untersucht werden, ob in Bezug auf die Bildungsleistung und den Schulbesuch von Migrantenschülern etwaige Indikatoren oder Benchmarks entwickelt werden sollen.

37. Die Europäische Kommission arbeitet eng mit internationalen Organisationen zusammen, die sich im Rahmen ihrer Tätigkeit ebenfalls mit Bildungs- und Migrationsfragen befassen, wie die OECD und der Europarat. Die Fortsetzung dieser Zusammenarbeit wird Priorität haben.

4.3. Rolle der Richtlinie 77/486/EWG über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern[35]

38. Im Kontext der hier erläuterten politischen Überlegungen stellt sich die Frage, welche Rolle die Richtlinie 77/486/EWG künftig bei der Politikgestaltung in den Mitgliedstaaten übernehmen kann.

39. Die Umsetzung, Durchführung und Überwachung der Richtlinie haben sich zumindest teilweise als schwierig erwiesen;[36] effektiv ist die durch bilaterale Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten gesteuerte Migration, in deren Kontext die Richtlinie konzipiert worden war, von der Realität überholt worden. Angesichts der Schwierigkeiten, die sich bei der förmlichen Durchführung der notwendigen bilateralen Zusammenarbeit in den damals neun EG-Mitgliedstaaten ergeben haben, ist nicht klar, wie in einer EU mit 27 Mitgliedstaaten eine spürbare Verbesserung erzielt werden könnte.

40. Darüber hinaus stellt sich die Frage des Geltungsbereichs der Richtlinie. Heute geht es in erheblichem Maße um die schulische Betreuung von Kindern aus Drittstaaten. Deren Situation wird von der Richtlinie nicht erfasst.

41. Schließlich sollte der Mehrwert der Richtlinienbestimmungen für die Gestaltung der Bildungspolitik bewertet werden. Die erste Bestimmung der Richtlinie – die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet „Kinder [von Migranten] ein kostenloser Einführungsunterricht geboten wird, der insbesondere eine Unterweisung in der Amtsprache oder einer der Amtsprachen des Aufnahmestaats umfasst“ – scheint angesichts der komplexen Herausforderungen die Politikgestaltung in den Mitgliedstaaten wenig beeinflusst zu haben. Alle Mitgliedstaaten haben eigene Konzepte für die Unterweisung in der Sprache des Aufnahmestaates entwickelt. Betrachtet man die schulische Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund im weiteren Kontext, drängt sich die Frage auf, ob den Mitgliedstaaten mehr durch eine Richtlinie oder durch einen Mix von Politikaustausch und Programmunterstützung zur Entwicklung von Strategien gedient wäre.

Die zweite Bestimmung der Richtlinie – die Mitgliedstaaten treffen „in Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten geeignete Maßnahmen, um unter Koordinierung mit dem Regelunterricht die Unterweisung der Kinder in der Muttersprache und der heimatlichen Landeskunde zu fördern“ – gestattet ein großes Maß an Flexibilität, wie dieser Verpflichtung nachgekommen werden soll. Diese Vorgabe ist teilweise[37] umgesetzt worden und kann unter den in Abschnitt 3.1 erläuterten Gegebenheiten als fundiertes Bildungskonzept angesehen werden. Außerdem hat die innergemeinschaftliche Mobilität von Arbeitnehmern aus den EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren im Gefolge der Erweiterungen 2004 und 2007 erheblich zugenommen. Dies dürfte generell neues Interesse an der Förderung des muttersprachlichen Unterrichts für Migrantenkinder wecken. Ob dies am besten durch Rechtsinstrumente, gestützt auf die unterschiedlichen Regelungen des Vertrags für EU- und Drittstaatsangehörige oder durch die Förderung freiwilliger Vorkehrungen innerhalb oder außerhalb des formalen Schulsystems geschehen soll, ist unklar. Ausgehend von dem Erfordernis der Richtlinie, dieses Ziel in Zusammenarbeit mit dem Herkunftsmitgliedstaat zu verwirklichen, könnten Netzwerke geschaffen und Schulpartnerschaften gegründet werden, um die Unterweisung in der Herkunftssprache an besonderen Schulen oder Standorten mit Unterstützung aus dem Programm Lebenslanges Lernen zu fördern. Auch könnte die Ausweitung solcher Unterrichtsangebote in die Lehrerausbildung einbezogen werden.

5. VORSCHLAG FÜR EINE KONSULTATION

42. Nach Auffassung der Kommission würde eine Konsultation interessierter Kreise zu bildungspolitischen Maßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund einen wertvollen Beitrag leisten. Interessierte Kreise sind aufgefordert, ihren Standpunkt zu Folgendem zu äußern:

- politische Herausforderung;

- richtige politische Antwort auf diese Herausforderung;

- mögliche Rolle der Europäischen Union bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten, diese Herausforderungen zu bewältigen, und

- Zukunft der Richtlinie 77/486/EWG.

43. Die Antwortenden werden gebeten, sich bei ihren Beiträgen an folgenden Fragen zu orientieren.

A. Politische Herausforderung

1. Welches sind die wichtigsten politischen Herausforderungen in Zusammenhang mit einem guten Bildungsangebot für Kinder mit Migrationshintergrund? Gibt es neben den hier ermittelten weitere Herausforderungen, die berücksichtigt werden sollten?

B. Politische Antwort

2. Welches ist die geeignete politische Antwort auf diese Herausforderungen? Gibt es neben den hier aufgelisteten weitere Politikkonzepte und -ansätze, die berücksichtigt werden sollten?

C. Rolle der Europäischen Union

3. Welche Maßnahmen sollten mithilfe europäischer Programme durchgeführt werden, um die Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund positiv zu beeinflussen?

4. Wie könnten diese Probleme im Rahmen der offen Methode der Koordinierung im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung angegangen werden? Sollten etwaige Indikatoren und/oder Benchmarks ermittelt werden, um die politischen Anstrengungen stärker darauf auszurichten, Lücken in der Bildungsleistung zu schließen?

D. Zukunft der Richtlinie 77/486/EWG

5. Welche Rolle kann die Richtlinie 77/486/EWG bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich spielen, wenn man ihre Vorgeschichte berücksichtigt und die seit Annahme veränderten Migrationsströme vor Augen hat? Sollte die Richtlinie in ihrer derzeitigen Fassung beibehalten, sollte sie angepasst oder aufgehoben werden? Gibt es alternative Ansätze, um die Mitgliedstaaten bei der Bewältigung dieser Probleme zu unterstützen?

44. Die Konsultation zu diesen Fragen läuft bis 31. Dezember 2008.

45. Beiträge sind an folgende Anschrift zu richten:

Europäische Kommission

GD Bildung und Kultur

Konsultation zum Thema Bildung und Migration

B-1049 Brüssel

E-Mail EAC-migrantchildren@ec.europa.eu

46. Die Europäische Kommission wird die Ergebnisse dieser Konsultation analysieren und Anfang 2009 ihre Schlussfolgerungen veröffentlichen. Zu beachten ist, dass die Beiträge und Namen der Autoren publik gemacht werden können, sofern bei Übermittlung des Beitrags die Zustimmung zur Veröffentlichung nicht ausdrücklich verweigert wird.

[1] Es sei daran erinnert, dass EU-Bürger im Gegensatz zu Drittstaatsangehörigen ein im EG-Vertrag verankertes Grundrecht haben, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen und für ihren Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat kein besonderes Integrationserfordernis gilt. Hierin liegt ein fundamentaler Unterschied zu Drittstaatsangehörigen, die nach den geltenden europäischen und nationalen Einwanderungsvorschriften bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen, bevor sie sich in einem EU-Mitgliedstaat aufhalten dürfen.

[2] Mit dem Verweis auf Migrantengemeinschaften soll die wichtige Feststellung in Abschnitt 2.1 herausgestellt werden, wonach das Bildungsgefälle und die zugrundeliegenden Faktoren auch noch in nachfolgenden Generationen (ob eingebürgert oder nicht) vorhanden sein können, vor allem wenn eine Abschottung von der Mainstream-Gesellschaft des Aufnahmestaates zu beobachten ist. Schließlich findet sich im Text keine Bezugnahme auf Bevölkerungsgruppen mit einer anderen ethnischen oder kulturellen Identität, die nicht zu den Migranten zählen, aber bei denen ebenfalls eine starke Tendenz zur sozialen Ausgrenzung besteht (z.B. Roma). Allerdings ließen sich zahlreiche Aspekte der hier beschriebenen Analyse und Bildungsherausforderungen auch auf diese Gruppen übertragen.

[3] Die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) ist eine international angelegte Vergleichsstudie der Leistungen 15jähriger Schülerinnen und Schüler, die im Dreijahreszyklus durchgeführt und von der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) koordiniert wird.

[4] Übersicht im Anhang.

[5] Gemeinsamer Bericht 2008 des Rates und der Kommission „ Wissen, Kreativität und Innovation durch lebenslanges Lernen “, Februar 2008.

[6] Kinder von Drittstaatsangehörigen haben gleichen Zugang zu Bildung wie Kinder mit der Staatsangehörigkeit des Aufnahmestaates, wenn sie in den Geltungsbereich der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 vom 3.10.2003, S. 12) und/oder der Richtlinie 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. L 16 vom 23.1.2004, S. 44) fallen.

[7] Das Grünbuch stützt sich auf eine umfassende Forschungs- und Dokumentenanalyse (siehe Literaturverzeichnis im Anhang), angefangen von den Arbeiten von Eurydice und der OECD zur Bildung von Migrantenkindern bis hin zu einer Dokumentenrecherche des Europäischen Forums für Migrationsstudien der Universität Bamberg. Die Problematik wurde mit der Peer-Learning-Gruppe 'Bildungszugang und soziale Integration' im Rahmen des Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ erörtert.

[8] Siehe Mikrozensus in Deutschland, 2005; „Ethnicity and education: the evidence on minority ethnic pupils aged 5 – 16“, im Vereinigten Königreich 2006; „Scolarizzazione dei minori immigrati in Italia“, CENSIS 2007 in Italien.

[9] Bloem und Diaz (2007) berichten über eine Schule im dänischen Aarhus, die von keinen einzigen Schüler dänischer Herkunft besucht wird; McGorman und andere (2007) beschreiben die Lage in Dublin 15; Burgess und andere (2006) berichten, dass in Bradford (VK) 59 % der Kinder homogene Schulen besuchen; Karsten und andere (2006) schildern ähnliche Entwicklungen in den Niederlanden.

[10] EU-SILC (Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen), 2005.

[11] Tabelle im Anhang und OECD (2006). Bestätigt wird dies u.a. durch Studien von Jacobs, Hanquinet & Rea (2007); hingegen kamen z.B. Kristen und Granato (2004) bei anderen Forschungsarbeiten zu dem Schluss, dass nach einer Vergleichsanalyse unter Einbeziehung des sozioökonomischen Status die Unterschiede zwischen Migranten/Inländern weitgehend verschwinden.

[12] Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) bildet einen gemeinsamen EU-Rahmen für die Zusammenführung nationaler Qualifikationsrahmen. Dadurch sollen sich Transparenz und Übertragbarkeit in einem Mitgliedstaat erworbener Qualifikationen verbessern und diesbezügliche Probleme für EU-Migranten vermindert werden.

[13] Esser (2006).

[14] Eine breite Palette von Forschungsarbeiten, vor allem in den USA, hat sich damit befasst, welchen Einfluss die Erwartungen der Eltern und der Gemeinschaft auf die Schulleistungen verschiedener ethnischer Gruppen haben. Eine wegweisende Untersuchung wurde von Ogbu (1991) durchgeführt.

[15] Lissabonner Ziele: Fortschritte im Bereich allgemeine und berufliche Bildung – Indikatoren und Benchmarks, 2007.

[16] Wiley (1977).

[17] Siehe OECD 2006, Where immigrant students succeed.

[18] Eine wegweisende Studie hierzu wurde von Coleman u. a. (1966) erstellt; darin wird nachgewiesen, dass Minderheitsschüler in segregierten Schulen hinter ihrem Potential zurückbleiben. Farley (2005) hat neuere Forschungsarbeiten zum Einfluss Gleichaltriger auf die schulische Leistung gesichtet und seine Schlussfolgerungen stützen im Wesentlichen frühere Ergebnisse.

[19] Tabelle im Anhang.

[20] Schofield (2006). Die Auswirkungen einer frühen Differenzierung der Schüler für die Chancengleichheit im Bildungswesen sind bereits in der Mitteilung der Kommission über Effizienz und Gerechtigkeit in den europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung behandelt worden.

[21] So machten in Deutschland 1999 Migrantenschüler 9,4 % der gesamten Schülerpopulation, aber 15 % der Sonderschüler aus. Siehe auch EUMC (2004). Die Europäische Agentur für Sonderpädagogik führt derzeit eine Vergleichsanalyse der Situation von Migrantenschülern an Sonderschulen in 23 Mitgliedstaaten durch. Die Ergebnisse dürften Anfang 2009 veröffentlicht werden.

[22] Rutter und andere (1979).

[23] Siehe Eurydice-Bericht über die schulische Integration von Einwandererschülern (2004); eine Aktualisierung erfolgt 2008.

[24] Eurydice-Bericht über schulische Integration von Einwandererschülern (2004).

[25] Siehe Grundlage für die Reform der bildungspolitischen Schwerpunktbereiche in Frankreich.

[26] Siehe Beispiele im Anhang.

[27] Siehe Mitteilung der Kommission über Effizienz und Gerechtigkeit in den europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung, KOM(2006) 481 endgültig und Schussfolgerungen des Rates der Bildungsminister vom November 2007 über die allgemeine und berufliche Bildung als Schlüsselfaktor der Lissabon-Strategie.

[28] Spies, Büchel und Wagner (2003) haben beispielsweise festgestellt, dass für Kinder mit Migrationshintergrund der Besuch eines Kindergartens die Wahrscheinlichkeit nachhaltig erhöht, als Schüler eine höhere Sekundarschule zu besuchen.

[29] Ein bekanntes und gut ausgewertetes Beispiel ist das HeadStart-Programm in den USA, auf das im Anhang verwiesen wird.

[30] Magnetschulen sind ursprünglich in den späten 70iger Jahren in den USA entstanden und beruhen auf den Prinzip, durch interessante und attraktive Curricula und Aktivitäten Schüler aus einer breiten Palette aus Mittelklasse-Nachbarschaften anzulocken. So kann die sozioökonomische Balance an der Schule wiederhergestellt und das Bildungsangebot in benachteiligten Stadtteilen verbessert werden. Auch in Europa wurden gewisse Erfahrungen mit Magnetschulen gesammelt – siehe http://schulpreis.bosch-stiftung.de.

[31] McKinsey-Bericht (2007).

[32] Siehe Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates über Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, insbesondere Nummer 6 (soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz) und Nummer 9 (Kulturbewusstsein).

[33] KOM(2005) 389.

[34] Ratsdokument 14615/04.

[35] Richtlinie 77/486/EWG des Rates vom 25. Juli 1977 über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern, ABl. L 199 vom 6.8.1977, S. 32–33.

[36] Siehe KOM(94) 80 und Eurydice-Bericht 2004.

[37] Eurydice-Bericht 2004.

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