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Document 51999IE0851

    Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema «Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk»

    ABl. C 329 vom 17.11.1999, p. 30 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

    51999IE0851

    Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema «Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk»

    Amtsblatt Nr. C 329 vom 17/11/1999 S. 0030


    Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema "Die Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Einigungswerk"

    (1999/C 329/10)

    Der Wirtschafts- und Sozialausschuß beschloß auf seiner Plenartagung am 28. Januar 1999 gemäß Artikel 23 Absatz 3 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zu dem vorgenannten Thema auszuarbeiten sowie gemäß Artikel 11 Absatz 4 und Artikel 19 Absatz 1 der Geschäftsordnung einen Unterausschuß zur Vorbereitung der diesbezüglichen Arbeiten einzusetzen.

    Der Unterausschuß nahm seinen Entwurf einer Stellungnahme am 30. August 1999 an. Berichterstatterin war Frau Sigmund.

    Der Ausschuß verabschiedete auf seiner 366. Plenartagung (Sitzung vom 22. September 1999) mit 116 gegen 2 Stimmen bei 13 Enthaltungen folgende Stellungnahme.

    1. Einleitung

    1.1. Auf Initiative seiner Präsidentin Beatrice Rangoni Machiavelli wird der Ausschuß im Oktober dieses Jahres eine Konferenz abhalten, die sich mit der Rolle und dem Beitrag der organisierten Zivilgesellschaft zum europäischen Aufbauwerk beschäftigen wird. Drei Arbeitsgruppen sollen im Rahmen dieser Konferenz konkrete Vorschläge erarbeiten. Das Thema der Veranstaltung entspricht der logischen Weiterentwicklung des vom Ausschuß in seiner Stellungnahme "Europa der Bürger"(1) 1992 entwickelten Konzeptes. Dementsprechend soll diese Konferenz kein in sich abgeschlossenes Ereignis sein, sondern Signale für das Programm des Ausschusses der nächsten Jahre setzen.

    1.2. Die vorliegende Stellungnahme des Ausschusses hat ein Unterausschuß mit der Zielsetzung erarbeitet, durch entsprechende Vorarbeiten den Ablauf dieser Veranstaltung zu unterstützen. Die Mitglieder des Unterausschusses sahen es nicht als ihre Aufgabe an, fertige Lösungen anzubieten, sondern bemühten sich, die Thematik zu systematisieren, die Akteure zu identifizieren und den Aktionsrahmen für konkrete Vorschläge in einem institutionellen Umfeld abzustecken. Im letzten Teil des Berichtes werden konkrete Lösungsansätze vorgestellt, die als Diskussionsbasis in den einzelnen Arbeitsgruppen der Konferenz dienen könnten.

    2. Allgemeine Bemerkungen

    2.1. Die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts erleben einen tiefgreifenden Wandel, der nicht nur Inhalte, sondern auch Strukturen ihrer jeweiligen Lebensbereiche umfaßt.

    2.2. Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Europa soziale Rechte eingeführt, aus denen sich im 20. Jahrhundert der Sozialstaat entwickelte. Ihre Bedeutung für Frieden, politische Freiheit, wirtschaftliche Dynamik und sozialen Zusammenhalt ist unbestritten. Andererseits besteht aber auch Einigkeit über die Notwendigkeit, den stattfindenden Veränderungen neuen Herausforderungen, wie der Globalisierung, zu begegnen, wobei allerdings in der Diskussion über Form und Inhalt dieser Veränderungen noch viele Fragen offen sind.

    2.3. Selbstverständlich wird die Reformdebatte auch auf Gemeinschaftsebene geführt. Die Evolution der Zielsetzungen von den Gründungsverträgen bis zum Vertrag von Amsterdam erfordert strukturelle Reformen, die zügig in Gang gesetzt werden sollten.

    2.3.1. Dabei sollte nicht vergessen werden, daß Motor der europäischen Integrationsidee der Gedanke der Friedenssicherung und nicht rein wirtschaftliche Erwägungen war, der in der Präambel zum EGKS-Vertrag auch an erster Stelle genannt wird (Erhaltung des Friedens, Beitrag zu einem organisierten und lebendigen Europa und Erhaltung und Hebung des Lebensstandards).

    2.3.2. Inzwischen haben sich die Aufgaben der Europäischen Union entsprechend erweitert; der Bogen reicht jetzt von den ursprünglichen - rein wirtschaftlichen - Kompetenzen über Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz bis hin zu Bildungswesen, Sozialpolitik und Beschäftigung.

    2.3.3. All dies zeigt, daß "Europäische Integration" nicht als Zustand, sondern als Prozeß zu verstehen ist, der in sich einem Wandel unterworfen ist, aber auch imstande ist, auf Wandel zu reagieren. In diesem Sinn ist auch die Präambel zum Europäischen Unionsvertrag von Maastricht zu verstehen, die die Europäische Union nicht endgültig determiniert, sondern den Prozeß durch die Formulierung "immer engere Union" bewußt offenhält.

    2.4. Die Europäische Union hat sich gegenwärtig mit so sensiblen und teilweise stark emotional besetzten Themen wie Erweiterung, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und einer ganzen Reihe von institutionellen Fragen zu beschäftigen. Zusätzlich ist sie mit einem geringen Vertrauen der Unionsbürger in diese Gemeinschaft konfrontiert, welche der Europäischen Union mangelnde Effizienz vorhalten, auf Demokratiedefizite hinweisen und mehr Bürgernähe einmahnen. Dabei hätte die europäische Integration heute dringender denn je das Engagement und die Unterstützung der Bürger nötig. Beides scheint zur Zeit nicht ausreichend gewährleistet.

    2.5. Gerade im Zusammenhang mit diesem Begriff der (mangelnden) Bürgernähe wird immer wieder die "Zivilgesellschaft" (oder "Bürgergesellschaft") erwähnt. Sie wird in unterschiedlichsten Zusammenhängen zitiert und beschworen, ohne daß der Bezug immer klar ist. Es scheint fast so, als ob "Zivilgesellschaft" (oder "Bürgergesellschaft") zum Modewort geworden wäre, das oft gebraucht wird, ohne daß klar hervorgeht, was jeder, der dieses Wort gebraucht, wirklich meint. Es ist ein Erfahrungswert, daß eine Diskussion nur zu guten Ergebnissen führt, wenn zuerst Einvernehmen über deren Basis gefunden wurde. Dem Unterausschuß erschien es daher wesentlich, zunächst die historischen Wurzeln und die Entwicklung dieser Zivilgesellschaft darzustellen, um dann mit Hilfe wissenschaftlicher Theorien eine der tatsächlichen politischen Realität entsprechende Definition des Begriffs(2) vorzulegen.

    3. Historischer Überblick

    3.1. Die Geschichte des Begriffs der Zivilgesellschaft in der abendländischen politischen Theorie ist von einem wechselhaften Verständnis seines Inhalts geprägt, und nun kommt es darauf an, diese verschiedenen Deutungen durch eine umfassende Begriffsbestimmung zu überwinden.

    3.2. Bis zur Aufklärung bezeichnete der Begriff Zivilgesellschaft eine bestimmte Art des politischen Zusammenschlusses, nämlich den rechtlich geregelten. Für Aristoteles war die koinonia politikè eine gesellschaftliche Dimension, die alle anderen Dimensionen umfaßt und überragt. Cicero sprach in diesem Zusammenhang von der societas civilis. Auch im Mittelalter bleibt diese politische Definition der Zivilgesellschaft maßgeblich; sie wird jedoch um eine Nuance erweitert, denn nunmehr wird sie als Gegensatz zur religiösen Gemeinschaft verstanden. Damit wurde der Begriff verweltlicht. Bemerkenswert ist hierbei, daß die Begriffe Zivilgesellschaft und Staat in dieser Tradition fast austauschbar sind. So gesehen ist der Bürgersinn der moralische Wert, der mit der Zivilgesellschaft verbunden wird. Dieser beinhaltet gemäß der römischen Tradition die Übernahme der Bürgerpflichten durch die Mitglieder der Zivilgesellschaft.

    3.3. Ab etwa 1750 scheint sich die Bedeutung des Begriffs Zivilgesellschaft nahezu umzukehren. Er wird nicht mehr im semantischen Umfeld des Staatsbegriffs angesiedelt, sondern bezeichnet immer mehr einen Gegenpol zum Staat. Das aufsteigende Bürgertum mit seinem liberalen Gedankengut hat sich nämlich des Begriffs der Zivilgesellschaft bemächtigt, um einen von der Politik abgegrenzten gesellschaftlichen Bereich, nämlich den Markt und das Privatleben, konzeptionell zu erfassen. Die damit assoziierte moralische und soziale Tugend ist nicht mehr der Bürgersinn, sondern die Kultiviertheit, d.h. gute Sitten und tadellose Umgangsformen im mitmenschlichen Bereich.

    3.4. Dieses liberale Konzept hatte Ferguson vor Augen, als er das Hohelied der Zivilgesellschaft sang. Gerade dieser nichtpolitische Ansatz störte Denker des 19. Jahrhunderts wie Hegel und Marx, die ihn als parteiisch und einseitig anprangerten. Bei ihnen wurde der Begriff der Zivilgesellschaft weitgehend mit dem atomistischen Weltbild der Bourgeoisie und der formalistischen Verrechtlichung der Beziehungen durch das bürgerliche Recht assoziiert.

    3.5. Liberalismus und Sozialismus führten Streit um den Begriff der Zivilgesellschaft, die nunmehr als Gegenpol zur politischen Sphäre definiert wurde: Ersterer sah in ihr den Hort der individuellen Freiheit und der vertraglichen Assoziation, während der andere sie als Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse und der Klassenunterschiede betrachtete.

    3.6. Bemerkenswert ist, daß seit dem 19. Jahrhundert ein Teil der Politik- und Sozialtheoretiker diesen Gegensatz zwischen einer "antik-mittelalterlichen" und einer "neuzeitlich-bürgerlichen" Sichtweise der Zivilgesellschaft sowie die Aufspaltung innerhalb letzterer in ein liberales und ein sozialistisches Lager zu überwinden sucht.

    3.7. Es bildet sich eine neue, von Tocqueville, Durkheim und Weber inspirierte Interpretation der modernen Zivilgesellschaft heraus, die sich durch die gleichzeitige Betonung von vier Aspekten zu thematisieren sucht:

    - Die Zivilgesellschaft ist von mehr oder weniger formalisierten Institutionen geprägt: Dieses Netz bildet eine eigenständige gesellschaftliche Sphäre sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber dem familiären und häuslichen Leben im engeren Sinne. Diese Institutionen haben zahlreiche Funktionen (nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch religiöser, kultureller, sozialer Natur usw.) und spielen eine entscheidende Rolle für die gesellschaftliche Integration;

    - Der einzelne gehört den Institutionen der Zivilgesellschaft freiwillig an: Die Mitglieder der Verbände, Unternehmen und Gruppen, die die Zivilgesellschaft ausmachen, werden niemals zum Beitritt gezwungen, weder aufgrund einer politischen Verpflichtung noch aufgrund einer angeblich "natürlichen" Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen;

    - Gerüst der Zivilgesellschaft ist das Recht: die demokratischen Grundsätze der Achtung des Privatlebens, der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit bilden das normative Gerüst der Zivilgesellschaft. Diese ist unabhängig vom Staat, doch keineswegs ein rechtsfreier Raum;

    - Die Zivilgesellschaft ist ein Ort der kollektiven Willensbildung und der Bürgervertretung: Die Organisationen der Zivilgesellschaft bilden einen wichtigen "Verband" zwischen dem einzelnen und dem Staat. Ohne ihre Vermittlung wäre kein demokratischer Diskurs möglich.

    - Die Zivilgesellschaft schafft einen Raum der Subsidiarität, wie er von einer Strömung der christlichen Lehre verstanden wird; dieses Konzept der Subsidiarität ermöglicht es, Ebenen der Macht zu schaffen, die unabhängig vom Staat sind, jedoch von diesem anerkannt werden.

    4. Die Zivilgesellschaft: Ein gemeinsamer Nenner für die demokratischen Bewegungen in Europa

    4.1. Die Veränderungen der europäischen Gesellschaften waren bestimmend dafür, daß in den letzten Jahren international der Begriff der "Zivilgesellschaft" in Praxis und Lehre umfassend behandelt wurde. Es ist bemerkenswert, daß die Bürgergruppen und -bewegungen West- und Osteuropas heute trotz grundverschiedener historischer Entwicklungen gemeinsam auf dieses Thema zugehen. Auf der Suche nach einem Gesellschaftsmodell, das zwischen unbeschränktem Individualismus und tendenziell obrigkeitlicher Ordnung ein Gleichgewicht anbietet, wurde die "civil society" zum viel diskutierten Thema.

    4.2. Während in Westeuropa und den Vereinigten Staaten die Frage im Vordergrund stand, wie die Bürger wieder Gemeinsinn entwickeln können und damit die in einer Gemeinschaft notwendigen sozialen Bindungen gestärkt werden, ging es in Mittel- und Osteuropa zunächst einmal um den Abbau staatlicher Allmacht, die ein Erbe kommunistischer Herrschaftssysteme darstellte.

    4.3. Die Schwierigkeiten, mit denen die westlichen Staaten heute konfrontiert sind, liegen nicht nur im wirtschaftlichen, sozialen oder finanziellen Bereich. Sie hängen vor allem mit den sich von innen heraus wandelnden Organisationsformen der Zivilgesellschaft sowie mit den Grenzen des öffentlichen Handelns in einer komplexen Gesellschaft zusammen.

    4.4. Den Staaten Mittel- und Osteuropas hingegen war und ist es zum Teil noch nicht umfassend gelungen, einerseits Vertrauen in die neuen staatlichen Institutionen aufzubauen und andererseits die für die Existenz einer starken Zivilgesellschaft notwendigen Strukturen zu schaffen. Für die Europäische Union ist dieser Umstand im Hinblick auf eine Erweiterung von besonderer Bedeutung. Auch der Ausschuß hat bereits zahlreiche Initiativen gesetzt, um die MOE-Staaten bei ihrer Aufbauarbeit zu unterstützen; die Fortführung dieser Aktivitäten hat im Rahmen seiner laufenden Arbeiten einen hohen Stellenwert.

    5. Die Zivilgesellschaft - Versuch einer Beschreibung

    5.1. Es gibt keine verbindliche Theorie der Zivilgesellschaft. Der Begriff ist zu sehr mit konkreten historischen Entwicklungen in einzelnen Gesellschaften verbunden und zu normativ, um mehr an Verbindlichkeit zuzulassen, als das Bekenntnis zum demokratischen System. Die Zivilgesellschaft ist ein Sammelbegriff für alle Formen sozialen Handelns von einzelnen oder Gruppen, die nicht auf Initiative des Staates zurückgehen und nicht von diesem gelenkt werden. Das Besondere der Zivilgesellschaft ist, daß sie ein dynamischer Begriff ist, der gleichzeitig einen Zustand wie eine Handlung beschreibt. Das partizipatorische Modell der Zivilgesellschaft enthält auch die Chance, daß das Vertrauen in das demokratische System gestärkt wird und dadurch ein positiveres Klima für Reformen und Innovation entsteht.

    5.2. Einige Bausteine im Konzept der Zivilgesellschaft

    5.2.1. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft ist ein kultureller Prozeß, so daß "Kultur"(3) begriffsbestimmender Faktor der Zivilgesellschaft ist und zu allen in der Folge angeführten Begriffen in einem Zusammenhang steht. Folgt man der - sehr weiten - Definition von Kultur als Orientierungssystem von Werten, die für die Mitglieder einer Gesellschaft relevant sind, dann strukturiert Kultur auch das Handlungsfeld der Zivilgesellschaft.

    - Pluralität: In einem pluralistischen Gemeinwesen bestimmt jedes Mitglied seinen Beitrag zur Gemeinschaft, die ihrerseits auf die Verbesserung der Bedingungen des Zusammenlebens ausgerichtet ist, selbst. Dies bezieht sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form des Handelns, so daß die Zivilgesellschaft auch durch die Art des Ideenaustausches und ihrer sozialen Kontakte die vielfältigen Gruppierungen miteinander verknüpft und damit eine gewisse Stabilität ihres kommunikativen Handelns bietet. Bemerkenswert dabei ist, daß dieser öffentliche Diskurs sich nicht auf reine Kommunikation beschränkt, sondern daß die Beteiligten auch normative Inhalte austauschen. Eine solche Abstimmung unterschiedlicher Meinungen und Einstellungen geschieht aber nicht automatisch: der permanente Wille zur Konsensbereitschaft ist gefordert. In einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft erkennt jedes Individuum das andere als gleichberechtigt an und setzt sich mit ihm in einer öffentlichen Debatte auseinander. All dies geschieht nach den Grundsätzen von Toleranz und Freiwilligkeit. Als Beispiel in diesem Zusammenhang sei auf die demokratische Kultur des Mehrparteiensystems verwiesen.

    - Autonomie: Die Bürger bestimmen die Strukturen ihres sozialen Handelns selbst. Allerdings muß dies im Rahmen eines - von seinen Bürgern geformten - Staates geschehen, der durch verfassungsmäßig verankerte Grundrechte den Rahmen für das Funktionieren der Gesellschaft gewährleistet. Autonomie beinhaltet aber auch das Vorhandensein von autonomen Institutionen zur Sicherung von ideellen Werten wie Bildung, Religion und Kultur als Garanten für die Würde des Menschen als nicht ausschließlich vom Staat zu garantierendes Grundrecht.

    - Solidarität: Die Zivilgesellschaft wird getragen von einer "Kultur der Solidarität", die sich manifestiert in der Bereitschaft zur Selbstbegrenzung und Übernahme von Pflichten als Voraussetzung für solidarisches Handeln. Der Bürger handelt in der Summe seiner Biographien (Kultur, Erziehung, Bildung, Erfahrung) und profitiert in der Form der Interaktion vom anderen.

    - Öffentlichkeit: Die Zivilgesellschaft setzt kommunikative Handlungen und erzeugt dadurch einen sozialen Raum, die "politische Öffentlichkeit". Diese "politische Öffentlichkeit" ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre Kommunikationsstrukturen sehr basisbezogen sind. Die Informationsgesellschaft ist zu einem sehr bestimmenden Faktor dieser Öffentlichkeit geworden. Auch wenn die Informationsgesellschaft als eine Art "nichtorganisierte Bürgergesellschaft" derzeit noch bis zu einem gewissen Grad eine Elitegesellschaft ist, ist abzusehen, daß sie tiefgreifende Veränderungen bedingen wird: dies betrifft nicht nur Strukturen der Zivilgesellschaft, sondern auch ihr Verhalten.

    - Beteiligung: Der Bürger kann in einer lebendigen Demokratie auf zweierlei Weise politisch vertreten bzw. aktiv werden:

    1. durch eine Reihe politischer Ämter auf verschiedenen Ebenen: In diesem Fall besteht die Bürgerbeteiligung im wesentlichen in einer Teilnahme an den Wahlkampfdebatten und den anschließenden Wahlen;

    2. durch das Handeln von Interessengruppen und Bürgerinitiativen: In diesem Fall sind die Bürger Mitglied in Vereinigungen, die sich ein spezialisiertes und basisbezogenes Wissen über die Aspekte des jeweiligen gesellschaftlichen Bereichs verschaffen. Diese Organisationen nehmen an den öffentlichen Informations- und Kommunikationsprozessen teil. Damit wirken sie an der Bildung einer gemeinsamen Vorstellung von Gemeinwohl mit. Diese Art der Bürgerbeteiligung entspricht dem Begriff der "Zivilgesellschaft".

    - Bildung ist ein grundlegender Bestandteil der Zivilgesellschaft. Mit Bildung werden die wesentlichen Werte menschlichen Zusammenlebens vermittelt. Die Akteure im Rahmen des Bildungswesens bestimmen die Maßstäbe, innerhalb derer sich die Zivilgesellschaft entwickelt. Deshalb kann Bildungspolitik in keinem Fall dem Staat allein vorbehalten sein.

    - Verantwortung: Die Zivilgesellschaft ist nicht nur der Ort der Wahrnehmung individueller Rechte: Diese Rechte sind mit Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl verbunden. Bei der Erfuellung dieser Pflichten müssen sich die Mitglieder der Zivilgesellschaft vor den anderen verantworten können. Aus diesem Grund ist die Zivilgesellschaft der ideale Ort, wo eine bestimmte Form von Gemeinsinn zum Ausdruck kommt, da sie eine Solidargemeinschaft ist.

    - Subsidiarität: Im Rahmen dieses politischen und sozialen Organisationsprinzips besitzt die untere Ebene einen prinzipiellen Vorrang; die höhere Ebene wird erst aktiv, wenn die untere Ebene überfordert ist. Im Bereich der Zivilgesellschaft muß Subsidiarität auch extern verstanden werden, d.h. als Empfehlung, es den Bürgern zu überlassen, sich selbst mit den sie betreffenden Problemen zu befassen.

    5.3. Die Zivilgesellschaft in der gegenwärtigen Debatte

    5.3.1. Im großen und ganzen findet die theoretische Auseinandersetzung aus drei Positionen heraus statt:

    - Die Liberale Tradition sieht den Bürger als ökonomisch-rationalen Bestandteil der Gesellschaft, der primär durch seine Rechte und Pflichten definiert wird. Er organisiert sich in Interessengruppen und achtet darauf, daß der Staat die universell gültigen individuellen Freiheitsrechte garantiert. Die zivile Gesellschaft wird durch die möglichst umfassende Durchsetzung individueller Bürgerrechte verwirklicht. Der Schwerpunkt liegt in der Anwendung liberaler Prinzipien.

    - Die Theorie des Kommunitarismus versteht den Bürger als Mitglied einer durch selbstgewählte Werte gebildeten Gemeinschaft. Er muß sein Verhalten den Zielen der Gemeinschaft anpassen, die ihrerseits wieder als Netzwerk zwischen Individuum und Staat notwendig ist.

    - Die dritte theoretische Position ist die diskursive Demokratietheorie, die zwischen Liberalen und Kommunitariern vermittelt. Sie beruht auf den Begriffen der Kommunikation und Interaktion: Im Rahmen dieser Kommunikationsstruktur schafft die Zivilgesellschaft eine "politische Öffentlichkeit". In den hier stattfindenden demokratischen Diskurs werden nicht nur Meinungen, sondern auch normative Inhalte eingebracht; damit wird aus dem Informationsprozeß auch ein Entscheidungsprozeß, in dessen Rahmen sich die Zivilgesellschaft auf gemeinsame Werte verständigt. Deren Durchsetzung, beispielsweise bei Fragen der Gerechtigkeit oder des Minderheitenschutzes, hat dann durch die demokratischen Institutionen (den Staat) zu erfolgen.

    6. Staat, Markt, Zivilgesellschaft

    6.1. Es ist unbestritten, daß der soziale Rechtsstaat die Entwicklung der politischen Freiheit, die wirtschaftliche Dynamik und den sozialen Zusammenhalt gefördert hat. Das auf der Achse "Staat-Markt" aufbauende duale Modell früherer politischer und ökonomischer Theorien vernachlässigte mehr oder minder jene Beziehungen außerhalb dieser Dualität, die der menschlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit am nächsten kommen.

    6.2. Als 3. Teilordnung des staatlichen Verbundes kommt deshalb der Idee der Zivilgesellschaft große Bedeutung zu. Während das theoretische Modell der Staatsgesellschaft den Bürger in erster Linie als Staatsbürger (in seinen staatlich vorgegebenen Beziehungen) sieht, definiert das Modell der Wirtschaftsgesellschaft den Bürger als Marktteilnehmer. Der Bürger im Sinne der Zivilgesellschaft ist Mittler zwischen beiden, indem er alle Aspekte auch selbst verkörpert (homo politicus - homo oeconomicus - homo civicus).

    7. Die organisierte Zivilgesellschaft

    7.1. Abstrakt gesprochen läßt sich die organisierte Zivilgesellschaft definieren als Gesamtheit aller Organisationsstrukturen, deren Mitglieder über einen demokratischen Diskurs- und Verständigungsprozeß dem allgemeinen Interesse dienen und welche auch als Mittler zwischen öffentlicher Gewalt und den Bürgern auftreten. Ihre positive Rolle hängt entscheidend davon ab, inwieweit die Akteure der organisierten Zivilgesellschaft bereit sind, in einem öffentlichen und demokratischen Diskurs zu einer Verständigung beizutragen und in einem demokratisch erfolgten Willensbildungsprozeß erzielte Ergebnisse zu akzeptieren.

    7.2. Dynamisch formuliert könnte man die organisierte Zivilgesellschaft als einen Ort des kollektiven Lernens bezeichnen. In komplexen Gesellschaften, die nicht zentral gesteuert werden können, lassen sich Probleme nur durch die aktive Beteiligung der Bürger lösen. Verschiedene gesellschaftliche Experimentierformen sind ebenso wie pluralistische Diskussionsforen Voraussetzung für eine "intelligente" Demokratie, die einen kontinuierlichen gesellschaftlichen Lernprozeß hervorrufen kann. So gesehen ist die Zivilgesellschaft "Schule für Demokratie".

    7.3. Dies gilt in analoger Weise auch für den Gemeinschaftsbereich; in diesem Fall kommt dazu, daß der Nationalstaat durch den europäischen Integrationsprozeß relativiert wird und immer mehr Menschen spüren, daß die klassischen Souveränitätsansprüche des Nationalstaates nicht mehr der sozialen Wirklichkeit entsprechen. Beschäftigungs- und Umweltprobleme, Fragen des Wohlstandes und der sozialen Gerechtigkeit lassen sich nicht mehr allein nationalstaatlich behandeln.

    8. Die Akteure der organisierten Zivilgesellschaft

    8.1. Zur organisierten Bürgergesellschaft zählen im einzelnen:

    - die sogenannten "Arbeitsmarktparteien", also die Sozialpartner;

    - Vertretungsorganisationen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, die nicht Sozialpartner im engeren Sinn sind;

    - NGOs ("Non-Governmental Organisations", also Nicht-Regierungsorganisationen), in denen Menschen gemeinsame Ziele verfolgen, z. B. Umweltorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, Verbraucherschutzverbände, Wohlfahrtseinrichtungen, Aus- und Weiter-bildungseinrichtungen etc.;

    - CBOs ("Community-Based Organisations", also Organisationen, die aus der Mitte und von der Basis der Gesellschaft her entstehen und mitgliederorientierte Ziele verfolgen), z. B. Jugendorganisationen, Familienverbände, und alle Organisationen, über die die Bürger am Leben in den Kommunen teilnehmen können;

    - Religionsgemeinschaften.

    9. Die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene - Der zivile Dialog

    9.1. Im europäischen Integrationsprozeß hat sich die Zivilgesellschaft auch auf Gemeinschaftsebene formiert, wobei die Organisationsdichte und der Grad der Repräsentativität dieser Vertretungen unterschiedlich sind. Der Bogen reicht hier von ad hoc agierenden Lobbies bis zu hochorganisierten Vereinigungen. Alle diese Organisationen machen einen Vertretungsanspruch und Mitspracherechte für ihren Bereich geltend. Ein konstruktiver Beitrag zum Aufbauwerk Europas ist aber nur von jenen Organisationen zu erwarten, die über gewisse organisatorische Grundstrukturen verfügen und in ihrem Bereich qualitativ und quantitativ repräsentativ sind.

    9.2. Ein verbindendes Wesensmerkmal dieser Akteure der organisierten Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene ist ihre von der nationalen Ebene übernommene Mittlerfunktion. Als Beispiel dafür dienen die europäischen Sozialpartner, die ihre nationalen Kommunikationsstrategien in ein institutionalisiertes Verhandlungsverfahren auf Gemeinschaftsebene einbrachten. Dieser Soziale Dialog ist in seinem Wesen ein auf Konsens angelegtes Entscheidungsverfahren, dessen Teilnehmer seit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam auf quasi verfassungsmäßiger Basis agieren. Die Bedeutung des Sozialen Dialogs in Kernbereichen der Sozialpolitik, insbesondere für die Arbeitsbeziehungen, ist unbestritten. Besonders hervorzuheben ist aber seine Vorbildfunktion bei der Umsetzung einer der organisierten Zivilgesellschaft immanenten Kommunikationsform, die den Dialog als evolutiven und ergebnisorientierten Prozeß versteht. Damit haben die Teilnehmer am Sozialen Dialog Maßstäbe für eine Form der politischen Kultur gesetzt, die sich in Bereichen außerhalb des Sozialen Dialogs fortsetzen sollte.

    9.3. Es gibt bereits zahlreiche Ansätze zur Schaffung von Strukturen eines demokratischen Diskurses auf europäischer Ebene neben dem Sozialen Dialog. Im Rahmen der Kommission spielt die Generaldirektion V bei der konkreten Förderung des Zivilen Dialogs eine zentrale Rolle. Auf ihre Initiative hin wurde im März 1996 das erste "Europäische Forum für Sozialpolitik" abgehalten, bei welchem das Konzept "Dialog mit dem Bürger" geprägt wurde. In ihrer Mitteilung "Die Förderung der Rolle gemeinnütziger Vereine und Stiftungen in Europa"(4) übernimmt die Kommission diesen Vorschlag und formuliert den "allmählichen Aufbau eines wirklichen Dialogs mit dem Bürger auf europäischer Ebene parallel zum politischen Dialog mit den nationalen Behörden und parallel zum Sozialen Dialog mit den Sozialpartnern" als politisches Ziel. Der Ausschuß hat sich in seiner Stellungnahme zu dieser Mitteilung(5) mit diesem Themenbereich weiter auseinandergesetzt und u.a. festgestellt: "... Indem sich die Bürger organisieren, können sie den politischen Entscheidungsträgern ihre Auffassungen zu verschiedenen gesellschaftlichen Fragen besser vermitteln. Die Stärkung der demokratischen Strukturen außerhalb des parlamentarischen Bereichs ist eine Möglichkeit, den Begriff 'Europa der Bürger' mit konkretem Inhalt zu fuellen und ihm mehr Bedeutung zu verleihen".

    9.4. Der Zivile Dialog ist prädestiniert als Kommunikationsforum der organisierten Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene. Allerdings wäre es unrichtig, ihn als Alternative oder Konkurrenz zum Sozialen Dialog zu betrachten. Vielmehr muß der Zivile Dialog als notwendige Ergänzung des Sozialen Dialogs betrachtet werden, an dem die Sozialpartner nach Maßgabe der zu behandelnden Problembereiche ebenso teilnehmen werden wie alle anderen zuständigen Akteure der organisierten Zivilgesellschaft. Es liegt im Interesse Europas, alle Strukturen, die es den Bürgern Europas möglich machen, am gemeinsamen Aufbauwerk mitzuwirken, zu verbessern und auszubauen.

    9.5. Eine politische Öffentlichkeit für Europa muß geschaffen werden, die Transparenz bietet und Mitarbeit einfordert. In modernen Gesellschaften wird diese politische Öffentlichkeit in erster Linie von den Massenmedien geschaffen, die jedoch in der Regel wenig Interesse am Thema "Europa" haben. Berichte beschränken sich zumeist auf Tagesthemen und auflagensteigernde Hinweise auf Unzulänglichkeiten. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß das Mißtrauen der Bürger gegen "Brüssel" - als Synonym für volksferne Bürokratie und nicht durchschaubare Entscheidungsstrukturen - gewachsen ist. "Mangelnde Bürgernähe" und "Demokratiedefizit" sind zu Schlagworten im Zusammenhang mit Europa geworden.

    9.6. Der organisierten Zivilgesellschaft kommt deshalb auf europäischer Ebene die wichtige Rolle zu, ihren Beitrag in einem öffentlichen und demokratischen Diskurs zu leisten. Der Ausschuß ist aufgrund seiner Aufgabenstellung als Forum der organisierten Zivilgesellschaft in der Lage, sowohl Bürgernähe zu garantieren als auch zum demokratischen Willensbildungsprozeß beizutragen. Seine Mitglieder sind unmittelbare Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft und repräsentieren in ihrer Gesamtheit jenes Netzwerk an kommunikativen Handlungen, die als "Lebenswelt" die notwendige Aktionsbasis der Zivilgesellschaft bilden.

    9.7. Der Ausschuß bedauert in diesem Zusammenhang, daß sowohl in der Mitteilung der Kommission zur "Förderung der Rolle gemeinnütziger Vereine und Stiftungen in Europa" als auch im Bericht über das zweite Europäische Forum für Sozialpolitik 1998 nur die Kommission und das Europäische Parlament als Orte des Dialogs mit dem Bürger genannt werden, der Ausschuß aber unerwähnt bleibt.

    10. Der Ausschuß als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft

    10.1. Die Römischen Verträge haben mit der Schaffung des Wirtschafts- und Sozialausschusses funktionalen Interessen Zugang zum europäischen Entscheidungsprozeß gewährt und den Ausschuß so zum Repräsentanten der organisierten Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene gemacht. Der Ausschuß kann daher seine besondere Position als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft sowohl auf seinen Platz im institutionellen Gefüge und seine Zuständigkeiten als auch auf seine Zusammensetzung zurückführen. Er sollte daher mit der Konferenz im Oktober dieses Jahres deutliche Zeichen für die weitere Entwicklung des Zivilen Dialogs setzen.

    10.2. Die Ausschußmitglieder

    10.2.1. Gemäß Art. 257 EGV besteht der Ausschuß aus "Vertretern der verschiedenen Gruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, insbesondere der Erzeuger, der Landwirte, der Verkehrsunternehmer, der Arbeitnehmer, der Kaufleute und Handwerker, der Freien Berufe und der Allgemeinheit". Diese lediglich beispielhafte Aufzählung ist bewußt offen und entspricht so am besten dem evolutiven Charakter der organisierten Zivilgesellschaft.

    Es bleibt die Frage offen, ob die aktuelle Mitgliederstruktur des Ausschusses den gesellschaftlichen Wandel der letzten 40 Jahre tatsächlich widerspiegelt.

    10.2.2. Die Mitglieder des Ausschusses werden in der Regel von nationalen Vertretungsorganisationen nominiert, an deren Weisungen sie aber nicht gebunden sind. Sie üben damit ein freies Mandat aus. Sehr wohl aber bringen die Ausschußmitglieder in ihre Arbeit jenen Sachverstand ein, der Anlaß für ihre Nominierung war. Sie vertreten in dieser Form die pluralistischen Interessen der organisierten Zivilgesellschaft. Zusätzlich haben die Ausschußmitglieder ihre Gemeinwohlverpflichtung zu beachten ("Die Mitglieder des Ausschusses üben ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft aus". Art. 258, Abs. 3 EGV). Damit ist die politische Entscheidungsfindung im Ausschuß nicht automatisch das Ergebnis des Wettbewerbs von Interessengruppen, und die Arbeitsweise des Ausschusses entspricht im großen und ganzen der Handlungsmaxime der organisierten Zivilgesellschaft. Auch die spezielle Form der Erarbeitung von Stellungnahmen des Ausschusses (Studiengruppe - Fachgruppe - Plenum) entspricht dem Konsensprinzip als Leitmotiv des kommunikativen Handelns der Zivilgesellschaft. So wird ein Teil eines allenfalls bestehenden Mangels an Diversität in der Mitgliederstruktur des Ausschusses durch die Kriterien der Ausübung ihrer Tätigkeit und die Form der Entscheidungsfindung ausgeglichen.

    10.2.3. Seine Rechtfertigung als Vertretungsinstanz der organisierten Zivilgesellschaft auf Gemeinschaftsebene erfährt der Ausschuß nicht nur durch seine Identität als Institution der Europäischen Gemeinschaft, sondern auch aus der Existenz seiner drei Gruppen. Der Ausschuß hatte dieses Fraktionsrecht aus dem Nominierungsleitfaden des Rates von 1958 in seine Geschäftsordnung übernommen, zunächst wohl, um die Ausschußarbeit zu erleichtern. Zusätzlich sollte aber verdeutlicht werden, daß sich im Ausschuß nicht nationale Delegationen, sondern europäische Gruppen mit gleichgelagerten Interessen zusammenfinden. Dem entspricht auch das Selbstverständnis des Ausschusses als Sprecher der organisierten Zivilgesellschaft.

    10.3. Die Rolle des Ausschusses im institutionellen Gefüge der Gemeinschaft

    10.3.1. Die Rolle des Ausschusses als beratendes Organ läßt sich am schlüssigsten definieren im Kontext seiner Beziehung zu anderen Organen, im besonderen zum Europäischen Parlament: Der Ausschuß garantiert die Umsetzung des partizipatorischen Modells der Zivilgesellschaft, er ermöglicht ihr die Mitwirkung am Entscheidungsprozeß und trägt zum Abbau eines gewissen "Demokratiedefizits" bei und unterstützt damit die Legitimität demokratischer Entscheidungsprozesse:

    10.3.2. Demokratie äußert sich durch den allgemeinen Willen, der durch Mehrheitsentscheidungen herbeigeführt wird. Damit die Minderheit diesen Mehrheitswillen akzeptieren kann, muß ein gewisses Maß an Einheit zwischen Mehrheit und Minderheit bestehen, sie müssen eine gemeinsame Identität besitzen. Das ist auf nationaler Ebene im allgemeinen kein Problem; hier wird (in weiter Auslegung des demos-Begriffes) diese Identität mit gemeinsamer Nationalität (bzw. gemeinsamem Aufenthalt in einem bestimmten Bereich), gemeinsamer Kultur, gemeinsamer Sprache und einer gemeinsamen Werteordnung definiert.

    10.3.3. Die demokratische Willensbildung auf europäischer Ebene benötigt aber zusätzliche Identitätskriterien, um eine europäische Identität schaffen zu können. Wie die Unionsbürgerschaft nur als Summe aller nationalen Staatsbürgerschaften definiert wird, ist "der Europäer" die Summe (bzw. Synthese) einer Vielzahl von (nationalen) Identitätskriterien, die in ihrer Gesamtheit auf gemeinsamer Tradition und den Wertvorstellungen der Demokratie und der Menschenrechte basieren.

    10.3.4. Das bedeutet aber, daß Demokratie auf europäischer Ebene - noch mehr als auf nationaler - verschiedene Partizipationsschienen anbieten muß, über die die Menschen in ihren verschiedenen Identitäten, bzw. nach ihren verschiedenen Identitätskriterien, vertreten werden und die der Heterogenität des europäischen Identitätsbegriffes Rechnung tragen.

    10.3.5. Das Europäische Parlament wird vom europäischen Bürger in seiner Eigenschaft als Staatsbürger (mit Niederlassung in einem bestimmten Mitgliedsstaat) gewählt, das heißt, er übt sein demokratisches Recht im Rahmen seiner nationalen (territorialen) Identität aus.

    10.3.6. Die Identität des Bürgers verwirklicht sich aber auch über seine Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen in der vielfältigen Form der organisierten Zivilgesellschaft. Diese Identitätskriterien, die seine Funktion im Rahmen der organisierten Zivilgesellschaft betreffen, werden durch die Vertretung des EP nicht abgedeckt. Genau diesen Identitätskriterien wird aber vom Ausschuß als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft Rechnung getragen: Der Ausschuß trägt damit zur Demokratisierung auf europäischer Ebene bei und kann sich dem Parlament gegenüber darauf berufen, einen echten Mehrwert im demokratischen Entscheidungsprozeß Europas darzustellen. Schon auf Grund seiner Kompetenzen kann der Ausschuß kein Konkurrent des Parlaments sein, sondern bildet eine sinnvolle Ergänzung dessen Legitimität.

    11. Maßnahmen zur Unterstützung der Rolle des Ausschusses

    11.1. Zusammenarbeit mit der Kommission: Die laufenden Arbeitsbeziehungen zur Kommission sind eng und werden von beiden Seiten als zufriedenstellend empfunden. Trotzdem sollten Kontakte zu den einzelnen Kommissaren aufgenommen werden, um zu erreichen, daß die Kommission den Ausschuß verstärkt im Vorfeld ihrer Beschlußfassung zu Stellungnahmen einlädt. Gerade in Fragen, die die gesellschaftlichen Gruppen des Ausschusses betreffen, sollte der Ausschuß in einem frühestmöglichen Stadium befaßt werden und die Gelegenheit haben, allenfalls eine Initiativstellungnahme zu beschließen.

    11.2. Zusammenarbeit mit dem Rat: Jede Ratspräsidentschaft gibt in der Regel einige inhaltliche Prioritäten vor. Der Ausschuß sollte die bereits gut funktionierende Zusammenarbeit in den Vorbereitungsphasen weiter ausbauen und während der jeweiligen Ratspräsidentschaft Begleitmaßnahmen setzen (Initiativstellungnahmen, Anhörungen und Veranstaltungen vor Ort, gemeinsame Initiativen mit der laufenden Ratspräsidentschaft).

    11.3. Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament: Der Vertrag von Amsterdam räumt dem Parlament (bzw. seinen Ausschüssen) die Möglichkeit ein, den Ausschuß mit Stellungnahmen zu beauftragen. Die interinstitutionelle Arbeitsgruppe des Ausschusses zum Europäischen Parlament besitzt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion mit großer politischer Tragweite. Wenn es gelingt, hier eine tragfähige Basis für künftige Zusammenarbeit aufzubauen, könnte die derzeitige mentale Entfernung der Bürger Europas zu den europäischen Institutionen möglicherweise abgebaut werden und sie über die Vermittlung ihrer Vertretungs-organisationen an ihre Verantwortung für Europa erinnert und zur Mitarbeit motiviert werden.

    11.4. Zusammenarbeit mit dem Ausschuß der Regionen: Die lokale und regionale Interessenvertretung durch den AdR steht in keinem Widerspruch zur funktionalen Vertretung durch den Wirtschafts- und Sozialausschuß; sie ist im Gegenteil in einer Reihe von Fällen komplementär. Auch hier könnten Synergieeffekte genützt werden. Ein erster Schritt in diese Richtung der Kooperation wurde vom Präsidium im Juli dieses Jahres getan, als es einen Verbindungsausschuß zum AdR einsetzte, der das "follow-up" einer Stellungnahme des Ausschusses zum Thema "Kindesmißbrauch und Sextourismus"(6) begleiten und gemeinsam mit dem AdR einen der Vorschläge dieser Stellungnahme, die Errichtung eines europäischen Netzwerkes kinderfreundlicher Städte, umsetzen wird.

    Der Ausschuß sollte seine Bemühungen für derartige sachbezogene Formen der Zusammenarbeit verstärken.

    12. Schaffung eines Aktionsplans "Organisierte Zivilgesellschaft" im Ausschuß

    12.1. Der Ausschuß ist der geeignete Ort, um den Zivilen Dialog weiter auszubauen; er sollte demnach ehestmöglich entsprechende Strukturen schaffen, daß dieser Dialog auch mit jenen Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft geführt werden kann, die derzeit nicht im Ausschuß vertreten sind. Er würde damit einen entscheidenden Beitrag zum Ausbau des partizipatorischen Demokratiemodells leisten.

    12.2. Der Ausschuß ist der institutionelle Ort der Begegnung der organisierten Zivilgesellschaft.

    Es wird daher vorgeschlagen, eine geeignete Organisationsstruktur "Organisierte Zivilgesellschaft" zu schaffen, die in einem kurzfristig zu realisierenden Aktionsplan Initiativen auf folgenden Aktionsebenen setzen könnte:

    - Veranstaltungen im Ausschuß, aber auch Anhörungen außerhalb des Ausschusses könnten einem breiteren Publikum die Möglichkeit zur Teilnahme bieten. Die hier bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten für eine diskursive Meinungs- und Willensbildung könnten wertvolle Beiträge zur Entwicklung des Zivilen Dialogs darstellen.

    - Daneben kann der interinstitutionelle Kontakt in diesem Rahmen gefestigt und ausgebaut werden. Round-tables mit auswärtigen Experten können gemeinsame Stellungnahmen vorbereiten.

    - Großes Potential liegt auch in der nicht ausreichenden Verwertung von Beiträgen der Gruppenexperten, die oft beträchtliches Niveau aufweisen. Eine journalistische oder wissenschaftliche Aufarbeitung solcher Beiträge, die sich mit Fragen der Zivilgesellschaft befassen, könnte nicht nur eine Bereicherung des Wissensstandes der Ausschußmitglieder darstellen, sondern darüber hinaus auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren.

    12.3. Als Forum zur Entwicklung einer europäischen Identität: Wie bereits erwähnt, ist die europäische Identität vielschichtig und besteht aus verschiedenen Identitätskriterien, zu denen in erster Linie das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Werteordnung gehört, die auf der Respektierung der Würde des Menschen und der Menschenrechte basiert.

    - Die deutsche Ratspräsidentschaft hat eine Initiative zur Ausarbeitung einer "Charta der Grundrechte der europäischen Bürger" gesetzt. Wie die deutsche Justizministerin im Rahmen des Gipfels von Köln feststellte, "betrifft die Schaffung einer gemeinsamen Werteordnung die Unionsbürger in so grundsätzlicher Weise, daß ein möglichst hohes Maß an demokratischer Legitimation wünschenswert erscheint".

    - Zu dieser demokratischen Legitimation kann der Ausschuß als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft entscheidend beitragen. Er wird zu diesem Thema eine Initiativstellungnahme erarbeiten und auch im Rahmen des unter finnischer Präsidentschaft näher zu definierenden Ausschußverfahrens für die Erarbeitung eines Grundrechtskatalogs angehört werden.

    - Bereits im Vorfeld der Arbeiten kann der Ausschuß eine Beteiligung möglichst vieler der relevanten Akteure der organisierten Zivilgesellschaft gewährleisten, indem er selbst Konsultationsverfahren und Anhörungen durchführt.

    12.4. Als Brückenkopf der organisierten Zivilgesellschaft im Rahmen der Erweiterung:

    - Im Hinblick auf die Erweiterung der EU kann jener Aspekt der Arbeit des Ausschusses nicht hoch genug eingeschätzt werden, der sich mit der Hilfe zu dem Aufbau von Strukturen der Zivilgesellschaft in jenen Ländern befaßt, die dieses Gesellschaftsmodell noch nicht bzw. noch nicht vollständig umsetzen konnten. Eine Integration neuer Mitglieder in die Gemeinschaft erfordert neben rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kriterien auch vergleichbare Strukturen, die die Umsetzung der bereits zitierten gemeinsamen Werteordnung auch tatsächlich ermöglichen.

    - Der Ausschuß hat bereits große Anstrengungen unternommen, um den Kandidatenländern die Schaffung von dem Ausschuß bzw. nationalen Wirtschafts- und Sozialräten vergleichbaren Strukturen zu erleichtern: In gemischten beratenden Ausschüssen kooperiert der Ausschuß mit jenen Instanzen in den Beitrittsländern, die solche Strukturen schaffen sollen. Er organisiert wechselseitige Besuchsprogramme und leistet in Einzelfällen auch Hilfe in technischen und administrativen Fragen. Gemeinsam mit der zuständigen Fachgruppe und anderen bereits befaßten Dienststellen der Verwaltung könnten im Rahmen dieses unter Ziffer 12.2 vorgeschlagenen Aktionsplans weitere wertvolle Schritte in diese Richtung gesetzt werden.

    13. Zusammenfassung

    Neue politische Ordnungsformen, und die Europäische Union gerade in der Phase nach Amsterdam ist eine solche, erfordern neue Ideen. In Zeiten des Wandels, des sogenannten Paradigmenwandels, wie sich unsere Gegenwart darstellt, sind Visionen und das gemeinsame Bemühen, sie umzusetzen, gefragt. Gerade für Europa bedeutet diese Zeit vor einer möglichen Erweiterung die große Herausforderung, sich neben der Realisierung großer sozioökonomischer Anliegen um die praktische Umsetzung des Bekenntnisses zu Demokratie, Legitimität, einer gemeinsamen europäischen Identität, basierend auf einer gemeinsamen Werteordnung, zu bemühen.

    Der Ausschuß hat die Möglichkeit, diese Evolution zu begleiten und effektiv zum Zusammenwachsen Europas im Sinne der Verträge von Maastricht und Amsterdam beizutragen.

    Brüssel, den 22. September 1999.

    Die Präsidentin

    des Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Beatrice RANGONI MACHIAVELLI

    (1) ABl. C 313 vom 30.11.1992, S. 34.

    (2) Siehe Punkt 6.1 und 7.1.

    (3) In einer weiter gefassten Definition ist unter Kultur das früher wie auch heute geltende System von (materiellen oder immateriellen) Werten und Bedürfnissen zu verstehen; Kultur bestimmt die Hierarchie der Werte und Bedürfnisse sowie die "Mittel" zur Verwirklichung der Werte und zur Befriedigung bzw. Erfuellung der Bedürfnisse.

    (4) KOM(97) 241 endg.

    (5) ABl. C 95 vom 30.3.1998, S. 99.

    (6) ABl. C 284 vom 14.9.1998, S. 92.

    ANHANG

    zur Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses

    (Gemäß Artikel 47 Ziffer 3 der Geschäftsordnung)

    Der nachstehende Änderungsantrag, auf den mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen entfielen, wurde im Verlauf der Beratungen abgelehnt:

    Ziffer 12.1

    Zwischen dem ersten und dem zweiten Satz ist folgender Satz einzuschieben:

    "Die verschiedenen Veranstaltungen im Rahmen eines Dialogs, der solchermaßen ausgebaut wurde, sollten es möglich machen, daß sich neben den WSA-Mitgliedern auch andere Repräsentanten der Organisationen, die heute im WSA vertreten sind, stärker an diesem Dialog beteiligen."

    Begründung

    Neben dem Problem, die Organisationen, die zur Zeit nicht im WSA vertreten sind, zu beteiligen, hapert es auch mit der Aufklärung der unserer Institution angehörenden Organisationen über das, was der Ausschuß tatsächlich macht. Außerdem gibt es bei uns Sachverstand, der bei der gewöhnlichen WSA-Arbeit nicht berücksichtigt wird. Bei verschiedenen internen Arbeiten und nach außen gerichteten Veranstaltungen sollte dieser Sachverstand zum Zuge kommen, was auch dazu führen würde, daß der betreffende Personenkreis unsere Arbeit deutlicher wahrnähme.

    Abstimmungsergebnis

    Ja-Stimmen: 27, Nein-Stimmen: 40, Stimmenthaltungen: 11.

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