Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 51996IR0010

    Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Thema "Die nördliche Dimension der Europäischen Union und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation sowie im Barents-Gebiet"

    CdR 10/96 fin

    ABl. C 337 vom 11.11.1996, p. 7–12 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

    51996IR0010

    Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Thema "Die nördliche Dimension der Europäischen Union und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation sowie im Barents-Gebiet" CdR 10/96 fin

    Amtsblatt Nr. C 337 vom 11/11/1996 S. 0007


    Stellungnahme des Ausschusses der Regionen zum Thema "Die nördliche Dimension der Europäischen Union und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation sowie im Barents-Gebiet" (96/C 337/02)

    DER AUSSCHUSS DER REGIONEN,

    aufgrund seines Beschlusses vom 2. Oktober 1995, gemäß Artikel 198 c Absatz 4 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft eine Stellungnahme zum Thema "Die nördliche Dimension der Europäischen Union und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation sowie im Barents-Gebiet" abzugeben und die Fachkommission 1 "Regionalentwicklung, Wirtschaftsentwicklung, lokale und regionale Finanzen" mit der Erarbeitung dieser Stellungnahme zu beauftragen,

    gestützt auf den von der Fachkommission 1 am 10. Mai 1996 angenommenen Stellungnahmeentwurf (CdR 10/96 rev.) (Berichterstatter: die Herren Kauppinen und Virtanen),

    verabschiedete auf seiner 13. Plenartagung am 12. und 13. Juni 1996 (Sitzung vom 12. Juni 1996) einstimmig folgende Stellungnahme.

    1. Einleitung

    1.1. Die Mitgliedschaft Österreichs, Schwedens und Finnlands in der Europäischen Union hat die geopolitische Situation der EU entscheidend verändert. Das EU-Gebiet ist um 900 000 km² bzw. 37 % gewachsen, davon entfallen allein auf Schweden und Finnland ca. 800 000 km². Die Bevölkerung der EU hat jedoch nur um 22 Millionen Einwohner zugenommen bzw. um 6 Prozent.

    1.2. Auch außerhalb der Grenzen der EU hat es bedeutende Veränderungen gegeben. Durch den Beitritt Österreichs hat die EU nunmehr eine neue Außengrenze mit Slowenien, Ungarn, Slowakei und Tschechien. Die Mitgliedschaft Finnlands hat zur Folge, daß die Europäische Union nun eine gemeinsame Grenze mit der Russischen Föderation hat. Schweden und Finnland haben ausgedehnte gemeinsame Grenzen mit Norwegen, das sich seinerseits dafür entschieden hat, außerhalb der Union zu bleiben. Als Konsequenz der Erweiterung sind auch die baltischen Länder und die Ostsee der EU "näher" als bisher gerückt.

    1.3. Durch die Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands hat die Europäische Union eine neue nördliche Dimension erhalten. Die nördlichen Regionen unterscheiden sich sowohl in ihrem Klima als auch in ihrer Wirtschaftsgeographie von den anderen Gebieten. Die nördlichen Regionen sind auch durch die geringe Bevölkerungsdichte und die großen Distanzen geprägt, was auch den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften im Norden einen eigenen, sich von den anderen Teilen Europas unterscheidenden, Charakter verleiht.

    2. Allgemeine Bemerkungen

    Fakten und Hintergrund

    2.1. Schweden ist von seiner Fläche das drittgrößte, Finnland das fünftgrößte Land der Union. Von der Bevölkerungszahl her ist Finnland dagegen der drittkleinste und Schweden der sechstkleinste Mitgliedstaat.

    2.2. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte in der Union beträgt 115 Einwohner pro km². Die entsprechende Zahl für Schweden ist 19 und für Finnland 15. Die nördlichsten Provinzen in Schweden und Finnland, Norrbotten und Lappland, erstrecken sich beide über ungefähr je 100 000 km². Dieses 200 000 km² große Areal ist damit größer als Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Dänemark und Irland zusammen. Die Bevölkerungsdichte der genannten Staaten beträgt im Durchschnitt 184 Einwohner pro km², während in den beiden nördlichen Provinzen in Schweden und Finnland nur zwei Einwohner auf einen Quadratkilometer entfallen.

    2.3. Die Vegetationsperiode um den 60. Breitengrad herum beträgt ungefähr 170 Tage im Jahr, in den nördlichsten Gebieten nur 130 Tage. Dadurch ergeben sich für die Land- und Forstwirtschaft in den skandinavischen Ländern besondere Anforderungen. Vor der Erweiterung der EU durch die "nördliche Dimension" Schweden und Finnland betrug die kürzeste Vegetationsperiode auf dem Gebiet der EU 220 Tage. Die nordischen Gegebenheiten erfordern im Straßen- und Hausbau Sonderlösungen. Ebenso müssen die technischen Versorgungsnetze auf die klimatischen Bedingungen ausgelegt sein. Die hohen Heizkosten und die durch den Winterverkehr verursachten Schäden schränken die Aktionsmöglichkeiten der Menschen und der Unternehmen in den nördlichen Regionen ein.

    2.4. Die Schiffahrt im Winter ist ein Thema für sich. Zum Beispiel wird der Großteil der Ausfuhren Finnlands auf dem Schiffsweg abgewickelt. Zur Gewährleistung von regelmäßigen Transporten muß eine effizient arbeitende Eisbrecherflotte unterhalten und eingesetzt werden.

    2.5. Das sich vom übrigen Europa unterscheidende Klima hat besonders in den nördlichen Teilen von Schweden und Finnland zu technischen Lösungen und Verfahrensweisen geführt, deren Anwendung auch in anderen von ihrem Klima her problematischen Regionen Erfolg verspricht.

    2.6. Besonders die Provinzen Lappland und Norrbotten sind aufgrund ihrer natürlichen Gegebenheiten ein geeignetes Versuchsfeld für Lösungen zu Problemen des Nordens und für die Entwicklung von speziellem Know-how.

    3. Besondere Bemerkungen

    Die Rolle der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften im Rahmen der EU-Politik in den nördlichen Ländern

    3.1. Wie bereits erwähnt, sind die Regionen Schwedens und Finnlands allgemein und besonders die nördlichen Regionen beider Länder sowie die östlichen Regionen Finnlands durch lange Entfernungen und eine dünne Besiedlung geprägt. Dadurch werden an die Bereitsteller von öffentlichen Dienstleistungen besondere Anforderungen gestellt. Die Hauptverantwortung tragen in diesem Zusammenhang die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften.

    3.2. Die Strukturen der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften in Europa unterscheiden sich in vielen wichtigen Bereichen voneinander. Schweden und Finnland haben von jeher starke Kommunalverwaltungen. Die Gemeinden sind für fast alle zentralen Dienstleistungen zuständig, wie z. B. für die Elementarbildung, die allgemeinen Gesundheitsdienste, die Krankenpflegedienste, die Kinderbetreuungseinrichtungen, die Altenpflege und die technischen Dienste in den Bereichen Vermessung, Straßenbau und -instandsetzung sowie in der Wasserversorgung und Müllabfuhr.

    3.3. Die Gemeinden verfügen über eine eigene Einkommenssteuer und eigene politische Beschlußverfahren. Das skandinavische Modell der Kommunalverwaltung bietet den nordischen Mitgliedstaaten ein effizientes Beschlußfassungssystem. Dies gilt auch für die Union unter der Perspektive des Subsidiaritätsprinzips.

    Der Ostseeraum als Kooperationsregion

    3.4. In der erweiterten EU stellt der Ostseeraum aus nordischer Perspektive eine wichtige Kooperationsregion dar, die einer eigenen und umfassenden Würdigung bedarf, nicht nur im Rahmen des Ausschusses der Regionen, sondern auch auf der gesamten EU-Ebene. In diesem Sinn hat der Ausschuß der Regionen beschlossen, eine eigene Stellungnahme zum Thema Ostseeraum abzugeben.

    Die euroarktische Kooperation im Barents-Gebiet

    3.5. Finnisch-Lappland, Norrbotten in Schweden, Norrland, Troms und die Finnmark in Norwegen sowie Murmansk und Archangelsk in Rußland unterhalten seit Jahrtausenden gemeinsame Handels- und Kulturbeziehungen. Diese Verbindungen waren für 70 Jahre in der Zeit des Sowjetsystems unterbrochen. Historisch gesehen war die Nordkalotte also fast ohne Unterbrechung eine Brücke zwischen Rußland und Nordeuropa.

    3.6. Nach den Veränderungen in Rußland hat sich die Zusammenarbeit im Barents-Gebiet schnell neu organisiert. Die Barents-Euro-Arktis-Region wurde 1993 von Schweden, Finnland, Norwegen, Rußland, Dänemark, Island und der Europäischen Union geschaffen. Zu dieser Region gehört außer der Nordkalotte auch die Karelische Republik, die jedoch geographisch und funktionell mehr der Leningrader Oblast (Bezirk Leningrad) und dem Einflußbereich der Ostsee zuzuordnen ist. In der Barents-Kooperation nehmen die Samen als Minoritätenvolk eine gleichberechtigte Stellung gegenüber den Provinzen ein.

    3.7. Als Ziele der Barents-Kooperation wurden festgesetzt:

    a) Sichern einer friedlichen und ausgewogenen Entwicklung in dem Gebiet;

    b) Stärkung und Weiterentwicklung der kulturellen Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen des Gebiets;

    c) Förderung neuer bilateraler und multilateraler sowie Ausweitung bestehender Beziehungen;

    d) Schaffung der Grundlagen für eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung in dem Gebiet, insbesondere durch aktive und sinnvolle Nutzung der natürlichen Ressourcen,

    e) die Förderung einer Entwicklung, welche die Belange der einheimischen Bevölkerung berücksichtigt und ihren Vertretern Möglichkeiten gibt, sich an der Zusammenarbeit aktiv zu beteiligen.

    3.8. Der entscheidende Unterschied der Barents-Kooperation zur Ostsee-Kooperation ist die große Entfernung zu den zentralen Städten und Ballungsräumen der beteiligten Staaten, da das Gebiet der Barentssee in der äußersten "Nordecke" Europas angesiedelt ist.

    Die neue gemeinsame Grenze mit Rußland ist Teil der nördlichen Dimension

    3.9. Die ca. 1 340 Kilometer lange Grenze zwischen der EU und Rußland ist nicht nur für die nordischen Mitgliedstaaten, sondern auch für die gesamte EU von großer Bedeutung.

    3.10. Zur geopolitischen Lage der Union ist festzustellen, daß die Grenze und die damit verbundenen Herausforderungen, Risiken und Möglichkeiten für sich allein gesehen eine entscheidende Veränderung darstellen. Die Länge der Grenze entspricht der Entfernung zwischen Berlin und Florenz oder zwischen Frankfurt und Madrid. Aus dieser Grenzlänge ergeben sich entsprechend große Herausforderungen und Probleme, findet sich an der Grenze zwischen der Europäischen Union und Rußland doch einer der weltweit größten Unterschiede im Lebensstandard. Die vorläufig noch unstabile wirtschaftliche und politische Situation sowie vor allem die zukünftige Entwicklung Rußlands werden sich auf Europa in seiner Gesamtheit auswirken. Deswegen sind die Beziehungen der EU zu Rußland eine alle Mitgliedstaaten betreffende und interessierende Frage.

    Bevölkerung

    3.11. Zu den an die Europäische Union angrenzenden Regionen der Russischen Föderation gehören die Stadt St. Petersburg (4,8 Millionen Einwohner), der St. Petersburg umgebende Verwaltungsbezirk (Leningrader Oblast) mit 1,7 Millionen Einwohnern, die Republik Karelien (750 000 Einwohner) und die Murmansker Oblast (1,1 Millionen Einwohner). An dieses Gebiet schließt sich funktionell die an Murmansk angrenzende Region von Archangelsk (1,6 Millionen Einwohner) an. Insgesamt wohnen in diesem nordwestlichen Grenzgebiet Rußlands ungefähr 10 Millionen Menschen, das sind 6,7 % der gesamten Bevölkerung der Russischen Föderation. Als eigenes abgegrenztes Gebiet an der Ostsee gehört auch noch das zwischen Litauen und Polen angesiedelte Gebiet um Kaliningrad zu Rußland, wo 913 000 Menschen leben.

    Rohstoffe

    3.12. In den an die Union angrenzenden Regionen Rußlands finden sich beachtliche Rohstoffvorräte, z. B. Erdöl, Erdgas, ausgedehnte Wälder, Erze und Möglichkeiten zur Nutzung der Wasserkraft. Wenn die Nutzung dieser Vorräte auf den Grundsätzen einer nachhaltigen Entwicklung aufbaut, kann daraus für ganz Europa ein beträchtlicher wirtschaftlicher Vorteil erwachsen. Die westlichen Häfen Rußlands, darunter Rußlands wichtigster Marinestützpunkt in Murmansk, liegen allesamt in dieser Region, da der Nordwesten für Rußland ja von militärischem Interesse ist.

    3.13. St. Petersburg, das traditionelle Fenster Rußlands zum Westen, ist jetzt das Fenster Rußlands zur Europäischen Union. Ebenso kann Finnland zumindest von seiner geographischen Lage her als das Tor der Europäischen Union zu Rußland gelten.

    Umweltgefahren

    3.14. Die Veränderungen in Rußland haben bereits zu einer erheblichen Zunahme der grenzüberschreitenden Kontakte geführt, mit Auswirkungen in vielen Bereichen.

    3.15. Durch die freieren und direkteren Kontakte sind im Einzugsbereich der finnischen Grenze bereits ernste Umweltprobleme entstanden. Besonders die Industrieabgase stellen eine ernsthafte Bedrohung für die nordische Natur und die Ostsee dar. In einigen grenznahen Gebieten ist der Gesundheitszustand der russischen Bevölkerung z.T. aufgrund der schädlichen Abgase und u.a. auch durch die schlechte Trinkwasserqualität beeinträchtigt. Die Umweltschutztechnologien der metall- und holzverarbeitenden Industrien sind entweder veraltet oder nicht vorhanden, was dazu führt, daß schädliche Abgase entstehen und mit dem Wind in den Norden Finnlands, Norwegens und Schwedens sowie auch nach Südfinnland und in die baltischen Staaten transportiert werden.

    3.16. Die Reaktorsicherheit ist ein eigener Problemkomplex, ein Thema sowohl in Rußland als auch in den grenznahen Gebieten Finnlands. Das veraltete und reparaturbedürftige Straßen- und Eisenbahnnetz verursacht für den beträchtlich angewachsenen Güter- und Personenverkehr über die Grenze große Probleme.

    3.17. Allein das Kanalisationssystem von St. Petersburg benötigt dringend eine umfassende Reparatur. Zur Sicherung der Bereitstellung von sauberem Wasser für St. Petersburg und das umgebende Gebiet liegen Pläne vor, deren Umsetzung jedoch internationale Zusammenarbeit verlangt.

    3.18. Im grenznahen Gebiet auf der russischen Seite hat man mit umfangreichen Problemen zu kämpfen. Von außerhalb können diese Probleme nicht gelöst werden. Das kann auch nicht der Zweck der Zusammenarbeit sein. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten können jedoch den Verantwortlichen in Rußland helfen, ihre Probleme selber zu lösen und damit den Wohlstand der russischen Bevölkerung zu heben und eine stabile und demokratische Entwicklung Rußlands zu fördern.

    Internationale Zusammenarbeit zur Unterstützung der Entwicklung Rußlands

    3.19. Die Herbeiführung einer funktionierenden wirtschaftlichen Zusammenarbeit und einer positiven Demokratieentwicklung sind für die zukünftige Entwicklung Rußlands von zentraler Bedeutung. Die besten geographischen Voraussetzungen für die Förderung einer solchen Entwicklung liegen selbstverständlich in den Grenzregionen der Europäischen Union mit Rußland vor.

    3.20. Finnland hat mit Rußland ein Abkommen über Verfahren u.a. für die Grenzregionen abgeschlossen. Dieser zwischen Finnland und Rußland ergangene "Vertrag über die benachbarten Grenzgebiete" schafft eine Rechtsgrundlage für die direkte Kooperation zwischen den zuständigen russischen Stellen und den finnischen Behördenvertretern sowohl der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften als auch der Zentralverwaltung. Er ermöglicht auch direkte Aktionen im Grenzgebiet. Der Vertrag umfaßt auch weitgehend die schon früher begonnene und geplante Zusammenarbeit auf den Gebieten Wirtschaft, Forschung und Entwicklung sowie Kultur. Wichtige Schwerpunkte bilden der Ausbau der Verkehrsverbindungen, die Verbesserung der Reaktorsicherheit und der Umweltschutz.

    3.21. Es wird eine breit angelegte Kooperation benötigt, um insbesondere folgende Vorhaben in der Grenzregion durchzuführen: Verbesserung des Umweltzustands und der Reaktorsicherheit, Förderung der wirtschaftlich-sozialen Zusammenarbeit, Zusammenarbeitsprojekte in der Land- und Forstwirtschaft, Austauschprojekte in den Bereichen Bildung und Kultur, Austausch von Sachverständigen, Verbesserung der Verkehrsverbindungen. Bei dieser Kooperation kommt der Europäischen Union eine zentrale Rolle zu.

    3.22. Für die Entwicklung der Grenzregion ist die Zusammenarbeit vieler verschiedener Ebenen erforderlich. Bei der Finanzierung von Projekten und Entwicklungsvorhaben in Grenzgebieten haben alle beteiligten europäischen Staaten eine wichtige Aufgabe. Bei der Durchführung der regionalen Projekte ist allerdings besonders die spezifische Rolle der Grenzregionen zu beachten.

    3.23. Die Erfahrungen mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den verschiedenen Teilen Europas zeigen, daß sich eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Zentralverwaltungen nicht verordnen läßt, sondern auf lokaler Ebene in den Grenzregionen selber entstehen und wachsen muß. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sollte möglichst autonom erfolgen, aber mit Rückendeckung der nationalen Ebene.

    3.24. Eine erfolgreiche Durchführung von grenzüberschreitenden Zusammenarbeitsprojekten auch im Grenzgebiet zwischen der EU und Rußland setzt voraus, daß die tatsächliche Verantwortung besonders für die Entscheidungen über die Planung und Durchführung der Maßnahmen bei den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften liegt.

    Ein politisches Instrumentarium für grenzüberschreitende Projekte

    3.25. Von allen Außengrenzen der Union war die Grenze zwischen Finnland und Rußland im ersten Jahr der Mitgliedschaft Finnlands die einzige Grenzregion, für die im Programm der EU kein grenzregionenpolitisches Instrumentarium vorgesehen war. In diesem Zusammenhang hält der Ausschuß der Regionen die vor kurzem beschlossene Änderung der Bestimmungen des TACIS-Programms für einen entscheidenden Fortschritt.

    3.26. Unter praktischen Gesichtspunkten ist es wichtig, dafür zu sorgen, daß sich das neue Instrument zur Zusammenarbeit TACIS/INTERREG zu einem flexiblen und effizienten System für die Kooperation zwischen der EU und Rußland in der Grenzregion entwickelt. Es ist wichtig, daß dieses Programm den zukünftigen Akteuren in den verschiedenen Mitgliedstaaten Möglichkeiten zur Nutzung der gemeinsamen Grenzgebiete an die Hand gibt.

    Die Förderung der Kommunalverwaltung als zentrale Aufgabe

    3.27. Beim Übergang Rußlands zur Demokratie und Marktwirtschaft stellt sich als wichtige Frage, wie es Rußland gelingt, eine funktionierende kommunale Selbstverwaltung aufzubauen. Daher sollten sowohl die einzelnen Mitgliedstaaten als auch die EU in ihrer Gesamtheit ihr Augenmerk darauf richten, Rußland bei dem Aufbau eines Systems der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften zu unterstützen. Bei der praktischen Umsetzung der Entwicklungsmaßnahmen ist gerade unter den gegebenen schwierigen Bedingungen eine funktionierende Kommunalverwaltung von zentraler Bedeutung.

    Die Entwicklung des TACIS-Programms

    3.28. Rußlands Entwicklung hin zu gesellschaftlicher Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung ist für diesen Teil der Welt von entscheidender Bedeutung. Aus diesem Grund ist die Europäische Union bestrebt, u.a. durch das TACIS-Programm die erwünschte Entwicklung zu unterstützen.

    3.29. Das im Jahre 1991 angelaufene TACIS-Programm umfaßt technische Hilfsleistungen wie Ausbildungsprogramme, Unternehmensberatungsdienste, Rentabilitätsuntersuchungen und allgemeine Hilfestellungen. Dieses Programm bezweckt, den nötigen Rahmen und das Gerüst für eine funktionierende Marktwirtschaft zu schaffen und die Voraussetzungen für Investitionen zu verbessern.

    3.30. Das TACIS-Programm hat sich bewährt. Es sind Ausbildungsprogramme verwirklicht, umfassende Unternehmensberatungsprojekte durchgeführt, Pläne ausgearbeitet und die zukünftigen Entwicklungsschwerpunkte definiert worden. Der Ausschuß der Regionen weist darauf hin, daß die Zukunft des TACIS-Programms eng mit der Demokratieentwicklung Rußlands verbunden ist.

    3.31. Von nun an sollte sich die Europäische Union in ihrem Programm für Rußland darauf konzentrieren, wie bei der praktischen Umsetzung der Planungen Fortschritte erzielt werden können. Mit dem Entwerfen weiterer Pläne ist es nicht getan. Die Verwirklichung der Marktwirtschaft und der Demokratie geht nicht voran, und es ist auch keine Belebung der Wirtschaftstätigkeit festzustellen. Die Pläne müssen auf die eine oder andere Weise in die Praxis umgesetzt werden.

    3.32. Mittelfristig sollte geprüft werden, ob das TACIS-Programm dahingehend weiterentwickelt werden sollte, daß es genauso breit wie das für den Mittelmeerraum vorgesehene MEDA-Programm angelegt wird.

    3.33. Schon jetzt ist zu überlegen, ob das TACIS-Programm nicht einer erneuten Beurteilung unterworfen werden sollte. Ziel müßte dabei sein, daß der Schwerpunkt von der Erstellung von Berichten durch Unternehmensberater und vom Angebot anderer an sich wertvoller technischer Hilfen auf die praktische Umsetzung der Projekte verlagert wird. Die neuen TACIS-Bestimmungen erlauben die Verwendung von 10 % der Gesamtmittel für die Verwirklichung solcher Projekte. Dieser Anteil sollte nach Auffassung des Ausschusses stufenweise auf mindestens der Gesamtausstattung angehoben werden.

    3.34. Die Mittel des TACIS-Programms beliefen sich in den Jahren 1991-1995 auf insgesamt 2 Milliarden ECU. Ungefähr ein Drittel davon wurde für Ziele in Rußland verwendet, davon jedoch nur ein geringfügiger Teil in den Regionen Nordwestrußlands.

    3.35. Das an die Union angrenzende Gebiet Nordwestrußlands wurde im September 1995 als neues prioritäres Zielgebiet festgelegt. Der Umfang des dreijährigen Programms beträgt 28 Millionen ECU, also nur ca. 1,5 % der gesamten Finanzmittel des TACIS-Programms.

    3.36. Betrachtet man einerseits den Umfang des Entwicklungsbedarfs und die Größe der Probleme in Nordwestrußland und andererseits die Anforderungen, die an die gemeinsame Grenzregion gestellt werden, muß man zu dem Schluß kommen, daß ein wesentlich größerer Betrag des TACIS-Programms als bisher für Nordwestrußland verwendet werden sollte.

    3.37. Die neuen Bestimmungen des TACIS-Programms sind vor kurzem verabschiedet worden, wie dies die Fachkommission 1 in der Vorbereitungsphase dieser Stellungnahme bereits vorgeschlagen hatte. In die Bestimmungen sind drei neue Themenkomplexe aufgenommen worden: 1) die Umwelt; 2) die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und 3) die Kombinierbarkeit der TACIS-Programme mit den INTERREG-Programmen, um ein neues Instrument für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu schaffen.

    Die Errichtung einer Freihandelszone

    3.38. Südkarelien und die Region um den Saimaa-Kanal eignen sich wegen ihrer geographischen Lage besonders für grenzüberschreitende Zusammenarbeitspolitik in den Bereichen Handel und Wirtschaft.

    3.39. In St. Petersburg und dem die Stadt umgebenden Bezirk Leningrad wohnen 7 Millionen Menschen. Somit befinden sich in unmittelbarer Nähe der finnischen Grenze eine Region mit Marktpotential, zwei Grenzübergänge und der Saimaa-Kanal, der die Verbindung zur Ostsee herstellt, sowie eine Eisenbahnstrecke über die Grenze hinaus. Alle diese Faktoren haben das Interesse an das Gebiet um den Kanal und an der Stadt Lappeenranta als Knotenpunkt des Grenzverkehrs sowie als Standort für Industrie und Handel verstärkt. Die Frage nach der Errichtung einer gesonderten Freihandelszone wurde auf beiden Seiten der Grenze aufgeworfen, im Kreis Wiborg auf russischem Gebiet und in Südkarelien auf finnischem Gebiet.

    3.40. Die Errichtung einer Freihandelszone entweder auf finnischem Territorium oder im Gebiet beiderseits der Grenze könnte für die Förderung der Wirtschafts- und Kulturbeziehungen einen entscheidenden Schritt nach vorne darstellen. Sie könnte auch neue Voraussetzungen für die Entwicklung von Kooperationsnetzen im Ostseeraum schaffen, nicht zuletzt auch für die Lösung der schwierigen Umweltprobleme.

    3.41. Die Errichtung einer Freihandelszone im Grenzgebiet Finnlands und Rußlands setzt in jedem Fall eine gründliche Prüfung der notwendigen Änderungen u.a. in der Steuer- und der Arbeitsrechtgesetzgebung voraus.

    4. Empfehlungen des Ausschusses der Regionen

    4.1. Der Ausschuß der Regionen schlägt vor, daß die Kommission unverzüglich ein Grundsatzpapier und ein Tätigkeitsprogramm zur Berücksichtigung der neuen nordischen Dimension der Europäischen Union ausarbeitet.

    4.2. Nach Ansicht des Ausschusses der Regionen sollte dieses Programm

    a) die Ziele einer in den nordischen Regionen der EU, d.h. in Schweden und Finnland, zu verwirklichenden Struktur- und Regionalpolitik umreißen;

    b) die Ziele einer auf die speziellen Umweltbedingungen des Nordens zugeschnittenen Umweltpolitik und die Mittel zu der Durchsetzung einer solchen Politik beschreiben;

    c) allgemeine Grundsätze dafür festlegen, wie den besonderen Merkmalen der nordischen Dimension - periphere Lage, weite Flächen, geringe Bevölkerungsdichte und besonderes Klima - in der Unionspolitik Rechnung zu tragen ist, damit für die Regionen und Gemeinden gleichwertige Handlungsvoraussetzungen geschaffen werden;

    d) Vorschläge dazu enthalten, wie die Kommunikation zwischen den peripheren Regionen und Gemeinden mit den anderen Gebieten der Union gefördert werden kann;

    e) Maßnahmen zur Förderung der Nutzung von Techniken und Aktionsmodellen vorsehen, die für die nordischen Umweltbedingungen entwickelt wurden und nun auch in anderen dünn besiedelten Regionen mit schwierigen Klimabedingungen eingesetzt werden können;

    f) die Maßnahmen festlegen, mit deren Hilfe die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Russischen Föderation gefördert werden kann, d.h. die Verwirklichung einer Kooperation in den Bereichen Handel, Wirtschaft, Politik und Kultur unter Nutzung der Möglichkeiten der gemeinsamen Grenze;

    g) die Aktionslinien behandeln, mit denen die bereits begonnene Kooperation im Gebiet der Barentssee weitergeführt werden kann, und die praktische Umsetzung der Programme im Gebiet der Barentssee fördern.

    4.3. Der Ausschuß der Regionen schlägt weiterhin vor, daß bei der Verwirklichung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit Rußland von der Kommission möglichst bald die folgenden Empfehlungen berücksichtigt werden:

    a) Vor kurzem wurde ein verändertes TACIS-Programm verabschiedet. In dieses Programm wurden Umweltfragen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit als ein neuer Gesamtkomplex aufgenommen; ferner wurde als ein neues Instrument der Grenzregionenpolitik die Möglichkeit vorgesehen, TACIS- und INTERREG-Programme in den nördlichen Grenzregionen zu kombinieren. Damit die TACIS-INTERREG-Programme die gleichen positiven Ergebnisse wie die PHARE-INTERREG-Programme in den MOEL erzielen können, muß bei der praktischen Durchführung von Kooperationsvorhaben gewährleistet sein, daß die Grenzregionen selber aktiv an der Planung und Durchführung der Maßnahmen beteiligt werden.

    b) Bei der Durchführung des TACIS-Programms sollte die Möglichkeit offenstehen, Mittel speziell für Investitionen in unmittelbarer Grenznähe zu verwenden. Prioritäre Investitionsprojekte sind Grenzstationen und die damit verbundenen Infrastrukturen und Serviceeinrichtungen.

    c) Ein deutlich größerer Anteil des TACIS-Budgets als bisher sollte für die Maßnahmenfinanzierung und die Verwirklichung von bereits vorliegenden Planungen verwendet werden. Der Ausschuß der Regionen hält es für gerechtfertigt, daß des gesamten Finanzierungsvolumens für die schrittweise Verwirklichung der Projekte eingesetzt werden.

    d) Die Unterstützung bei der Entwicklung einer demokratischen Kommunalverwaltung und die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Behördenvertretern der Regionalverwaltungen sollten in den Kooperationsprogrammen zwischen EU und Rußland Schwerpunktbereiche bilden.

    e) Die Bestimmungen der TACIS-Programme für Rußland sollten hinsichtlich der Durchführung und der Auftragsvergabe so modifiziert werden, daß kleinere Kooperationsprojekte zwischen den lokalen Verwaltungen in den Grenzregionen ohne öffentliche Ausschreibungsverfahren durchgeführt werden können.

    f) Nordwestrußland und das Gebiet um St. Petersburg sollten auch langfristig Schwerpunkte des TACIS-Programms bleiben. Die Vertretung der Kommunalverwaltungen sollte sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Überwachung der Durchführung der gemeinsamen Programme gewährleistet sein.

    g) Das Entstehen eines Verbundes von funktionierenden Unternehmen in Nordwestrußland ist für die wirtschaftliche und sonstige Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Es existieren aber wegen des hohen Investitionsrisikos keine Finanzierungssysteme für die Gründung bzw. den Ausbau von kleinen und mittleren Unternehmen. Aus diesen Gründen sollten entweder im Rahmen des Finanzierungssystems der EBWE oder der TACIS-Programme ein Betrag von 50 Millionen ECU für die Vergabe von Krediten für Investitionen und Entwicklungsprojekte kleinerer und mittlerer Unternehmen in Nordwestrußland bereitgestellt werden.

    h) Nach Ansicht des Ausschusses der Regionen kann die Errichtung einer Freihandelszone im Grenzgebiet Finnlands und Rußlands im Raum des Saima-Kanals und der Stadt Lappeenranta die Zusammenarbeit zwischen Rußland und der EU im gemeinsamen Grenzgebiet in den Bereichen Kultur, Wirtschaft und Umwelt entscheidend fördern. Die EU sollte die Errichtung einer Freihandelszone und die dazu benötigten vorbereitenden Arbeiten fördern und sich daran beteiligen.

    4.4. Der Ausschuß der Regionen beauftragt den Präsidenten und das Präsidium des Ausschusses, Gespräche mit den für die Regionalpolitik und grenzüberschreitende Zusammenarbeitsprojekte zuständigen Stellen der Kommission aufzunehmen mit dem Ziel, die in der Stellungnahme enthaltenen Empfehlungen umzusetzen und weiterzuentwickeln.

    Geschehen zu Brüssel am 12. Juni 1996.

    Der Präsident des Ausschusses der Regionen

    Pasqual MARAGALL i MIRA

    Top