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Document 51996AC0692

    Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Annahme eines mehrjährigen Programms zur Förderung der sprachlichen Vielfalt der Gemeinschaft in der Informationsgesellschaft"

    ABl. C 212 vom 22.7.1996, p. 19–21 (ES, DA, DE, EL, EN, FR, IT, NL, PT, FI, SV)

    51996AC0692

    Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Annahme eines mehrjährigen Programms zur Förderung der sprachlichen Vielfalt der Gemeinschaft in der Informationsgesellschaft"

    Amtsblatt Nr. C 212 vom 22/07/1996 S. 0019


    Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über die Annahme eines mehrjährigen Programms zur Förderung der sprachlichen Vielfalt der Gemeinschaft in der Informationsgesellschaft" (96/C 212/04)

    Der Rat beschloß am 7. März 1996, den Wirtschafts- und Sozialausschuß gemäß Artikel 130 Absatz 2 und 3 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem vorgenannten Vorschlag zu ersuchen.

    Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Industrie, Handel, Handwerk und Dienstleistungen nahm ihre Stellungnahme am 8. Mai 1996 an. Berichterstatter war Herr Pellarini.

    Der Ausschuß verabschiedete auf seiner 336. Plenartagung (Sitzung vom 30. Mai 1996) mit 67 gegen 3 Stimmen bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

    1. Zusammenfassung des Kommissionsdokuments

    1.1. Wenn die Bürger, die Wirtschaft und vor allem die mittelständischen Unternehmen Europas in vollem Umfang von der globalen Informationsgesellschaft profitieren sollen, dann brauchen sie mehrsprachige Werkzeuge, um Informationen erzeugen, austauschen und abrufen zu können, wo immer sie sich befinden.

    1.2. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Allerdings wird den Entwicklern und Dienstanbietern viel Engagement und Einsatz abverlangt.

    1.3. Das derzeitige Programm nennt drei Aktionsbereiche. Damit soll ein Umfeld geschaffen werden, das der Sprachindustrie zur Expansion verhilft, z. B. auf den Feldern Sprach-Engineering und Übersetzung.

    1.4. Aktionsbereich 1: Aufbau einer Infrastruktur für Sprachressourcen in Europa

    1.4.1. Die Kommission wird dem Europäischen Verband für Sprachressourcen (ELRA) Starthilfe leisten; dieser soll:

    - den Bestand an Sprachressourcen in der Gemeinschaft erfassen;

    - Mechanismen zur Weitergabe auf Gemeinschaftsebene einführen;

    - die Anwendung einheitlicher Normen im Interesse von Kompatibilität und Qualitätszertifizierung fördern.

    1.4.2. Darüber hinaus wird sich die Kommission bei Bedarf an den Kosten beteiligen, die den betreffenden Stellen entstehen, wenn sie auf europäischer Ebene konzertierte Maßnahmen ergreifen, bei denen Normen, Informationsverbreitung und Vernetzung im Vordergrund stehen.

    1.5. Aktionsbereich 2: Mobilisierung und Expansion der Sprachindustrie

    1.5.1. In diesem Aktionsbereich geht es darum, die Sprachindustrie zu mobilisieren. Technologietransfer und Nachfrage sollen über einige Demonstrationsprojekte auf Kostenteilungsbasis angeregt werden, wobei von den Projekten eine Sogwirkung in Schlüsselbereichen erwartet wird.

    1.6. Aktionsbereich 3: Förderung moderner sprachlicher Werkzeuge im öffentlichen Sektor in Europa

    1.6.1. Mit den geplanten Maßnahmen soll die Zusammenarbeit zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen gefördert werden, um die Kosten der mehrsprachigen Kommunikation im öffentlichen Sektor in Europa zu senken.

    1.6.2. Besondere Aufmerksamkeit wird den sprachlichen Werkzeugen für die neuen Arbeitssprachen der Gemeinschaft geschenkt, damit sie den Anschluß an das Niveau der anderen Sprachen finden.

    2. Allgemeine Bemerkungen

    2.1. Anläßlich des Todes des letzten Catawba schrieb die Times

    "Eine weitere Sprache ist von uns gegangen. Damit verlängert sich die Liste der tragischen Fälle, die sich - von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - ereignen. Das Aussterben einer weiteren Sprache ist eine kulturelle Verarmung, die mindestens ebenso schmerzt wie das Aussterben einer Tierart, vielleicht sogar noch mehr. Denn es gibt Millionen von Arten, jedoch nur sechstausend Sprachen, von denen bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts die Hälfte ausgestorben sein wird."

    2.2. Diese lapidare Feststellung verdeutlicht auf beeindruckende Weise die Tragweite des Problems der Mehrsprachigkeit allgemein und untermauert die positive Bewertung des Kommissionsvorschlags zur Förderung der Sprachenvielfalt in der Informationsgesellschaft.

    2.3. Der Wirtschafts- und Sozialausschuß stimmt dem Kommissionsvorschlag grundsätzlich zu, auch wenn er nicht darauf ausgerichtet ist, eine allmähliche kulturelle Integration auf europäischer Ebene zu fördern, und sich darauf beschränkt, die Entwicklung von Instrumenten und Techniken zu unterstützen, die die Übertragung von Informationen und deren Austausch erleichtern können.

    2.4. Die verschiedenen Aspekte der Mehrsprachigkeit lassen sich letztlich in drei große Gruppen (mit abnehmender Priorität) einteilen:

    - Ermöglichung der direkten Kommunikation;

    - Erleichterung des Verständnisses übertragener Informationen (Übersetzung, Synchronisation, Verdolmetschung usw.);

    - Interpretation von toten oder ungebräuchlichen Sprachen (dieser Aspekt hat im wesentlichen historischen und wissenschaftlichen Charakter und betrifft einen begrenzten Personenkreis).

    2.5. Eine gründliche Prüfung des Vorschlags, insbesondere der drei Aktionsbereiche des Programms, veranlaßt zu dem Schluß, daß der Vorschlag darauf ausgelegt ist, technische und sprachliche Instrumente zu stärken, die geeignet sind, die Aufnahme von Informationen zu erleichtern.

    2.6. Aufgrund dieses Ansatzes - der als solcher insofern nicht negativ zu bewerten ist, als damit die Sprachindustrie angesprochen wird und Anreize für Expansion geschaffen werden sollen - ist das Programm der zweiten Gruppe der Aspekte der Mehrsprachigkeit (Ermöglichung des Verständnisses übertragener Informationen) zuzuordnen, zumal sich nicht das Problem des Spracherwerbs als prioritäre Voraussetzung für die direkte Kommunikation stellt.

    2.7. Dies bedeutet jedoch nicht, daß das Programm ineffizient ist. Vielmehr beschränkt es sich auf einen Teilaspekt einer umfassenderen, grundlegenden Problemstellung, die bisher nur andeutungsweise angegangen wurde.

    2.8. Der Ausschuß unterstützt und schätzt daher die Zielsetzungen des Kommissionsvorschlags, möchte aber die Kommission, den Rat und das Parlament darauf hinweisen, daß die Erfuellung der Bestimmungen des Vertrags, vor allem der Bestimmungen über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der EU, erhöhte Aufmerksamkeit und größere Anstrengungen erfordert, um die bestehenden Hindernisse überwinden zu können.

    2.9. Bereits in der derzeitigen Union der Fünfzehn werden gleichzeitig elf Arbeitssprachen verwendet. Mit dem anstehenden Beitritt weiterer Länder wird sich das Spektrum der Sprachen in einigen Jahren wesentlich erweitern.

    2.10. Wird es trotz größter Anstrengungen zur Förderung der Mehrsprachigkeit möglich sein, den engen Zusammenhalt zu wahren, den freien Personen- und Warenverkehr zu erleichtern, kurzum, einen starken und in sich geschlossenen Binnenmarkt zu verwirklichen?

    2.11. In einer Welt wie der heutigen, in der eine immer stärkere Globalisierung in wirtschaftlicher, kultureller, politischer und sonstiger Hinsicht stattfindet, besteht eines der Hauptprobleme darin, für unkomplizierte Kommunikationsmöglichkeiten zu sorgen. Es muß daher die politische Herausforderung akzeptiert werden, bis zum Jahr 2000 europäische Verkehrssprachen festzulegen.

    2.12. Es gibt heute bereits universelle Sprachen, die das eindeutige und richtige Verständnis einer Aussage ermöglichen; dazu gehören beispielsweise mathematische oder wissenschaftlich-technische Sprachen, die jedoch bestimmten Berufsgruppen oder Fachleuten vorbehalten sind und denen vor allem die Nuancen der natürlichen Sprachen fehlen.

    2.13. Für die große Mehrheit setzt die unmittelbare Kommunikation zwischen zwei oder mehr Sprachen voraus, daß wenigstens einer der Beteiligten die betreffende(n) Sprache(n) in Wort und/oder Schrift perfekt beherrscht.

    2.14. Die Lösung des Hauptproblems einer ungehinderten wechselseitigen Kommunikation ergibt sich (wenn nicht politische Entscheidungen oder gar Zwangsmaßnahmen getroffen werden) mit der Zeit von selbst, indem sich eine Verkehrssprache durchsetzt; es findet sozusagen eine natürliche Selektion statt, die nur den Marktgesetzen gehorcht.

    2.14.1. Als Beispiele für Sprachen, die nach territorialer Eroberung und Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung aufgezwungen wurden, könnten fast alle europäischen Sprachen angeführt werden.

    2.15. Derartige Methoden sind heute nicht nur nicht praktizierbar, sondern aus ethischen, historischen und moralischen Gründen auch undenkbar und abzulehnen. Gleichwohl ist eine politische Entscheidung geboten, es sei denn, man will die Lösung des Problems der spontanen und zufälligen Entwicklung der Ereignisse überlassen.

    2.16. Hingegen müssen konkrete Maßnahmen getroffen werden, mit denen die Mehrheit der europäischen Bürger in die Lage versetzt wird, bereits nach kurzer Zeit zwei oder drei Gemeinschaftssprachen zu beherrschen. Dabei muß der Hebel vor allem beim Schulunterricht angesetzt werden, in dessen Rahmen der Fremdsprachenerwerb primär erfolgt.

    2.17. Die Nützlichkeit der Verkehrssprache birgt die Gefahr einer übermäßigen Vereinheitlichung und Vereinfachung des Sprachgebrauchs infolge der Verwässerung oder des Verlusts der in den jeweiligen Sprachen verwurzelten kulturellen Werte, die mit der Zeit abgeschliffen werden.

    2.18. Wenn man nicht will, daß diese Werte verlorengehen, müssen die sprachlichen Eigenheiten als lebendige Träger von Kulturen, Traditionen und Gebräuchen, die für eine Vielvölkergesellschaft eine große Bereicherung sein können, geschützt werden, allerdings durch einen gänzlich anderen politischen Ansatz als den Versuch, das Überleben von vermeintlich minoritären Sprechweisen nach dem Vorbild der "Indianerreservate" zu garantieren.

    2.19. Das Ziel, die Verständigungsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Sprachen - auch durch einen stärkeren Einsatz moderner Technologien - zu verbessern, ist also durchaus zu befürworten, obwohl es nur einen Teilaspekt abdeckt und nicht von der Lösung des Hauptproblems ablenken darf, das darin besteht, parallel dazu eine europäische Verkehrssprache zu entwickeln.

    Geschehen zu Brüssel am 30. Mai 1996.

    Der Präsident des Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Carlos FERRER

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