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Document 61979CC0102

Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 27. März 1980.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Belgien.
Nichtanwendung von Harmonisierungsrichtlinien für Kraftfahrzeuge und Zugmaschinen.
Rechtssache 102/79.

Sammlung der Rechtsprechung 1980 -01473

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1980:102

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

VOM 27. MÄRZ 1980

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Das Vertragsverletzungsverfahren, zu dem ich heute Stellung nehme, weist Parallelen auf zu der Rechtssache 69/77 (Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Italienische Republik), die zu dem Urteil des Gerichtshofs vom 21. September 1978 (Slg. 1978, 1749) führte.

In dem damaligen Verfahren machte die Kommission der Italienischen Republik den Vorwurf, ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag verletzt zu haben, indem sie es unterließ, innerhalb der vorgeschriebenen Fristen die erforderlichen Vorschriften zu erlassen, um der Richtlinie des Rates Nr. 74/150/EWG vom 4. März 1974 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für land- oder forstwirtschaftliche Zugmaschinen auf Rädern (ABl. L 84 vom 28. 3. 1974, S. 10) sowie einer Reihe von Richtlinien, die zur Ausfüllung der genannten Rahmenrichtlinie ergangen waren, nachzukommen.

In dem vorliegenden Verfahren wirft die Kommission dem Königreich Belgien vor, gegen die Vorschriften des Vertrages verstoßen zu haben, indem es nicht rechtzeitig seine nationalen Vorschriften an die genannte Richtlinie sowie an weitere sieben in Ausfüllung dazu ergangene Richtlinien angepaßt habe. Derselbe Vorwurf wird erhoben im Hinblick auf vier Richtlinien, die zur Ausfüllung der Richtlinie des Rates Nr. 70/156/EWG vom 6. Februar 1970 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger (ABl. L 42 vom 23. 2. 1970, S. 1) ergangen sind.

Das System, das den gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien im Bereich der land-oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern zugrunde liegt und das praktisch identisch ist mit demjenigen im Bereich für „Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeuganhänger“, wurde bereits in dem Sachverhalt des Urteils in der Rechtssache 69/77 sowie in meinen Schlußanträgen dazu eingehend geschildert; ich brauche deshalb nicht mehr auf die Einzelheiten einzugehen. Die zwölf Richtlinien im einzelnen, deren nicht rechtzeitige Umsetzung in nationales Recht gerügt wird, ergeben sich aus dem Sitzungsbericht zu der vorliegenden Rechtssache, auf den ich insofern verweisen darf.

Mit der Begründung, das Königreich Belgien habe innerhalb der in den Richtlinien vorgesehenen Fristen die zur Erfüllung seiner sich aus den Richtlinien ergebenden Verpflichtungen notwendigen Maßnahmen nicht getroffen, leitete die Kommission mit Schreiben vom 12. Juli 1974, 14. April 1976 und 21. April 1977 das Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 169 des EWG-Vertrags ein und erhob schließlich, nachdem die an das Königreich Belgien gerichtete, mit Gründen versehene Stellungnahme vom 21. Juni 1978 gleichfalls erfolglos geblieben war, die vorliegende Klage mit dem Antrag,

festzustellen, daß das Königreich Belgien [gegen eine ihm nach dem EWG-Vertrag obliegende Verpflichtung verstoßen hat], indem es es unterließ, innerhalb der vorgeschriebenen Fristen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, die zur Befolgung der die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Kraftfahrzeuge und der land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen betreffenden Richtlinien 70/221/EWG, 70/387/EWG, 74/60/EWG, 74/483/EWG, 74/150/EWG, 74/151/EWG, 74/152/EWG, 74/346/EWG, 74/347/EWG, 75/321/EWG, 75/322/EWG, 75/323/EWG erforderlich sind,

das Königreich Belgien zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

Die Regierung des Königreichs Belgien hält die Klage für unbegründet. Ihrer Meinung nach geht die Kommission von der irrigen Annahme aus, daß das Königreich Belgien notwendigerweise rechtsetzende Maßnahmen ergreifen müsse, um die Ziele der fraglichen Richtlinien zu verwirklichen. Gemäß Artikel 189 Absatz 3 des EWG-Vertrags seien die Richtlinien für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet werden, nur hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überließen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Das Ziel der fraglichen Richtlinien, nämlich der Abbau technischer Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel, sei aber erreicht, indem diese spätestens seit Ablauf der gesetzten Fristen von den zuständigen Behörden tatsächlich angewandt würden. Hinsichtlich der Anwendung der fraglichen Richtlinien gebe es keine Probleme, da diese klar und präzise seien, den Mitgliedstaaten bei der technischen Ausführung keinerlei Ermessensspielraum einräumten und somit unmittelbar anwendbar seien. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bewirke, daß entgegenstehendes nationales Recht insofern nicht zur Anwendung gelange. Im Unterschied zu der Rechtssache 69/77 sei deshalb auch kein Fall einer Behinderung des innergemeinschaftlichen Handelsaustausches bekannt. Die fortbestehende belgische Regelung auf den von den Richtlinien erfaßten Gebieten enthalte weniger strenge Vorschriften als die gemeinschaftsrechtliche Normierung. Sie bilde deshalb kein Hindernis für die Einfuhr von Kraftfahrzeugen und Zugmaschinen, die den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften entsprächen, nach Belgien. Im nationalen Bereich stehe die belgische Regelung ebenfalls nicht den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften entgegen, da das von den Richtlinien vorgesehene System der optionellen Harmonisierung das Weiterbestehen von weniger strengen Normen erlaube.

Mit dieser Einlassung wird die grundsätzliche Frage angeschnitten, ob es mit der verbindlichen Wirkung einer Richtlinie zu vereinbaren ist, wenn ein Mitgliedstaat die darin enthaltenen Bestimmungen anwendet, ohne die Richtlinie durch einen staatlichen Akt in nationales Recht umzusetzen.

Hierzu ist jedoch zunächst darauf hinzuweisen, daß die Richtlinien nach dem Vertragssystem und nach der einschlägigen Rechtsprechung grundsätzlich nur Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines einheitlichen Rechtszustandes innerhalb der Gemeinschaft begründen. Gemäß Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag ist den innerstaatlichen Stellen dabei die Wahl der Form und der Mittel zur Durchführung der Richtlinien überlassen. Insbesondere wurde von der Rechtsprechung ständig die Wichtigkeit der Einhaltung der in der Richtlinie gesetzten Fristen unterstrichen (z. B. EuGH 22. September 1976 — Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Italienische Republik, 10/76 — Slg. 1976, 1359). Die Tatsache, daß die in den Richtlinien genannten Fristen nicht eingehalten werden, läßt dabei die Verpflichtung als solche unberührt.

Die Mitgliedstaaten können sich auch nicht, entgegen der Ansicht der belgischen Regierung, auf die unmittelbare Wirkung der Richtlinien berufen, um sich ihrer vertraglichen Verpflichtung zu entziehen. Das Wesentliche dieser Wirkung besteht bekanntlich darin, daß den Mitgliedstaaten, die ihren Verpflichtungen aus einer Richtlinie nicht nachkommen, die Möglichkeit genommen wird, sich auf den aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts rechtswidrigen nationalen Zustand zu berufen. Ausnahmsweise erhalten deshalb einzelne das Recht, sich dem säumigen Staat gegenüber auf die Richtlinie zu beziehen und daraus Rechte herzuleiten, die von den nationalen Gerichten beachtet werden müssen (EuGH 6. Oktober 1970 — Franz Grad/Finanzamt Traunstein, 9/70 — Slg. 1970, 825; EuGH 4. Dezember 1974 — Yvonne Van Duyn/Home Office, 41/74 — Slg. 1974, 1337; EuGH 1. Februar 1977 — Verbond van nederlandse Ondernemingen/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, 51/76 — Slg. 1977, 113; EuGH 5. April 1979 — Ratti, 148/78 — Slg. 1979, 1629). Würde man den Mitgliedstaaten erlauben, sich unter Berufung auf die unmittelbare Wirkung der Richtlinien und auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ihren vertraglichen Verpflichtungen zu entziehen, würden die Richtlinien, entgegen dem Vertragssystem, den Verordnungen, denen allgemeine Geltung zukommt, gleichgestellt.

Das für die Mitgliedstaaten verbindliche Ziel ergibt sich aber eindeutig aus dem übereinstimmenden zweiten Erwägungsgrund der Rahmenrichtlinien 70/156/EWG und 74/150 EWG, wonach die technischen Hemmnisse für die Errichtung und das reibungslose Funktionieren des Gemeinsamen Marktes sich verringern oder sogar beseitigen lassen, wenn alle Mitgliedstaaten in Ergänzung oder anstelle ihrer derzeitigen Rechtsvorschriften gleiche Vorschriften erlassen. Dementsprechend sehen alle fraglichen Richtlinien in einem vorletzten Artikel vor, daß die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, um den Richtlinien binnen einer bestimmten Frist nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen, und die Kommission hiervon unverzüglich in Kenntnis setzen. In einem zweiten Absatz wird darüber hinaus bestimmt, daß die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, daß der Kommission der Wortlaut der wichtigsten innerstaatlichen Rechtsvorschriften übermittelt wird, die sie auf den unter diese Richtlinien fallenden Gebieten erlassen.

Aus dem bislang Gesagten geht bereits hervor, daß das Königreich Belgien dieser Verpflichtung nicht Genüge getan hat, auch wenn die fraglichen Richtlinien, die unstreitig geeignet sind, unmittelbare Wirkungen zugunsten der einzelnen zu entfalten, von den zuständigen belgischen Behörden faktisch angewandt werden.

Wie wir insbesondere in der mündlichen Verhandlung gehört haben, sind die belgischen Vorschriften, die die Erteilung einer Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Zugmaschinen regeln, zudem nicht generell weniger streng, sondern unterscheiden sich von den entsprechenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts dadurch, daß sie unterschiedliche Anforderungen an die Erteilung einer Betriebserlaubnis stellen. Die Aufrechterhaltung dieser nationalen Vorschriften führt aber zu einer Rechtsunsicherheit, da die einzelnen nicht wissen können, ob die fraglichen Richtlinien geeignet sind, unmittelbare Wirkungen zu entfalten. Deshalb verlangen, wie die Kommission zu Recht hervorhebt, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, daß die technischen Richtlinien durch eine, wie auch immer geartete staatliche Maßnahme in das innerstaatliche Recht umgesetzt werden, damit sie als unmittelbar anwendbares Recht zur allgemeinen Kenntnis der Betroffenen gelangen. Weiterhin wäre es aber auch für die Kommission ohne eine solche Umsetzung in nationales Recht sehr schwierig, wenn nicht praktisch unmöglich, jedesmal zu überprüfen, ob die Richtlinien auch tatsächlich trotz der anderslautenden nationalen Bestimmungen angewandt werden. Diese Schwierigkeiten werden übrigens auch von der belgischen Regierung nicht geleugnet, die sich, wie eingeräumt wird, aus Gründen der Rechtsklarheit seit 1975 um eine Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht bemüht hat.

Die sich aus den Richtlinien ergebende Verpflichtung zu ihrer Umsetzung wird schließlich auch nicht, wie die belgische Regierung meint, durch die in den Richtlinien vorgesehene Möglichkeit der „optionellen Harmonisierung“ in Frage gestellt, da die Mitgliedstaaten nach allen fraglichen Richtlinien verpflichtet sind, „entweder zusätzlich oder anstelle ihrer derzeitigen Regelung“ gleiche Vorschriften anzunehmen.

Damit ist abschließend noch kurz auf das Vorbringen der belgischen Regierung einzugehen, die Schwerfälligkeit der Behörden bei der Vorbereitung der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen, vom Staatsrat im Jahr 1977 aufgeworfene Zweifel an der gesetzlichen Grundlage der geplanten Maßnahmen und schließlich eine Regierungskrise hätten den normalen Ablauf des Rechtsetzungsverfahrens gehemmt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, die ich hier wohl nicht mehr im einzelnen zu zitieren brauche, steht aber fest, daß der gemäß Artikel 169 des EWG-Vertrags verklagte Staat Verzögerungen und Schwierigkeiten, die sich aus dem nationalen Recht ergeben, zu vertreten hat. Außerdem habe ich bereits darauf hingewiesen, daß gemäß Artikel 189 Absatz 3 des EWG-Vertrags den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel zur Durchführung der Richtlinie überlassen bleibt. Daraus folgt, worauf besonders auch die Kommission hinweist, daß der sich aus den fraglichen Richtlinien ergebenden Verpflichtung zum Beispiel bereits Genüge getan worden wäre, wenn die zuständigen Organe die mit der Ausführung der Richtlinie befaßten Behörden durch ein ordnungsgemäß veröffentlichtes Rundschreiben angewiesen hätten, die Richtlinien bei der Erteilung einer Betriebserlaubnis für Kraftfahrzeuge und Zugmaschinen anzuwenden. Nachdem auch dies nicht geschehen ist, bleibt daher keine andere Möglichkeit, als dem Antrag der Kommission stattzugeben.

Festzustellen ist folglich, daß das Königreich Belgien gegen eine ihm nach dem EWG-Vertrag obliegende Verpflichtung verstoßen hat, indem es unterlassen hat, innerhalb der vorgeschriebenen Fristen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, die zur Befolgung der die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Kraftfahrzeuge und der land- oder forstwirtschaftlichen Zugmaschinen betreffenden Richtlinien 70/221/EWG, 70/387/EWG, 74/60/EWG, 74/483/EWG, 74/150/EWG, 74/151/EWG, 74/152/EWG, 74/346/EWG, 74/347/EWG, 75/321/EWG, 75/322/EWG, 75/323/EWG erforderlich sind. Weiterhin sind dem beklagten Königreich die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

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