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Document 62022CJ0072

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 30. Juni 2022.
M.A.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Asyl- und Einwanderungspolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 4 – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 6 und 7 – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 – Inhaftnahme des Antragstellers – Haftgrund – Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung – Inhaftnahme des Asylbewerbers aufgrund seiner illegalen Einreise in das Unionsgebiet.
Rechtssache C-72/22 PPU.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:505

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

30. Juni 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Asyl- und Einwanderungspolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 4 – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 6 und 7 – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 – Inhaftnahme des Antragstellers – Haftgrund – Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung – Inhaftnahme des Asylbewerbers aufgrund seiner illegalen Einreise in das Unionsgebiet“

In der Rechtssache C‑72/22 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) mit Entscheidung vom 2. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Februar 2022, in dem Verfahren

M.A.,

Beteiligter:

Valstybės sienos apsaugos tarnyba,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. April 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von M.A., vertreten durch I. Botyrienė, Advokatė,

der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Vasiliauskienė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema, S. L. Kalėda und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Juni 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9), von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) sowie von Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen M.A., einem Drittstaatsangehörigen, und dem Valstybės sienos apsaugos tarnyba (Staatlicher Grenzschutzdienst beim Innenministerium der Republik Litauen) (im Folgenden: VSAT) wegen dessen Antrags auf Inhaftnahme von M.A.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2011/95

3

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.“

Richtlinie 2013/32

4

In Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist“.

5

Art. 6 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1)   Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)   Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(4)   Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.

(5)   Beantragt eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, die Frist nach Absatz 1 einzuhalten, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass diese Frist auf 10 Arbeitstage verlängert wird.“

6

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeder geschäftsfähige Erwachsene das Recht hat, im eigenen Namen einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.“

7

Art. 43 der Richtlinie 2013/32 lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können nach Maßgabe der Grundsätze und Garantien nach Kapitel II Verfahren festlegen, um an der Grenze oder in Transitzonen des Mitgliedstaats über Folgendes zu entscheiden:

a)

die Zulässigkeit eines an derartigen Orten gestellten Antrags gemäß Artikel 33 und/oder

b)

die Begründetheit eines Antrags in einem Verfahren nach Artikel 31 Absatz 8.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Entscheidung im Rahmen der Verfahren nach Absatz 1 innerhalb einer angemessenen Frist ergeht. Ist innerhalb von vier Wochen keine Entscheidung ergangen, so wird dem Antragsteller die Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gestattet, damit sein Antrag nach Maßgabe der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie bearbeitet werden kann.

(3)   Wenn es aufgrund der Ankunft einer erheblichen Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an der Grenze oder in Transitzonen, die förmlich Anträge auf internationalen Schutz stellen, in der Praxis nicht möglich ist, die Bestimmungen des Absatzes 1 anzuwenden, können die genannten Verfahren auch in diesen Fällen und für die Zeit angewandt werden, in der die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen normalerweise in der Nähe der Grenze oder Transitzone untergebracht werden.“

Richtlinie 2013/33

8

Die Erwägungsgründe 15 und 20 der Richtlinie 2013/33 lauten:

„(15)

Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht, insbesondere sollte die Inhaftnahme im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und unter Beachtung von Artikel 31 des Genfer Abkommens erfolgen. Antragsteller dürfen nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden. Befindet sich ein Antragsteller in Haft, sollte er effektiven Zugang zu den erforderlichen Verfahrensgarantien haben und beispielsweise zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer nationalen Justizbehörde berechtigt sein.

(20)

Die Inhaftnahme eines Antragstellers sollte lediglich als letztes Mittel eingesetzt werden und darf erst zur Anwendung kommen, nachdem alle Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen sorgfältig darauf geprüft worden sind, ob sie besser geeignet sind, die körperliche und geistige Unversehrtheit des Antragstellers sicherzustellen. Alle Alternativen zur Haft müssen mit den grundlegenden Menschenrechten der Antragsteller in Einklang stehen.“

9

Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

h)

‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat“.

10

Art. 8 der Richtlinie 2013/33 bestimmt in den Abs. 2 und 3:

„(2)   In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)   Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

e)

wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist;

…“

11

Art. 9 der Richtlinie 2013/33 lautet:

„(1)   Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft.

(2)   Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)   Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

(4)   In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen … oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.

(5)   Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.

(6)   Im Falle einer gerichtlichen Überprüfung der Haftanordnung nach Absatz 3 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass der Antragsteller unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch nehmen kann. Die Rechtsberatung und ‑vertretung umfasst zumindest die Vorbereitung der erforderlichen Verfahrensdokumente und die Teilnahme an der Verhandlung im Namen des Antragstellers vor den Justizbehörden.

Die unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung erfolgt durch nach einzelstaatlichem Recht zugelassene oder befugte Personen, die über eine angemessene Qualifikation verfügen und deren Interessen denen der Antragsteller nicht zuwiderlaufen oder nicht zuwiderlaufen könnten.

(7)   Die Mitgliedstaaten können darüber hinaus vorsehen, dass unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung nur gewährt wird

a)

für diejenigen, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen; und/oder

b)

durch Rechtsbeistand oder sonstige Berater, die nach nationalem Recht zur Unterstützung und Vertretung von Antragstellern bestimmt wurden.

(8)   Ferner können die Mitgliedstaaten

a)

für die Gewährung von unentgeltlicher Rechtsberatung und ‑vertretung eine finanzielle und/oder zeitliche Begrenzung vorsehen, soweit dadurch der Zugang zu Rechtsberatung und ‑vertretung nicht willkürlich eingeschränkt wird;

b)

vorsehen, dass Antragstellern hinsichtlich der Gebühren und anderen Kosten keine günstigere Behandlung zuteil wird, als sie den eigenen Staatsangehörigen in Fragen der Rechtsberatung im Allgemeinen gewährt wird.

(9)   Die Mitgliedstaaten können verlangen, dass der Antragsteller ihnen die entstandenen Kosten ganz oder teilweise zurückerstattet, wenn sich seine finanzielle Lage beträchtlich verbessert hat oder wenn die Entscheidung zur Übernahme solcher Kosten aufgrund falscher Angaben des Antragstellers getroffen wurde.

(10)   Die Verfahren für die Inanspruchnahme von Rechtsberatung und ‑vertretung werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.“

Litauisches Recht

12

Art. 2 Abs. 20 des Lietuvos Respublikos įstatymas „Dėl užsieniečių teisinės padėties“ (Gesetz der Republik Litauen über den rechtlichen Status von Ausländern) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) sieht vor, dass ein Ausländer, der nach dem in diesem Gesetz vorgesehenen Verfahren einen Asylantrag gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden worden ist, als Asylbewerber gilt.

13

Kapitel X2 des Ausländergesetzes betrifft dessen Anwendung bei Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands sowie bei Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern. In diesem Kapitel bestimmt Art. 14012:

„(1)   Der Ausländer kann einen Asylantrag

1.

an Grenzkontrollstellen oder in Transitzonen beim [VSAT],

2.

im litauischen Hoheitsgebiet im Fall seiner rechtmäßigen Einreise [nach] Litauen bei der [Abteilung für Migration] sowie

3.

in einem anderen Staat bei vom Außenminister bestimmten diplomatischen oder konsularischen Dienststellen der Republik Litauen stellen.

(2)   Ein Asylantrag eines Ausländers, der nicht im Einklang mit dem in Abs. 1 des vorliegenden Artikels vorgesehenen Verfahren gestellt wird, ist unzulässig; dem Antragsteller wird das Verfahren zur Beantragung von Asyl erläutert. Der [VSAT] kann den Asylantrag eines Ausländers, der die Staatsgrenze der Republik Litauen illegal überschritten hat, entgegennehmen, um dessen Schutzbedürftigkeit oder anderen individuellen Umständen Rechnung zu tragen.

…“

14

Art. 14017 des Ausländergesetzes, der die Gründe für die Inhaftnahme eines Asylbewerbers bei Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands sowie bei Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern regelt, sieht in Nr. 2 vor, dass ein Asylbewerber in Haft genommen werden darf, wenn er in das Hoheitsgebiet der Republik Litauen gelangt ist, indem er die litauische Staatsgrenze illegal überschritten hat.

15

Nach Nr. 23 des Verfahrens für die Gewährung und den Entzug von Asyl in der Republik Litauen, das durch den Beschluss Nr. 1V-131 des Innenministers der Republik Litauen vom 24. Februar 2016 verabschiedet wurde (in der Fassung des Beschlusses Nr. 1V-626 des Innenministers der Republik Litauen vom 27. Juli 2021, im Folgenden: Beschreibung des Verfahrens), wird der Asylantrag, wenn er bei einer in Art. 67 Abs. 1 des Ausländergesetzes nicht benannten Behörde oder unter Missachtung der Vorgaben in Art. 67 Abs. 2 oder in Nr. 22 der Beschreibung des Verfahrens gestellt wird, spätestens binnen zwei Werktagen ab dem Zeitpunkt der Feststellung, dass der bei der Behörde eingereichte Antrag ein Asylantrag ist, an den Ausländer zurückgeschickt, wobei der Antragsteller über das Verfahren zur Beantragung von Asyl informiert wird. Diese Informationen werden dem Ausländer schriftlich in einer Sprache erteilt, von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht. Eine Abschrift der dem Ausländer gegebenen Antwort wird der in Art. 67 Abs. 1 des Ausländergesetzes benannten Behörde am Wohnort des Ausländers übersandt, sofern dieser bekannt ist.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Mit dem Beschluss Nr. 517 („Erklärung einer Notlage auf nationaler Ebene und Benennung des Leiters der Operationen im Zusammenhang mit der Notlage auf nationaler Ebene“) vom 2. Juli 2021 (TAR, 2021, Nr. 2021-15235, im Folgenden: Beschluss Nr. 517/21) erklärte die Regierung der Republik Litauen eine Notlage für das gesamte Hoheitsgebiet. Am 10. November 2021 wurde mit der Begründung, dass ein massiver Zustrom von Migranten insbesondere aus Weißrussland bewältigt werden müsse, in einem Teil dieses Gebiets der Ausnahmezustand verhängt.

17

Am 17. November 2021 wurde M.A., ein Drittstaatsangehöriger, mit einer Gruppe aus Litauen kommender Personen in Polen festgenommen, weil er weder Reisedokumente noch das für den Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und der Union erforderliche Visum besaß. Am 19. November 2021 wurde M.A. im litauischen Hoheitsgebiet Bediensteten des VSAT übergeben. Am selben Tag nahm das VSAT M.A. für eine Höchstdauer von 48 Stunden in Haft und beantragte beim Alytaus apylinkės teismas (Bezirksgericht Alytus, Litauen), seine Inhaftierung für die Dauer von bis zu sechs Monaten anzuordnen.

18

Vor diesem Gericht wies der VSAT darauf hin, dass die litauischen Datenbanken keine Informationen über den Betroffenen enthielten, der sich illegal in Litauen aufhalte. In Anbetracht aller relevanten Umstände war der VSAT der Ansicht, dass M.A. die Flucht ergreifen könnte, um sich einer Inhaftnahme oder einer Abschiebung durch diesen Mitgliedstaat zu entziehen. Der VSAT beantragte daher, M.A. zur Feststellung seines rechtlichen Status für bis zu sechs Monate in Haft zu nehmen.

19

In der mündlichen Verhandlung vor dem Alytaus apylinkės teismas (Bezirksgericht Alytus) stellte M.A. einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Entscheidung vom 20. November 2021 ordnete dieses Gericht die Inhaftnahme von M.A. bis zum Erlass einer Entscheidung über seinen rechtlichen Status in Litauen, längstens bis zum 18. Februar 2022, an, da Fluchtgefahr bestehe und da es ohne eine solche Maßnahme nicht möglich sei, die Gründe zu ermitteln, auf denen sein Asylantrag beruhe.

20

M.A. legte gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht, dem Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen), ein Rechtsmittel ein. In der mündlichen Verhandlung vor diesem Gericht wiederholte M.A. seinen Asylantrag und machte geltend, er habe bereits am 20. November 2021 bei einem nicht namentlich bekannten Beamten des VSAT einen Asylantrag gestellt. Der VSAT gibt jedoch an, dass er über keine Daten zu diesem Antrag verfüge.

21

Am 24. Januar 2022 stellte M.A. beim VSAT einen schriftlichen Asylantrag. Dieser Antrag wurde von der Abteilung für Migration, gestützt insbesondere auf Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes, als unzulässig zurückgewiesen.

22

Vor dem vorlegenden Gericht machte M.A. geltend, er habe keine Informationen zum Schicksal seines Asylantrags erhalten und sei nicht darüber informiert worden, wie dieser Antrag zu stellen sei. Am 1. Februar 2022 beantragten der Vertreter von M.A. und der Vertreter des VSAT bei einer weiteren Verhandlung vor diesem Gericht, der Abteilung für Migration aufzugeben, den Antrag von M.A. auf internationalen Schutz zu prüfen.

23

Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass bei einer durch den massiven Zustrom von Migranten verursachten Notlage, wie sie mit dem Beschluss Nr. 517/21 erklärt worden sei, ein Asylantrag nur zulässig sei, wenn er die Voraussetzungen von Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes erfülle. Außerdem könne bei einer solchen Notlage ein illegal in das litauische Hoheitsgebiet eingereister Ausländer in Haft genommen werden (Art. 14017 des Ausländergesetzes).

24

Die gemeinsame Anwendung dieser Bestimmungen des Ausländergesetzes habe zur Folge, dass es für M.A. wegen seiner illegalen Einreise in das litauische Hoheitsgebiet und seiner Inhaftnahme unmöglich gewesen sei, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, so dass er nicht als Asylbewerber eingestuft werden könne.

25

Wegen der mit dem Beschluss Nr. 517/21 erklärten Notlage könne eine weniger einschneidende Maßnahme als die Inhaftnahme aber nur bei Asylbewerbern ergriffen werden.

26

Daher könne auf einen Drittstaatsangehörigen, dessen Einreise nach und Aufenthalt in Litauen illegal seien, keine weniger einschneidende Maßnahme als die Inhaftnahme angewandt werden.

27

Nach Art. 14012 Abs. 2 des Ausländergesetzes stehe es zwar im Ermessen des VSAT, Drittstaatsangehörigen, die die litauischen Grenzen illegal überschritten hätten, wegen ihrer Schutzbedürftigkeit oder anderer individueller Umstände den Status eines Asylbewerbers zuzuerkennen. Da die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Ermessens nicht genau geregelt seien, sei das vorlegende Gericht jedoch nicht in der Lage, über die Rechtmäßigkeit der im vorliegenden Fall vom VSAT getroffenen Maßnahmen zu entscheiden.

28

Unter diesen Umständen müsse geklärt werden, ob die Richtlinien 2011/95 und 2013/32 nationalen Bestimmungen entgegenstünden, wonach einem illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereisten und dort aufhältigen Ausländer im Fall der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern de facto die Möglichkeit genommen werde, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

29

Zweitens bestünden Zweifel an der Vereinbarkeit der Bestimmungen, nach denen die litauischen Behörden im Fall der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern eine Person in der Situation von M.A. allein aufgrund ihrer illegalen Einreise in das litauische Hoheitsgebiet in Haft nehmen könnten, mit dem Unionsrecht. Es sei fraglich, ob diese Bestimmungen mit dem 15. Erwägungsgrund und mit Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 vereinbar seien, wonach Personen, die internationalen Schutz beantragten, nur in genau geregelten Ausnahmefällen und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Haft genommen werden dürften.

30

Überdies hat das vorlegende Gericht aufgrund von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Inhaftnahme von M.A. dem VSAT in seiner Vorlageentscheidung als vorläufige Maßnahme aufgegeben, M.A. für die Zeit bis zum 18. Februar 2022 einen Platz in einem Unterbringungszentrum oder an einem anderen geeigneten Ort zuzuweisen, unter Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf den Bereich des Ortes der Unterbringung. Außerdem hat das vorlegende Gericht der Abteilung für Migration aufgegeben, M.A. bis zum Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung im Ausgangsverfahren nicht in ein Drittland auszuweisen oder zurückzuführen.

31

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen wie den im vorliegenden Fall anwendbaren entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern einem Ausländer, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und sich dort illegal aufhält, grundsätzlich nicht gestattet wird, internationalen Schutz zu beantragen?

2.

Falls Frage 1 bejaht wird: Ist Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er in das Hoheitsgebiet der Republik Litauen eingereist ist, indem er die litauische Staatsgrenze illegal überschritten hat?

Zum Eilverfahren

32

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

33

Zur Stützung dieses Antrags hat es ausgeführt, M.A. habe sich vom 17. November 2021 bis zum Erlass der Vorlageentscheidung am 2. Februar 2022 in Haft befunden. Aufgrund dieser Entscheidung sei M.A. unter den oben in Rn. 30 genannten Bedingungen in ein Unterbringungszentrum gebracht worden. Die geltende Regelung erlaube es dem VSAT, nach dem Auslaufen der vorläufigen Maßnahme am 18. Februar 2022 beim erstinstanzlichen Gericht erneut zu beantragen, den Betroffenen in Haft zu nehmen oder ihn einer anderen Maßnahme zu unterwerfen.

34

Am 21. Februar 2022 hat die Erste Kammer des Gerichtshofs das vorlegende Gericht zum einen um Informationen über die Situation von M.A. nach dem Auslaufen der vom vorlegenden Gericht angeordneten Maßnahme und zum anderen um Angaben insbesondere zu den mit dieser Maßnahme verbundenen Beschränkungen der persönlichen Freiheit ersucht.

35

Aus der Antwort des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass das Marijampolės apylinkės teismas (Bezirksgericht Marijampole, Litauen) am 11. Februar 2022 in Bezug auf M.A. eine Maßnahme erlassen hat, die der vom vorlegenden Gericht angeordneten, oben in Rn. 30 beschriebenen Maßnahme entspricht. Diese Maßnahme wurde für die Zeit bis zur Feststellung des rechtlichen Status von M.A., längstens bis zum 11. Mai 2022, angeordnet.

36

Hierzu ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinien 2011/95, 2013/32 und 2013/33 betrifft, die unter Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags fallen. Es kommt daher grundsätzlich für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

37

Zweitens ist zur Voraussetzung der Dringlichkeit hervorzuheben, dass sie u. a. dann erfüllt ist, wenn die Person, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegenwärtig ihrer Freiheit beraubt ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Insoweit ist bei der Beurteilung der Situation der betreffenden Person auf den Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, abzustellen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Unterbringung eines Drittstaatsangehörigen in einer Hafteinrichtung, sei es während seines Antrags auf internationalen Schutz oder im Hinblick auf seine Abschiebung, eine freiheitsentziehende Maßnahme dar (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Im Übrigen hat der Gerichtshof in Bezug auf den Begriff „Haft“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 bereits entschieden, dass sich aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung sowie aus dem Kontext, in den sie sich einfügt, ergibt, dass die Inhaftierung einer Person, die internationalen Schutz beantragt, eine Zwangsmaßnahme darstellt, die dieser Person ihre Bewegungsfreiheit nimmt und sie vom Rest der Bevölkerung isoliert, indem ihr auferlegt wird, permanent in einem begrenzten und geschlossenen Bereich zu bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 223).

40

Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass für M.A. zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, eine „andere“ Maßnahme als die Inhaftnahme im Sinne des litauischen Rechts galt, und zwar die Unterbringung in einem Zentrum des VSAT unter Beschränkung seiner Bewegungsfreiheit auf den Bereich des Ortes der Unterbringung.

41

Insoweit geht aus den vom vorlegenden Gericht übermittelten Informationen hervor, dass M.A., auch wenn er sich innerhalb des fraglichen Zentrums des VSAT frei bewegen konnte, dessen Bereich nicht ohne Genehmigung und Begleitung verlassen durfte. Infolgedessen war er offenbar vom Rest der Bevölkerung isoliert und seiner Bewegungsfreiheit beraubt.

42

Unter diesen Umständen ist M.A. als in Haft befindlich im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 anzusehen.

43

Sodann geht in Bezug auf die Verbindung zwischen der weiteren Inhaftierung und der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits aus der Vorlageentscheidung zum einen hervor, dass die erste Vorlagefrage die Möglichkeit für M.A. betrifft, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und damit als Asylbewerber eingestuft zu werden. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist diese Einstufung als Asylbewerber erforderlich, damit eine Maßnahme angewandt werden kann, die nicht mit der den Begriff der Haft kennzeichnenden Beschränkung der Bewegungsfreiheit verbunden ist.

44

Zum anderen soll mit der zweiten Vorlagefrage geklärt werden, ob Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 es erlaubt, M.A. allein deshalb in Haft zu nehmen, weil er sich illegal im litauischen Hoheitsgebiet aufhält.

45

In Anbetracht dieser Erwägungen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs am 3. März 2022 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

Zum Fortbestand des Gegenstands der ersten Frage

46

In der mündlichen Verhandlung hat die litauische Regierung angegeben, M.A. habe am 18. März 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der nunmehr von den zuständigen Behörden geprüft werde. Ohne ausdrücklich die Unzulässigkeit der ersten Vorlagefrage geltend zu machen, führt sie aus, dass der Gerichtshof diese Frage nicht mehr zu beantworten brauche, da sie gegenstandslos geworden sei.

47

Das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ist ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 69).

48

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist. Stellt sich heraus, dass die vorgelegten Fragen für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung offensichtlich nicht erheblich sind, muss der Gerichtshof daher feststellen, dass er keine Entscheidung treffen kann (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 70).

49

Selbst wenn man unterstellt, dass M.A. am 18. März 2022 tatsächlich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der nunmehr geprüft wird, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht mit der ersten Vorlagefrage die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen klären will, die auf ihn ab seinem ersten, nach seinen Angaben am 20. November 2021 unternommenen Versuch angewandt wurden, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

50

Daraus folgt, dass die erste Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits weiterhin von Nutzen ist, so dass sie zu beantworten ist.

Zur Beantwortung der Frage

51

Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage formal auf die Auslegung einer bestimmten Vorschrift des Unionsrechts beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit (siehe oben, Rn. 47) nicht daran, diesem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 15. Juli 2021, DocMorris, C‑190/20, EU:C:2021:609, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Im vorliegenden Fall wird die erste Vorlagefrage, die u. a. die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 betrifft, mit den Zweifeln des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen in Litauen ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt werden kann, begründet. Diese Bestimmung betrifft jedoch die Beurteilung der maßgeblichen Anhaltspunkte eines solchen Antrags durch den betreffenden Mitgliedstaat und ist daher für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant.

53

Überdies ist, da die erste Vorlagefrage die genannten Voraussetzungen für die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz betrifft, auch Art. 6 der Richtlinie 2013/32 auszulegen, der die Regeln für den Zugang zum Verfahren zur Prüfung solcher Anträge enthält.

54

Außerdem führt nach den Angaben des vorlegenden Gerichts in einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern die Nichterfüllung der in Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorgesehenen Voraussetzungen für die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz dazu, dass dem Antrag nicht stattgegeben und er ohne Prüfung an den Betroffenen zurückgeschickt wird (Nr. 23 der Beschreibung des Verfahrens).

55

Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bedeutet dies, dass Drittstaatsangehörige, die nicht die Voraussetzungen für die Einreise nach Litauen erfüllen, der Sache nach nur vom Ausland aus oder an der Grenze wirksam Asyl in diesem Mitgliedstaat beantragen können. Dagegen verlieren die Drittstaatsangehörigen eine solche Möglichkeit nach ihrer illegalen Einreise in das litauische Hoheitsgebiet. In diesen Fällen wird ihr Antrag nämlich von den nationalen Behörden nicht berücksichtigt.

56

Unter diesen Umständen ist für eine sachdienliche Beantwortung der ersten Frage davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit ihr wissen möchte, ob Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern illegal aufhältige Drittstaatsangehörige de facto keine Möglichkeit haben, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu erlangen.

57

Aus Art. 6 Abs. 1, 3 und 4 der Richtlinie 2013/32 geht hervor, dass die „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz keine Verwaltungsformalität erfordert, da diese Formalitäten bei der „förmlichen Stellung“ des Antrags zu beachten sind. Bei der letztgenannten Handlung muss der Antragsteller nämlich das hierfür nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie erforderliche Formular ausfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 93).

58

Speziell zur „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 jeder geschäftsfähige Erwachsene das Recht hat, im eigenen Namen einen solchen Antrag zu stellen. Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht hat, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich seiner Grenzen oder Transitzonen internationalen Schutz zu beantragen, auch wenn er sich illegal dort aufhält. Dieses Recht wird dem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkannt, ohne dass es darauf ankommt, welche Erfolgsaussichten ein solcher Antrag hat (Urteil vom 16. November 2021, Kommission/Ungarn [Pönalisierung der Unterstützung von Asylbewerbern], C‑821/19, EU:C:2021:930, Rn. 136).

59

Überdies sind die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 verpflichtet, sicherzustellen, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, ihn so bald wie möglich förmlich zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 63).

60

Insoweit ist zum einen hervorzuheben, dass die Stellung, Registrierung und förmliche Stellung eines Antrags mit dem Ziel der Richtlinie 2013/32, einen effektiven, d. h. einen möglichst einfachen, Zugang zum Verfahren für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu gewährleisten, im Einklang stehen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 63).

61

Zum anderen ist das Recht, einen solchen Antrag zu stellen, eine Voraussetzung für die Beachtung der Rechte darauf, dass dieser Antrag registriert wird und innerhalb der in der Richtlinie 2013/32 festgelegten Fristen förmlich gestellt und geprüft werden kann, und letztlich für die Wirksamkeit des durch Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gewährleisteten Asylrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 102).

62

Auch wenn die Stellung und die förmliche Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz getrennte, aufeinanderfolgende Schritte darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 93), besteht somit gleichwohl ein enger Zusammenhang zwischen ihnen, da sie sowohl den effektiven Zugang zu dem Verfahren, das die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ermöglicht, als auch die Wirksamkeit von Art. 18 der Charta sicherstellen sollen.

63

Daher ist festzustellen, dass die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften wie Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes, wonach einem Drittstaatsangehörigen, dessen Aufenthalt illegal ist, allein deshalb die Möglichkeit genommen wird, nach seiner Einreise in das litauische Hoheitsgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen oder förmlich zu stellen, ihn folglich daran hindert, das in Art. 18 der Charta verankerte Recht tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

64

Die in Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorgesehenen Modalitäten für den Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz genügen mithin nicht den Anforderungen von Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32.

65

Die Mitgliedstaaten können zwar nach Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden. Wie der Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dürfen die Mitgliedstaaten von dieser Befugnis jedoch nicht in einer Weise Gebrauch machen, die Drittstaatsangehörige oder einige von ihnen in der Praxis daran hindert, ihren Antrag förmlich zu stellen oder dies „so bald wie möglich“ zu tun. Eine andere Auslegung würde gegen das Ziel der Richtlinie 2013/32, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewährleisten, verstoßen und die praktische Wirksamkeit des nach Art. 7 der Richtlinie jedem Drittstaatsangehörigen zustehenden Rechts, Asyl zu beantragen, erheblich beeinträchtigen.

66

Nichts anderes kann gelten, wenn der Zugang eines Drittstaatsangehörigen zum Verfahren gemäß Art. 6 der Richtlinie 2013/32 durch die Ausübung des in Art. 14012 Abs. 2 des Ausländergesetzes vorgesehenen Ermessens gewährleistet werden kann, das es der zuständigen Behörde erlaubt, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Schutzbedürftigkeit des Antragstellers oder anderer individueller Umstände zu prüfen.

67

Hierzu genügt die Feststellung, dass nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs „jeder geschäftsfähige Erwachsene“ und „jeder Drittstaatsangehörige“ das Recht hat, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen (siehe oben, Rn. 58). Somit erfüllt eine nationale Bestimmung wie Art. 14012 Abs. 2 des Ausländergesetzes, wonach die zuständige Behörde nur in Bezug auf die Berücksichtigung der Anträge bestimmter illegal aufhältiger Betroffener wegen ihrer Schutzbedürftigkeit über ein Ermessen verfügt, nicht die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32.

68

Die litauische Regierung beruft sich zur Rechtfertigung der in Art. 14012 Abs. 1 des Ausländergesetzes vorgesehenen Beschränkungen des Rechts, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, allerdings auf die Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in der Republik Litauen wegen des massiven Zustroms von Migranten, insbesondere aus Weißrussland, an ihren Grenzen.

69

Nach Art. 72 AEUV berühren die Bestimmungen von Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.

70

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet sowie ihre innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten, doch bedeutet dies nicht, dass solche Maßnahmen der Anwendung des Unionsrechts völlig entzogen wären. Der AEU-Vertrag sieht nämlich, wie der Gerichtshof entschieden hat, ausdrückliche Abweichungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit nur in ganz bestimmten Fällen vor. Aus ihnen lässt sich kein allgemeiner, dem AEU-Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten, der jede zur Wahrung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffene Maßnahme vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme. Würde ein solcher Vorbehalt unabhängig von den besonderen Tatbestandsmerkmalen der Bestimmungen des AEU-Vertrags anerkannt, könnte dies die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 214).

71

Außerdem ist die in Art. 72 AEUV vorgesehene Ausnahme eng auszulegen. Daraus folgt, dass er nicht als Ermächtigung der Mitgliedstaaten verstanden werden darf, allein unter Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von den Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 215).

72

Unter diesen Umständen und in Anbetracht der oben in den Rn. 70 und 71 angeführten Rechtsprechung kann Art. 72 AEUV nicht herangezogen werden, um unter allgemeiner Geltendmachung von Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit durch den massiven Zustrom von Drittstaatsangehörigen eine Bestimmung wie Art. 14012 des Ausländergesetzes zu rechtfertigen, die dazu führt, dass Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, de facto das Recht genommen wird, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen.

73

Die litauische Regierung hat überdies nicht erläutert, inwiefern sich eine solche Maßnahme im Fall einer Notlage wegen des massiven Zustroms von Migranten auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit auswirken würde.

74

Im Übrigen gestattet es die Richtlinie 2013/32, wie sich aus den Nrn. 125 bis 127 und 130 der Schlussanträge des Generalanwalts ergibt, u. a. in Art. 43 den Mitgliedstaaten, besondere an ihren Grenzen geltende Verfahren einzuführen, um die Zulässigkeit von Anträgen auf internationalen Schutz in Fällen zu beurteilen, in denen das Verhalten des Antragstellers darauf hindeutet, dass sein Antrag offensichtlich unbegründet ist oder missbräuchlich gestellt wurde. Diese Verfahren ermöglichen es den Mitgliedstaaten, an den Außengrenzen der Union ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit wahrzunehmen, ohne dass es des Rückgriffs auf eine Ausnahme nach Art. 72 AEUV bedarf.

75

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern illegal aufhältige Drittstaatsangehörige de facto keine Möglichkeit haben, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu erlangen.

Zur zweiten Frage

Zur Zulässigkeit

76

Die litauische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen vorgetragen, dass die zweite Vorlagefrage nicht beantwortet zu werden brauche, da das vorlegende Gericht am 2. Februar 2022 angeordnet habe, M.A. einer „anderen“ Maßnahme als der Inhaftnahme im Sinne des litauischen Rechts zu unterwerfen, und da diese Maßnahme bis zum 11. Mai 2022 verlängert worden sei.

77

Insoweit genügt der Hinweis, dass die gegen M.A. verhängte Maßnahme eine Inhaftnahme im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 darstellt (siehe oben, Rn. 42).

78

Unter diesen Umständen ist die zweite Frage zulässig und damit zu beantworten.

Zur Beantwortung der Frage

79

Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält.

80

Zunächst ist klarzustellen, dass ein Drittstaatsangehöriger nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Eigenschaft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 erwirbt, sobald er einen solchen Antrag „stellt“ (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 92).

81

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird durch die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 15 und 20 die den Mitgliedstaaten eingeräumte Befugnis zur Inhaftnahme erheblich eingeschränkt (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 101).

82

So darf nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nur dann in Haft genommen werden, wenn dies nach einer Einzelfallprüfung erforderlich ist und wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Daraus folgt, dass die nationalen Behörden eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, erst in Haft nehmen dürfen, nachdem sie im Einzelfall geprüft haben, ob die Haft in angemessenem Verhältnis zu den mit ihr verfolgten Zwecken steht (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 102).

83

In Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 werden nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die verschiedenen Gründe, aus denen eine Inhaftnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt, wobei jeder von ihnen einem besonderen Bedürfnis entspricht und autonomen Charakter hat. Außerdem müssen angesichts der Bedeutung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer solchen Inhaftnahme bestehenden Eingriffs in dieses Recht die Einschränkungen seiner Ausübung auf das absolut Notwendige beschränkt bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 104 und 105).

84

Der Umstand, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, gehört aber nicht zu den Gründen, die nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 die Inhaftnahme des Antragstellers rechtfertigen können. Folglich darf ein Drittstaatsangehöriger nicht allein aus diesem Grund in Haft genommen werden.

85

Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, erscheint jedoch klärungsbedürftig, ob ein solcher Umstand die Inhaftnahme eines Asylbewerbers aus den in Art. 8 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie genannten Gründen des Schutzes der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung rechtfertigen kann, wie die litauische Regierung im Wesentlichen vorbringt. Sie trägt insbesondere vor, im außergewöhnlichen Kontext des massiven Zustroms von Ausländern aus Weißrussland stelle das Verhalten einer Person, die sich in der Lage von M.A. befinde, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit der Republik Litauen dar. In der mündlichen Verhandlung hat die litauische Regierung ferner auf die Gefahr hingewiesen, die ein Ausländer, der sich in der Lage von M.A. befinde, für die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit der übrigen Mitgliedstaaten der Union darstelle.

86

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der enge Rahmen für die Ausübung der den zuständigen nationalen Behörden zuerkannten Befugnis, einen Antragsteller auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 in Haft zu nehmen, auch durch die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommene Auslegung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ in anderen Richtlinien gewährleistet wird, die für die Richtlinie 2013/33 gleichermaßen gilt (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 64).

87

So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

88

Der Begriff „nationale Sicherheit“ umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

89

Eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung kann daher nur dann die Anordnung oder Beibehaltung der Inhaftierung eines Antragstellers auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 erforderlich machen, wenn sein individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats berührt (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 67).

90

Unter diesen Umständen kann die Illegalität des Aufenthalts einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, für sich genommen nicht als Nachweis für das Vorliegen einer hinreichend erheblichen Gefahr angesehen werden, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt oder eines der oben in Rn. 89 genannten Interessen beeinträchtigt. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein solcher Antragsteller allein deshalb, weil er sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhält, eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung dieses Mitgliedstaats im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 darstellt.

91

Diese Feststellung lässt die Möglichkeit unberührt, bei einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat und sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhält, aufgrund besonderer, ihre Gefährlichkeit belegender Umstände, die zur Illegalität ihres Aufenthalts hinzukommen, eine solche Gefahr zu bejahen.

92

Soweit schließlich das Vorbringen der litauischen Regierung in der mündlichen Verhandlung dahin zu verstehen sein sollte, dass sie sich auf die Möglichkeit beruft, aufgrund der außergewöhnlichen Situation des Zustroms von Migranten auf der Grundlage von Art. 72 AEUV von sämtlichen Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 abzuweichen, ist darauf hinzuweisen, dass sie insoweit nur allgemeine Erwägungen geltend macht, die in Anbetracht der oben in den Rn. 70 und 71 angeführten Rechtsprechung die Anwendung dieses Artikels nicht rechtfertigen können.

93

Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält.

Kosten

94

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern illegal aufhältige Drittstaatsangehörige de facto keine Möglichkeit haben, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu erlangen.

 

2.

Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach denen im Fall der Verhängung des Kriegsrechts oder eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur weil er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

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