EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 61999TJ0333

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Klage - Zuständigkeit des Gerichts

(Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, Artikel 36.2)

2. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Klage - Gegenstand - Anordnung an die Verwaltung - Unzulässigkeit - Vermögensrechtliche Streitigkeit - Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung

(Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, Artikel 42)

3. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Vertragliche und nicht dienstrechtliche Natur des Beschäftigungsverhältnisses

4. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Befugnis des EZB-Rates, eine Disziplinarregelung vorzusehen

(Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, Artikel 36.1)

5. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Verhaltenspflicht gemäß Artikel 4 Buchstabe a der Beschäftigungsbedingungen - Verpflichtung, die auch dann gilt, wenn es an einer ausdrücklichen Vereinbarung im Beschäftigungsvertrag fehlt

(Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, Artikel 4 Buchstabe a)

6. Gemeinschaftsrecht - Ausübung von Durchführungsbefugnissen durch die Organe - Übertragung - Grenzen

7. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Beschäftigungsbedingungen - Erlass von Bedingungen für deren Durchführung - Übertragung von Befugnissen vom EZB-Rat auf das Direktorium der Bank - Zulässigkeit

(Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, Artikel 12.3; Geschäftsordnung der Europäischen Zentralbank, Artikel 21.3)

8. Beamte - Klage - Vorherige Verwaltungsbeschwerde - Zuständige Stelle für die Entscheidung über eine Beschwerde gegen eine vom Kollegium der Mitglieder einer Einrichtung oder eines Organs getroffene Entscheidung - Allein entscheidendes Mitglied eines Kollegiums - Ausschluss

9. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Vorverfahren - Entscheidungen des Direktoriums - Ausschluss

(Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, Artikel 43)

10. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Disziplinarordnung - Grundsatz ne bis in idem - Grundsatz, der auch dann gilt, wenn es an einer schriftlichen Regelung fehlt - Vorläufige Dienstenthebung eines Beschäftigten gemäß Artikel 44 der Beschäftigungsbedingungen - Vorläufige Maßnahme, die daher für die Anwendung des Grundsatzes nicht in Betracht kommt

(Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, Artikel 44)

11. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Disziplinarordnung - Wahrung der Verteidigungsrechte - Verpflichtung, den Beschäftigten über die ihm zur Last gelegten Vorwürfe zu informieren - Verpflichtung, die auch dann gilt, wenn es an einer schriftlichen Regelung fehlt

(Beamtenstatut, Artikel 87; Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, Artikel 43)

12. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Disziplinarordnung - Wahrung der Verteidigungsrechte - Verpflichtung, den Betroffenen vor der vorläufigen Dienstenthebung gemäß Artikel 44 der Beschäftigungsbedingungen anzuhören- Grenzen

(Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, Artikel 44)

13. Beamte - Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank - Disziplinarordnung - Sanktion - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - Begriff - Ermessen der Anstellungsbehörde - Gerichtliche Nachprüfung - Grenzen

(Beamtenstatut, Artikel 86 bis 89; Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank)

Leitsätze

1. Das Gericht erster Instanz ist für die Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten zwischen der Europäischen Zentralbank und deren Bediensteten im Sinne von Artikel 36.2 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank zuständig.

Der Begriff Gerichtshof" in dieser Bestimmung ist nämlich so auszulegen, dass er die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit insgesamt im Sinne des Artikels 7 EG bezeichnet und somit das Gericht erster Instanz einschließt. Zwar trifft es zu, dass Artikel 36.2 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank als Bestandteil eines Protokolls im Rahmen des Vertrages von Maastricht angenommen wurde und somit eine primärrechtliche Regelung darstellt, doch ist die Bedeutung der in dieser Bestimmung verwendeten Rechtsbegriffe im Zweifel im Licht der gesamten zu ihrem Entstehungszeitpunkt vorgefundenen einschlägigen Rechtslage auszulegen, soweit dies es gestattet, einen Widerspruch zu einem fundamentalen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts (wie etwa zum Gleichbehandlungsgrundsatz) zu vermeiden. Wollte man diese Bestimmung so auslegen, dass Klagen von bestimmten Bediensteten gegen bestimmte Organe oder bestimmte Einrichtungen - diesfalls von Bediensteten der Europäischen Zentralbank gegen die Europäische Zentralbank - von dem durch den Beschluss 88/591 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften geschaffenen allgemeinen System verbesserten Rechtsschutzes für die gleiche Art von Streitsachen ausgeschlossen bleiben, dann würde diese - sachlich nicht gerechtfertigte - Durchbrechung des allgemeinen Rechtsschutzsystems gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz und damit gegen einen fundamentalen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen.

( vgl. Randnrn. 38, 40-41 )

2. Aus Artikel 42 der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank ergibt sich, dass die Zuständigkeit des Gerichts zur Entscheidung über einen Rechtsstreit zwischen der Bank und einem gegenwärtigen oder ehemaligen Mitarbeiter auf die Rechtmäßigkeitskontrolle einer Maßnahme oder Entscheidung beschränkt ist, es sei denn, es handelt sich um eine vermögensrechtliche Streitigkeit, bei der dem Gericht eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zukommt.

Daher ist ein Antrag, die Bank zur Weiterbeschäftigung des Klägers zu verurteilen, unzulässig. Ein Antrag, die Bank zu verurteilen, an den Kläger die gemäß Artikel 44 der Beschäftigungsbedingungen der Bank von seinem Gehalt einbehaltenen Beträge zu zahlen, ist zulässig, da er offenkundig vermögensrechtlicher Natur ist.

( vgl. Randnrn. 47-48, 51 )

3. Das Beschäftigungsverhältnis zwischen der Europäischen Zentralbank und ihren Mitarbeitern ist vertraglicher und nicht dienstrechtlicher Natur.

( vgl. Randnr. 61 )

4. Der EZB-Rat durfte aufgrund der Bestimmungen des Artikels 36.1 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank in den Beschäftigungsbedingungen für das Personal eine Disziplinarregelung vorsehen, die es ihm u. a. ermöglicht, im Fall des Verstoßes eines Bediensteten der EZB gegen die Verpflichtungen aus dem Beschäftigungsvertrag die angesichts der ihm übertragenen Verantwortung und der ihm zugewiesenen Aufgaben erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

( vgl. Randnr. 63 )

5. Eine Verhaltenspflicht wie die in Artikel 4 Buchstabe a der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank vorgesehene stellt eine elementare Ausprägung des den Rechtsordnungen der allermeisten Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsatzes dar, wonach Verträge, insbesondere Arbeitsverträge, nach Treu und Glauben zu erfuellen sind. Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung ist ihr Bestehen so offenkundig, dass sie eindeutig auch dann gilt, wenn es insoweit an einer ausdrücklichen Vereinbarung im Beschäftigungsvertrag fehlt.

( vgl. Randnr. 83 )

6. Die Übertragung von Durchführungsbefugnissen ist im Gemeinschaftsrecht zulässig, sofern sie nicht durch eine Vorschrift förmlich ausgeschlossen ist.

( vgl. Randnr. 102 )

7. Die Übertragung der Befugnis zur Festlegung der Bedingungen für die Durchführung der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank durch den EZB-Rat auf das Direktorium der Bank in Artikel 21.3 der Geschäftsordnung der Bank ist zulässig.

Diese Übertragung ist durch keine Vorschrift förmlich ausgeschlossen, und im Gemeinschaftsrecht ist die Übertragung von Durchführungsbefugnissen zulässig, sofern sie nicht durch eine Vorschrift förmlich ausgeschlossen ist. Außerdem wird mit Artikel 12.3 des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank - einer Vorschrift des Primärrechts - dem EZB-Rat die Befugnis verliehen, eine Geschäftsordnung zu beschließen, die die interne Organisation der Europäischen Zentralbank regelt, was die Befugnis einschließt, zu diesem Zweck die Festlegung der Beschäftigungsbedingungen für das Personal zu delegieren.

( vgl. Randnrn. 102-104 )

8. Ein Mitglied eines Organs, das als Anstellungsbehörde eine einen Bediensteten beschwerende Entscheidung getroffen hat, ist zwar nicht verpflichtet, von einer Teilnahme an der Beschlussfassung des Kollegiums der Mitglieder dieses Organs über die von dem Bediensteten gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde abzusehen, doch darf ein Mitglied eines Organs oder einer Einrichtung wie der Europäischen Zentralbank nicht allein über eine Beschwerde gegen eine vom Kollegium der Mitglieder dieses Organs oder dieser Einrichtung getroffene Entscheidung entscheiden, also allein die gegen eine Kollegialentscheidung, an der er mitgewirkt hat, erhobenen Rügen würdigen.

( vgl. Randnr. 138 )

9. Nach der Systematik des Protokolls über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank und der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank gibt es keine Stelle, die dafür zuständig ist, in dem zweistufigen Vorverfahren nach Artikel 41 der Beschäftigungsbedingungen über die Entscheidungen des Direktoriums der Bank zu befinden. Diese Entscheidungen werden daher nicht von dem in diesem Artikel festgelegten Verfahren erfasst, obwohl die Bestimmung insoweit keinerlei Hinweis enthält. Dieses Fehlen eines Vorverfahrens wird dadurch ausgeglichen, dass die fraglichen Entscheidungen gemäß Artikel 43 der Beschäftigungsbedingungen im Anschluss an ein kontradiktorisches Verfahren erlassen werden, so dass die betreffenden Bediensteten die Gelegenheit gehabt haben sollten, zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen.

( vgl. Randnrn. 143-145 )

10. Beim Grundsatz ne bis in idem handelt es sich um einen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz, der unabhängig von jeder Vorschrift zu beachten ist. Er ist daher auf die in der Europäischen Zentralbank eingeleiteten Disziplinarverfahren auch dann anwendbar, wenn die Beschäftigungsbedingungen der Bank, anders als das Beamtenstatut - dessen Artikel 86 Absatz 3 vorsieht, dass [e]in und dieselbe Verfehlung ... nur eine Disziplinarstrafe nach sich ziehen [kann]" - keine Bestimmung enthalten, die zur Beachtung dieses Grundsatzes verpflichtet.

Die in Artikel 44 Absatz 3 der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank vorgesehene Maßnahme der vorläufigen Dienstenthebung - die sich an Artikel 88 Absatz 4 des Beamtenstatuts anlehnt - hat vorläufigen Charakter und kommt für die Anwendung dieses Grundsatzes nicht in Betracht.

( vgl. Randnrn. 149, 151 )

11. Das Erfordernis, wonach einem Beamten zuvor die gegen ihn erhobenen Vorwürfe mitgeteilt werden müssen und er über eine angemessene Frist für die Vorbereitung seiner Verteidigung verfügen muss, gilt sinngemäß, auch wenn dahin gehende Regelungen in den Dienstvorschriften fehlen, ebenfalls für einen Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank, gegen den ein Disziplinarverfahren läuft, zumal Artikel 43 der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Bank ähnlich wie Artikel 87 des Beamtenstatuts bestimmt, dass in diesem Verfahren ... zu gewährleisten [ist], dass gegen keinen Mitarbeiter eine Disziplinarmaßnahme verhängt wird, ohne dass ihm zunächst Gelegenheit gegeben worden ist, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen".

( vgl. Randnrn. 176, 177 )

12. Die Wahrung der Verteidigungsrechte in allen gegen eine Person eingeleiteten Verfahren, die zum Erlass einer sie beschwerenden Maßnahme führen können, stellt einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der auch dann beachtet werden muss, wenn eine ausdrückliche entsprechende Bestimmung fehlt.

Eine Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung eines Mitarbeiters der Europäischen Zentralbank nach Artikel 44 der Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Bank stellt eine beschwerende Maßnahme dar und muss unter Wahrung der Verteidigungsrechte erlassen werden. Sofern keine besonderen Umstände vorliegen, die ordnungsgemäß dargetan sein müssen, kann eine solche Entscheidung erst dann erlassen werden, wenn dem Mitarbeiter Gelegenheit gegeben wurde, zu den ihm zur Last gelegten Handlungen, auf die die zuständige Stelle ihre Entscheidung stützen will, Stellung zu nehmen. Nur unter besonderen Umständen kann sich die Durchführung einer Anhörung vor dem Erlass einer Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung als praktisch unmöglich oder mit dem dienstlichen Interesse unvereinbar erweisen. Unter solchen Umständen kann den Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ergeben, durch eine möglichst kurzfristig nach Erlass der Entscheidung über die vorläufige Dienstenthebung anberaumte Anhörung des betroffenen Mitarbeiters genügt werden.

( vgl. Randnr. 183 )

13. Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf Disziplinarangelegenheiten umfasst zwei Aspekte. Zum einen kann die Anstellungsbehörde die angemessene Disziplinarstrafe wählen, wenn die dem Beamten zur Last gelegten Tatsachen festgestellt sind; der Gemeinschaftsrichter kann diese Wahl nicht beanstanden, sofern die verhängte Disziplinarstrafe nicht in einem Missverhältnis zu dem zu Lasten des Beamten festgestellten Sachverhalt steht. Zum andern beruht die Bestimmung der Disziplinarstrafe auf einer Gesamtwürdigung aller konkreten Tatsachen und aller Umstände des jeweiligen Falles durch die Anstellungsbehörde, da die Artikel 86 bis 89 des Beamtenstatuts - ebenso wie die Beschäftigungsbedingungen für das Personal der Europäischen Zentralbank, soweit es um deren Mitarbeiter geht - das Verhältnis zwischen den Strafen und den verschiedenen Arten von Pflichtverletzungen des Beamten nicht festlegen und nicht regeln, inwiefern sich das Vorliegen erschwerender oder mildernder Umstände auf die Wahl der Strafe auszuwirken hat. Die Prüfung durch den Gemeinschaftsrichter ist daher auf die Frage beschränkt, ob die Gewichtung der erschwerenden und mildernden Umstände durch die Anstellungsbehörde verhältnismäßig war; der Richter darf die von der Anstellungsbehörde vorgenommenen Wertungen nicht durch seine eigenen Wertungen ersetzen.

( vgl. Randnr. 221 )

Top