Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62022CJ0376

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. November 2023.
Google Ireland Limited u. a. gegen Kommunikationsbehörde Austria (Komm Austria).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2000/31/EG – Dienste der Informationsgesellschaft – Art. 3 Abs. 1 – Grundsatz der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat – Art. 3 Abs. 4 – Ausnahme vom Grundsatz des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft – Begriff der „Maßnahmen … betreffen[d] einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ – Art. 3 Abs. 5 – Möglichkeit, Maßnahmen, die den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft beschränken, in dringlichen Fällen nachträglich mitzuteilen – Keine Mitteilung – Durchsetzbarkeit dieser Maßnahmen – Regelung eines Mitgliedstaats, der Anbietern von Kommunikationsplattformen unabhängig davon, ob sie in seinem Hoheitsgebiet niedergelassen sind oder nicht, eine Reihe von Verpflichtungen in Bezug auf die Kontrolle und die Meldung behauptetermaßen rechtswidriger Inhalte auferlegt – Richtlinie 2010/13/EU – Audiovisuelle Mediendienste – Video-Sharing-Plattform-Dienst.
Rechtssache C-376/22.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:835

Rechtssache C‑376/22

Google Ireland Limited u. a.

gegen

Kommunikationsbehörde Austria (Komm Austria)

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs [Österreich])

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. November 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2000/31/EG – Dienste der Informationsgesellschaft – Art. 3 Abs. 1 – Grundsatz der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat – Art. 3 Abs. 4 – Ausnahme vom Grundsatz des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft – Begriff der „Maßnahmen … betreffen[d] einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ – Art. 3 Abs. 5 – Möglichkeit, Maßnahmen, die den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft beschränken, in dringlichen Fällen nachträglich mitzuteilen – Keine Mitteilung – Durchsetzbarkeit dieser Maßnahmen – Regelung eines Mitgliedstaats, der Anbietern von Kommunikationsplattformen unabhängig davon, ob sie in seinem Hoheitsgebiet niedergelassen sind oder nicht, eine Reihe von Verpflichtungen in Bezug auf die Kontrolle und die Meldung behauptetermaßen rechtswidriger Inhalte auferlegt – Richtlinie 2010/13/EU – Audiovisuelle Mediendienste – Video-Sharing-Plattform-Dienst“

  1. Rechtsangleichung – Elektronischer Geschäftsverkehr – Richtlinie 2000/31 – Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft – Ausnahme vom Grundsatz des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft – Begriff der „Maßnahmen … betreffen[d] einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ – Generell-abstrakte Maßnahmen, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie von Diensten beziehen und unterschiedslos für alle Anbieter dieser Kategorie von Diensten gelten – Nichteinbeziehung – Nationale Regelung, die solche Maßnahmen gegen Anbieter von Kommunikationsplattformen vorsieht – Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2000/31 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 5, 6 und 8 sowie Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1, 2 und 4)

    (vgl. Rn. 27-30, 34-36, 42, 47-49, 51, 53-60 und Tenor)

  2. Rechtsangleichung – Elektronischer Geschäftsverkehr – Richtlinie 2000/31 – Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft – Ausnahme vom Grundsatz des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft – Zulässigkeit – Voraussetzungen

    (Richtlinie 2000/31 des Europäischen Parlaments und des Rates, 24. Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 4)

    (vgl. Rn. 31-33, 45, 46)

  3. Rechtsangleichung – Elektronischer Geschäftsverkehr – Richtlinie 2000/31 – Erbringung von Diensten der Informationsgesellschaft – Grundsatz der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat – Bedeutung

    (Richtlinie 2000/31 des Europäischen Parlaments und des Rates, 22. Erwägungsgrund und Art. 3)

    (vgl. Rn. 40-44)

Zusammenfassung

Google Ireland Limited, Meta Platforms Ireland Limited und Tik Tok Technology Limited sind in Irland ansässige Unternehmen, die u. a. in Österreich Kommunikationsplattformen anbieten.

Mit ihren im Jahr 2021 erlassenen Bescheiden stellte die Kommunikationsbehörde Austria (KommAustria) fest, dass diese drei Unternehmen in den Anwendungsbereich des österreichischen Gesetzes ( 1 ) fielen.

Diese Unternehmen erhoben gegen die Bescheide der KommAustria Beschwerden, weil sie der Ansicht waren, dass dieses österreichische Gesetz, das Anbietern von Kommunikationsplattformen unabhängig davon, ob sie in Österreich oder anderswo niedergelassen sind, eine Reihe von Verpflichtungen in Bezug auf die Kontrolle und Meldung behauptetermaßen rechtswidriger Inhalte auferlege, keine Anwendung auf sie finden dürfe. Diese Beschwerden wurden in erster Instanz abgewiesen.

Nachdem ihre Beschwerden abgewiesen worden waren, legten die Unternehmen Revision beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) ein. Zur Stützung dieser Revisionen machen sie unter anderem geltend, dass die mit diesem Gesetz eingeführten Verpflichtungen unverhältnismäßig und mit dem freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft und dem in der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ( 2 ) vorgesehenen Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat, anders gesagt, durch den Staat, in dessen Hoheitsgebiet der Diensteanbieter seinen Sitz habe, unvereinbar sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hegt Zweifel an der Vereinbarkeit des österreichischen Gesetzes und der in diesem Gesetz den Diensteanbietern auferlegten Verpflichtungen mit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr hinsichtlich der darin vorgesehenen Befugnis eines anderen Mitgliedstaats als des Herkunftsmitgliedstaats, unter bestimmten Umständen vom Grundsatz des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft abzuweichen, und hat dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung dieser Richtlinie vorgelegt.

In seinem Urteil äußert sich der Gerichtshof zu der Frage, ob ein Mitgliedstaat, für den Dienste der Informationsgesellschaft bestimmt sind, vom freien Verkehr dieser Dienste eine Ausnahme machen kann, indem er nicht nur individuell-konkrete Maßnahmen trifft, sondern auch generell-abstrakte Maßnahmen, die sich auf eine Kategorie von bestimmten Diensten beziehen, und speziell zu der Frage, ob diese Maßnahmen unter den Begriff „Maßnahmen … betreffen[d] einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ im Sinne der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ( 3 ) fallen können.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass die Möglichkeit, vom Grundsatz des freien Verkehrs der Dienste der Informationsgesellschaft abzuweichen, nach dem Wortlaut der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr einen „bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ betrifft. In diesem Zusammenhang soll die Verwendung des Wortes „bestimmt“ darauf hindeuten, dass der so erfasste Dienst als ein individualisierter Dienst zu verstehen ist. Daher dürfen die Mitgliedstaaten keine generell-abstrakten Maßnahmen ergreifen, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft beziehen und unterschiedslos für alle Anbieter dieser Kategorie von Diensten gelten.

Diese Beurteilung wird nicht durch den Umstand in Frage gestellt, dass die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr den Begriff „Maßnahmen“ verwendet. Mit der Verwendung eines solchen weiten und allgemeinen Begriffs hat der Unionsgesetzgeber nämlich Art und Form der Maßnahmen, die sie ergreifen können, um vom Grundsatz des freien Verkehrs der Dienste der Informationsgesellschaft abzuweichen, in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt. Dagegen berührt die Verwendung dieses Begriffs in keiner Weise den Kern und den materiellen Inhalt dieser Maßnahmen.

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass diese wörtliche Auslegung durch die systematische Analyse der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr bestätigt wird.

Die Möglichkeit, vom Grundsatz des freien Verkehrs der Dienste der Informationsgesellschaft abzuweichen, hängt nämlich von der Voraussetzung ab, dass der Bestimmungsmitgliedstaat dieser Dienste zuvor den Herkunftsmitgliedstaat auffordern muss, Maßnahmen zu ergreifen ( 4 ), was voraussetzt, dass die Anbieter und folglich die betroffenen Mitgliedstaaten ermittelt werden können. Wären die Mitgliedstaaten ermächtigt, den freien Verkehr von solchen Diensten durch generell-abstrakte Maßnahmen einzuschränken, die unterschiedslos für alle Anbieter einer Kategorie dieser Dienste gelten, wäre eine solche Ermittlung, wenn nicht schon unmöglich, so doch zumindest übermäßig schwierig, so dass die Mitgliedstaaten nicht in der Lage wären, eine solche Voraussetzung zu erfüllen.

Schließlich betont der Gerichtshof, dass die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr auf der Anwendung der Grundsätze der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat und der gegenseitigen Anerkennung beruht, so dass im Rahmen des koordinierten Bereichs ( 5 ) die Dienste der Informationsgesellschaft nur durch Vorschriften des Mitgliedstaats geregelt werden, in dessen Hoheitsgebiet die Anbieter dieser Dienste niedergelassen sind. Wären die Mitgliedstaaten ermächtigt, generell-abstrakte Maßnahmen zu ergreifen, die unterschiedslos für alle Anbieter einer Kategorie dieser Dienste gelten, unabhängig davon, ob sie in letzterem Mitgliedstaat niedergelassen sind, würde der Grundsatz der Aufsicht im Herkunftsmitgliedstaat jedoch in Frage gestellt. Dieser Grundsatz führt nämlich zu einer Aufteilung der Regelungszuständigkeit zwischen dem Herkunftsmitgliedstaat und dem Bestimmungsmitgliedstaat. Eine Ermächtigung des letztgenannten Staates, solche Maßnahmen zu ergreifen, würde aber in die Regelungszuständigkeit des Herkunftsmitgliedstaats eingreifen und bewirken, dass diese Anbieter sowohl den Rechtsvorschriften dieses Staates als auch jenen des oder der Bestimmungsmitgliedstaaten unterworfen würden. Die Infragestellung dieses Grundsatzes würde das System und die Ziele der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr beeinträchtigen. Gestattete man dem Bestimmungsmitgliedstaat, solche Maßnahmen zu ergreifen, würde dies im Übrigen das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten untergraben und dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderlaufen.

Außerdem weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr die rechtlichen Hemmnisse für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts beseitigen soll, die in Unterschieden der innerstaatlichen Rechtsvorschriften sowie in der Rechtsunsicherheit hinsichtlich der auf Dienste der Informationsgesellschaft jeweils anzuwendenden nationalen Regelungen bestehen. Die Möglichkeit, die genannten Maßnahmen zu ergreifen, liefe letztlich darauf hinaus, die betroffenen Diensteanbieter unterschiedlichen Rechtsvorschriften zu unterwerfen und damit die rechtlichen Hemmnisse für den freien Dienstleistungsverkehr, die diese Richtlinie beseitigen soll, wieder einzuführen.

Daher kommt der Gerichtshof zum Ergebnis, dass generell-abstrakte Maßnahmen, die sich auf eine allgemein umschriebene Kategorie bestimmter Dienste der Informationsgesellschaft beziehen und unterschiedslos für alle Anbieter dieser Kategorie von Diensten gelten, nicht unter den Begriff „Maßnahmen … betreffen[d] einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft“ im Sinne der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr fallen.


( 1 ) Nämlich des Bundesgesetzes über Maßnahmen zum Schutz der Nutzer auf Kommunikationsplattformen (Kommunikationsplattformen-Gesetz) (BGBl. I Nr. 151/2020).

( 2 ) Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (ABl. 2000, L 178 S. 1) (im Folgenden: Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr)

( 3 ) Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.

( 4 ) Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.

( 5 ) Im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.

Top