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Document 62022CJ0261
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Dezember 2023.
Strafverfahren gegen GN.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 15 Abs. 2 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt wird – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 24 Abs. 2 und 3 – Berücksichtigung des Kindeswohls – Anspruch jedes Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen – Mutter mit Kleinkindern, die mit ihr zusammenleben.
Rechtssache C-261/22.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Dezember 2023.
Strafverfahren gegen GN.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 15 Abs. 2 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt wird – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 24 Abs. 2 und 3 – Berücksichtigung des Kindeswohls – Anspruch jedes Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen – Mutter mit Kleinkindern, die mit ihr zusammenleben.
Rechtssache C-261/22.
Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:1017
Rechtsache C‑261/22
GN
gegen
Procuratore generale presso la Corte di appello di Bologna
(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione)
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Dezember 2023
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Art. 15 Abs. 2 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt wird – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 24 Abs. 2 und 3 – Berücksichtigung des Kindeswohls – Anspruch jedes Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen – Mutter mit Kleinkindern, die mit ihr zusammenleben“
Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren – Voraussetzungen – Umstände, die eine rasche Erledigung rechtfertigen – Fehlen – Beträchtliche Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen, die möglicherweise von den Vorlagefragen betroffen sind – Unsicherheit im Hinblick auf die Folgen der das Ausgangsverfahren beendenden Entscheidung auf die Betreuung der Kinder des Klägers
(Satzung des Gerichtshofs, Art. 23a, Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 105 Abs. 1)
(vgl. Rn. 28-30)
Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, an die ausstellenden Justizbehörden – Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten – Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Pflicht zur Berücksichtigung des Kindeswohls – Systemische oder allgemeine Mängel im Hinblick auf die Haftbedingungen von Müttern von Kleinkindern und auf die Bedingungen der Betreuung dieser Kinder im Ausstellungsmitgliedstaat – Tatsächliche Gefahr der Verletzung der Grundrechte der betroffenen Personen aufgrund dieser Bedingungen – Vermutung der Achtung dieser Rechte – Prüfung durch die vollstreckende Justizbehörde – Umfang
(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3; Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 2 und 3)
(vgl. Rn. 38-46, 52, 53, 55, 57 und Tenor)
Zusammenfassung
Im Juni 2022 erließen die belgischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl gegen GN zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die wegen 2016 und 2017 begangener Straftaten des Menschenhandels und der Beihilfe zur illegalen Einwanderung verhängt worden war.
Am 2. September 2021 wurde GN in Bologna (Italien) verhaftet. Bei ihrer Verhaftung war sie schwanger und in Begleitung ihres weniger als drei Jahre alten Sohnes, der mit ihr zusammenlebte. In Anbetracht ihrer Lage bat die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) die belgischen Behörden vergeblich um Informationen u. a. darüber, wie in Belgien Strafen gegen Mütter vollstreckt werden, die mit ihren minderjährigen Kindern zusammenleben, und welche Maßnahmen in Bezug auf diese Kinder ergriffen würden.
Mit Urteil vom 15. Oktober 2021 lehnte dieses Gericht die Übergabe von GN mit der Begründung ab, dass in Ermangelung von zufriedenstellenden Antworten auf dieses Informationsersuchen keine Gewissheit bestehe, dass das belgische Recht eine Haftregelung vorsehe, die die Rechte von Müttern und ihren Kleinkindern in einer Weise schütze, die mit der in Italien geltenden Regelung vergleichbar sei.
Die mit einem Rechtsmittel gegen diese ablehnende Entscheidung befasste Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), das vorlegende Gericht, führt aus, dass weder die geltenden Bestimmungen des italienischen Rechts ( 1 ) noch der Rahmenbeschluss 2002/584 ( 2 ) als Grund, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden könne, den Fall vorsähen, dass die gesuchte Person Mutter von Kleinkindern sei, die mit ihr zusammenlebten. Sie fragt sich jedoch, ob sie die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund dessen ablehnen könne, dass die Übergabe der Mutter von Kleinkindern an den Ausstellungsmitgliedstaat die Gefahr in sich berge, das Recht der Mutter auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das Wohl ihrer Kinder zu beeinträchtigen. Der Schutz dieses Rechts bzw. des Kindeswohls bestimme sich nach Maßgabe von Art. 7 bzw. Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ( 3 ).
In seinem Urteil der Großen Kammer hat der Gerichtshof entschieden, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 ( 4 ) im Licht der Charta ( 5 ) die vollstreckende Justizbehörde daran hindert, die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, mit der Begründung abzulehnen, dass sie Mutter von Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben, es sei denn, dass erstens dieser Behörde Anhaltspunkte vorliegen, die aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Haftbedingungen von Müttern von Kleinkindern und in Bezug auf die Bedingungen der Betreuung dieser Kinder im Ausstellungsmitgliedstaat das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Verletzung des Wohls ihrer Kinder belegen, und dass zweitens ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die betreffenden Personen in Anbetracht ihrer persönlichen Situation aufgrund solcher Bedingungen einer solchen Gefahr ausgesetzt sein werden.
Würdigung durch den Gerichtshof
Zunächst führt der Gerichtshof aus, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 nicht die Möglichkeit vorsieht, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allein deshalb abzulehnen, weil die gesuchte Person Mutter von Kleinkindern ist, die mit ihr zusammenleben. In Anbetracht des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten wird nämlich vermutet, dass die Haftbedingungen einer Mutter von Kleinkindern und deren Betreuung im Ausstellungsmitgliedstaat des Europäischen Haftbefehls einer solchen Situation angepasst sind.
Der Rahmenbeschluss 2002/584 ( 6 ) lässt aber die Pflicht unberührt, die von der Charta gewährleisteten Grundrechte und im vorliegenden Fall insbesondere diejenigen, die in ihren Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 niedergelegt sind, zu achten. Somit gilt zum einen die Pflicht, das Kindeswohl zu berücksichtigen, auch im Zusammenhang mit einem gegen eine Mutter von Kleinkindern erlassenen Europäischen Haftbefehl, der, auch wenn er nicht gegen diese Kinder gerichtet ist, weitreichende Folgen für sie hat. Zum anderen hat jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen, wobei dieses unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist. Die Möglichkeit für einen Elternteil und sein Kind, zusammen zu sein, ist im Übrigen ein wesentliches Element des Familienlebens.
Daraus folgt, dass die vollstreckende Justizbehörde ausnahmsweise davon absehen kann, dem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten, wenn die tatsächliche Gefahr besteht, dass dessen Vollstreckung zu einer Verletzung der genannten Grundrechte führt. Wenn diese Behörde hinsichtlich dessen im Ungewissen ist, ob im Ausstellungsmitgliedstaat Bedingungen herrschen, die mit denjenigen im Vollstreckungsmitgliedstaat vergleichbar sind, was die Inhaftierung von Müttern von Kleinkindern und die Betreuung dieser Kinder betrifft, lässt sich daraus jedoch noch nicht folgern, dass schon ein Nachweis für eine solche Gefahr erbracht ist. Diese Behörde muss im Rahmen einer zweistufigen Prüfung zum einen untersuchen, ob systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf diese Bedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat oder insoweit Mängel vorliegen, die spezifisch eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen, und ob es zum anderen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die von einem Europäischen Haftbefehl betroffenen Personen aufgrund derartiger Bedingungen und in Anbetracht ihrer persönlichen Situation einer echten Gefahr der Verletzung ihrer Grundrechte ausgesetzt sein werden.
Wenn die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht ist, nicht über alle Informationen zu verfügen, die für eine Entscheidung über die Übergabe erforderlich sind, muss sie die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen ersuchen, und diese ist verpflichtet, ihr sie zu erteilen. Um die Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls nicht zu lähmen, müssen diese Behörden nämlich loyal zusammenarbeiten ( 7 ).
Infolgedessen muss die vollstreckende Justizbehörde nur dann, wenn sie der Auffassung ist, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls in Anbetracht sämtlicher ihr vorliegenden Informationen einschließlich eventuell fehlender Garantien seitens der ausstellenden Justizbehörde eine tatsächliche Gefahr der Verletzung der in Rede stehenden Grundrechte der betroffenen Personen begründen kann, davon absehen, diesem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten.
( 1 ) Legge n. 69 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 – Bestimmungen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts an den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten) vom 22. April 2005 (GURI Nr. 98 vom 29. April 2005, S. 6) in der sich aus dem Decreto legislativo n. 10 (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 10) vom 2. Februar 2021 (GURI Nr. 30 vom 5. Februar 2021) ergebenden und auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung.
( 2 ) Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
( 3 ) Art. 7 der Charta betrifft das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens; Art. 24 Abs. 2 sieht indessen vor, dass „[b]ei allen Kinder betreffenden Maßnahmen … das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein [muss]“. Nach Abs. 3 dieses Artikels hat „[j]edes Kind … Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen“.
( 4 ) Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses.
( 5 ) Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta.
( 6 ) Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses.
( 7 ) Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehen.