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Document 62019CJ0784

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 3. Juni 2021.
„TEAM POWER EUROPE“ EOOD gegen Direktor na Teritorialna direktsia na Natsionalna agentsia za prihodite - Varna.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 12 Abs. 1 – Entsendung – Leiharbeitnehmer – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 14 Abs. 2 – Bescheinigung A 1 – Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist – Begriff ‚andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten‘ – Keine Überlassung von Leiharbeitnehmern im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber ansässig ist.
Rechtssache C-784/19.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:427

Rechtssache C‑784/19

„TEAM POWER EUROPE“ EOOD

gegen

Direktor na Teritorialna direktsia na Natsionalna agentsia za prihodite

(Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad – Varna)

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 3. Juni 2021

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 12 Abs. 1 – Entsendung – Leiharbeitnehmer – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 14 Abs. 2 – Bescheinigung A 1 – Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist – Begriff ‚andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten‘ – Keine Überlassung von Leiharbeitnehmern im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber ansässig ist“

  1. Soziale Sicherheit –Wanderarbeitnehmer – Anzuwendende Rechtsvorschriften – In einen anderen Mitgliedstaat als den Sitzstaat des Arbeitgebers entsandte Arbeitnehmer – Leiharbeitsunternehmen – Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist – Begriff der reinen internen Verwaltungstätigkeiten – Tätigkeiten, die die Auswahl und die Einstellung von Leiharbeitnehmern betreffen – Ausschluss

    (Verordnung Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 2)

    (Rn. 45, 46)

  2. Soziale Sicherheit – Wanderarbeitnehmer – Anzuwendende Rechtsvorschriften – In einen anderen Mitgliedstaat als den Sitzstaat des Arbeitgebers entsandte Arbeitnehmer – Leiharbeitsunternehmen – Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist – Begriff der anderen nennenswerten Tätigkeiten als reinen internen Verwaltungstätigkeiten – Überlassung von Leiharbeitnehmern im Wesentlichen zugunsten von Unternehmen, die in anderen Mitgliedstaaten als dem Sitzstaat des Arbeitgebers ansässig sind – Ausschluss

    (Verordnungen Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12 Abs. 1, und Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 2)

    (Rn. 48-50)

  3. Soziale Sicherheit – Wanderarbeitnehmer – Anzuwendende Rechtsvorschriften – In einen anderen Mitgliedstaat als den Sitzstaat des Arbeitgebers entsandte Arbeitnehmer – Leiharbeitsunternehmen – Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist – Begriff des gewöhnlich in einem Mitgliedstaat tätigen Unternehmens – Voraussetzung – Nennenswerter Teil der Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern zugunsten von entleihenden Unternehmen, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind

    (Verordnungen Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 11 Abs. 1 und 3 Buchst. a, Art. 12 Abs. 1, und Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 2)

    (vgl. Rn. 52, 53, 56, 62-68 und Tenor)

Zusammenfassung

Um als in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig“ angesehen werden zu können, muss ein Leiharbeitsunternehmen einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Arbeitnehmern für entleihende Unternehmen verrichten, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind

Die Tätigkeit der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern im Mitgliedstaat des Sitzes des Leiharbeitsunternehmens reicht nicht aus, um annehmen zu können, dass dieses Unternehmen dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt

Im Jahr 2018 schloss ein bulgarischer Staatsangehöriger einen Arbeitsvertrag mit Team Power Europe, einer Gesellschaft bulgarischen Rechts, deren Gesellschaftszweck in der Verschaffung von Leiharbeit und der Vermittlung von Arbeitsuchenden in diesem Mitgliedstaat und in anderen Ländern besteht. Aufgrund dieses Vertrags wurde er einem in Deutschland ansässigen entleihenden Unternehmen überlassen. Vom 15. Oktober bis 21. Dezember 2018 hatte er seine Arbeit unter der Leitung und Aufsicht dieses deutschen Unternehmens zu verrichten.

Da die Einnahmenverwaltung der Stadt Varna der Ansicht war, dass zum einen die direkte Bindung zwischen Team Power Europe und dem fraglichen Arbeitnehmer nicht aufrechterhalten worden sei und zum anderen dieses Unternehmen keine nennenswerte Tätigkeit im bulgarischen Hoheitsgebiet ausübe, lehnte sie den Antrag von Team Power Europe auf Ausstellung einer A 1-Bescheinigung ab, mit der bescheinigt werden sollte, dass die bulgarischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit während des Zeitraums der Überlassung dieses Arbeitnehmers anwendbar seien. Die Situation dieses Arbeitnehmers fiel nach Auffassung der Einnahmenverwaltung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ( 1 ), wonach die bulgarischen Rechtsvorschriften anwendbar gewesen wären. Der von Team Power Europe gegen diese Entscheidung der Einnahmenverwaltung eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen.

Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad – Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien), bei dem eine Klage auf Aufhebung der Zurückweisung dieses Widerspruchs anhängig ist, beschlossen, den Gerichtshof nach den maßgebenden Kriterien zu fragen, die zu berücksichtigen sind, um zu beurteilen, ob ein Leiharbeitsunternehmen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 ( 2 ), durch den Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 präzisiert wird, gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seines Sitzes ausübt. Von der Erfüllung dieser Voraussetzung durch Team Power Europa hängt nämlich die Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung in der vorliegenden Rechtssache ab.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Leiharbeitsunternehmen die Tragweite des in dieser Bestimmung enthaltenen und in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 präzisierten Begriffs des Arbeitgebers, der in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig ist“, erläutert.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof hat zunächst eine wörtliche Auslegung des genannten Art. 14 Abs. 2 vorgenommen und festgestellt, dass ein Leiharbeitsunternehmen dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Reihe von Tätigkeiten ausübt, die in der Auswahl, der Einstellung und der Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen bestehen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass zwar die Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern nicht als „reine interne Verwaltungstätigkeiten“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können, dass aber die Ausübung dieser Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem ein solches Unternehmen ansässig ist, nicht ausreicht, um annehmen zu können, dass es dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt. Einziger Zweck der Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern ist nämlich deren spätere Überlassung an entleihende Unternehmen. Der Gerichtshof hat insoweit darauf hingewiesen, dass die Auswahl und die Einstellung von Leiharbeitnehmern zwar dazu beitragen, den von einem Leiharbeitsunternehmen erzielten Umsatz zu generieren, da diese Tätigkeiten eine unerlässliche Voraussetzung für die spätere Überlassung solcher Arbeitskräfte sind, dass dieser Umsatz tatsächlich aber nur durch die Überlassung dieser Arbeitnehmer an entleihende Unternehmen in Erfüllung der zu diesem Zweck mit diesen Unternehmen geschlossenen Verträge erwirtschaftet wird. Denn die Einkünfte eines Leiharbeitsunternehmens hängen von der Höhe der Vergütung ab, die den Leiharbeitnehmern, die entleihenden Unternehmen überlassen wurden, gezahlt wird.

Was sodann den Zusammenhang betrifft, in dem die in Rede stehende Bestimmung steht, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Fall, dass ein Arbeitnehmer, der zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel ( 3 ) darstellt, wonach eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt. Folglich ist die Bestimmung, die einen solchen Fall regelt, eng auszulegen. Unter diesem Blickwinkel kann diese Ausnahme nicht auf ein Leiharbeitsunternehmen angewandt werden, das im Mitgliedstaat seines Sitzes in keiner oder allenfalls in zu vernachlässigender Weise diese Arbeitnehmer an ebenfalls dort ansässige entleihende Unternehmen überlässt. Im Übrigen stützen die Definitionen der Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“ und „Leiharbeitnehmer“ in der Richtlinie 2008/104 ( 4 ), da sie den Zweck der Tätigkeit eines Leiharbeitsunternehmens zum Ausdruck bringen, ebenfalls die Auslegung, dass bei einem solchen Unternehmen nur dann angenommen werden kann, dass es in dem Mitgliedstaat, in dem es ansässig ist, „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt, wenn es dort in nennenswertem Umfang Tätigkeiten der Überlassung dieser Arbeitnehmer für im selben Mitgliedstaat tätige entleihende Unternehmen ausübt.

Was schließlich das mit der in Rede stehenden Bestimmung verfolgte Ziel betrifft, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltene Ausnahme, die einen Vorteil für Unternehmen darstellt, die von der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs Gebrauch machen, nicht von Leiharbeitsunternehmen beansprucht werden kann, die ihre Tätigkeiten der Überlassung von Leiharbeitnehmern ausschließlich oder hauptsächlich auf einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten als den ihres Sitzes ausrichten. Die gegenteilige Lösung könnte für diese Leiharbeitsunternehmen einen Anreiz für ein „forum shopping“ schaffen, indem sie sich in dem Mitgliedstaat niederlassen würden, dessen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit für sie am günstigsten wären. Auf längere Sicht könnte eine solche Lösung zu einer Verringerung des von den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gebotenen Schutzniveaus führen. Der Gerichtshof hat zudem hervorgehoben, dass die Gewährung dieses Vorteils an solche Unternehmen zwischen den verschiedenen möglichen Beschäftigungsbedingungen eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten des Einsatzes von Leiharbeit gegenüber Unternehmen erzeugen würde, die ihre Arbeitnehmer direkt einstellen, die dann dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem sie arbeiten, angeschlossen wären.

Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Leiharbeitsunternehmen nur dann als in diesem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig“ angesehen werden kann, wenn es einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern für entleihende Unternehmen ausübt, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind.


( 1 ) Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, und Berichtigung, ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung (ABl. 2012, L 149, S. 4) (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004). Genauer bestimmt Art. 12 Abs. 1 dieser Verordnung: „Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere entsandte Person ablöst.“

( 2 ) Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1). Art. 14 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt: „Bei der Anwendung von Artikel 12 Absatz 1 der Grundverordnung beziehen sich die Worte ‚der gewöhnlich dort tätig ist‘ auf einen Arbeitgeber, der gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten [im] Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen niedergelassen ist, ausübt, unter Berücksichtigung aller Kriterien, die die Tätigkeit des betreffenden Unternehmens kennzeichnen; die maßgebenden Kriterien müssen auf die Besonderheiten eines jeden Arbeitgebers und die Eigenart der ausgeübten Tätigkeiten abgestimmt sein.“

( 3 ) Die in Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 enthalten ist.

( 4 ) Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9).

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