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Document 62016CJ0203

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 28. Juni 2018.
Dirk Andres gegen Europäische Kommission.
Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Deutsche steuerrechtliche Bestimmungen über die Möglichkeit eines Verlustvortrags auf künftige Steuerjahre (‚Sanierungsklausel‘) – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Individuell betroffene Person – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Begriff der staatlichen Beihilfe – Tatbestandsmerkmal der Selektivität – Bestimmung des Referenzsystems – Rechtliche Qualifizierung der Tatsachen.
Rechtssache C-203/16 P.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

Rechtssache C‑203/16 P

Dirk Andres

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Deutsche steuerrechtliche Bestimmungen über die Möglichkeit eines Verlustvortrags auf künftige Steuerjahre (‚Sanierungsklausel‘) – Beschluss, mit dem die Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird – Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Art. 263 Abs. 4 AEUV – Individuell betroffene Person – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Begriff der staatlichen Beihilfe – Tatbestandsmerkmal der Selektivität – Bestimmung des Referenzsystems – Rechtliche Qualifizierung der Tatsachen“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 28. Juni 2018

  1. Nichtigkeitsklage – Natürliche oder juristische Personen – Handlungen, die sie unmittelbar und individuell betreffen – Individuelle Betroffenheit – Voraussetzungen – Beschluss der Kommission, mit dem eine sektorielle Beihilferegelung verboten wird – Klage der Empfänger einer aufgrund dieser Regelung gewährten Beihilfe – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Bestimmte persönliche Eigenschaften oder besondere, den Kläger aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebende Umstände

    (Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 263 Abs. 4 AEUV)

  2. Rechtsmittel – Gründe – Fehlerhafte Tatsachen- und Beweiswürdigung – Überprüfung der Beweiswürdigung durch den Gerichtshof – Ausschluss außer bei Verfälschung – Kontrolle der rechtlichen Qualifizierung des Sachverhalts des Rechtsstreits – Einbeziehung

    (Art. 256 AEUV)

  3. Staatliche Beihilfen – Begriff – Selektiver Charakter der Maßnahme – Maßnahme, die einen Steuervorteil verschafft – Referenzsystem zur Bestimmung des Vorliegens eines Vorteils – Kriterien

    (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

  4. Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung einer steuerlichen Vergünstigung für bestimmte Unternehmen durch staatliche Stellen – Einbeziehung – Vorteile aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme – Ausschluss

    (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

  1.  Die tatsächlichen Empfänger von Einzelbeihilfen, die aufgrund einer mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilferegelung gewährt wurden, sind von einem Beschluss der Kommission, mit dem diese Regelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt und die Rückforderung der Beihilfen angeordnet wird, individuell betroffen. Es ist ausgeschlossen, dass ein Kläger nur deshalb als individuell betroffen angesehen wird, weil er ein von dieser Regelung potenziell Begünstigter ist. Jedoch kann hieraus nicht abgeleitet werden, dass bei einem Beschluss, mit dem eine Beihilferegelung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt wird, zur Beurteilung der individuellen Betroffenheit eines Klägers im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV allein darauf abzustellen ist, ob der Kläger zu den tatsächlichen oder zu den potenziellen Empfängern einer aufgrund dieser Regelung gewährten Beihilfe gehört.

    Diese im speziellen Kontext der staatlichen Beihilfen entwickelte Rechtsprechung ist nämlich nur ein besonderer Ausdruck des für die Beurteilung der individuellen Betroffenheit im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV maßgeblichen rechtlichen Kriteriums. Danach ist ein Kläger von einem an eine andere Person gerichteten Beschluss individuell betroffen, wenn der Beschluss ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt. Ob ein Kläger zur Gruppe der tatsächlichen Empfänger oder der potenziellen Empfänger einer Einzelbeihilfe gehört, die aufgrund einer durch Beschluss für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärten Beihilferegelung gewährt wurde, kann daher nicht dafür maßgebend sein, ob der Kläger von diesem Beschluss individuell betroffen ist, wenn jedenfalls feststeht, dass der Beschluss den Kläger überdies wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt.

    (vgl. Rn. 46-48)

  2.  Die Würdigung der Tatsachen und der Beweise ist, sofern sie nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt. Wenn das Gericht die Tatsachen festgestellt oder gewürdigt hat, ist der Gerichtshof jedoch nach Art. 256 AEUV zur Kontrolle ihrer rechtlichen Qualifizierung und der daraus gezogenen rechtlichen Konsequenzen befugt.

    Somit kann der Gerichtshof, wenn er im Rahmen eines Rechtsmittels Beurteilungen des nationalen Rechts durch das Gericht prüft, die im Bereich des Beihilfenrechts Tatsachenwürdigungen darstellen, nur prüfen, ob dieses Recht verfälscht wurde. Dagegen fällt die im Rahmen eines Rechtsmittels vorgenommene Überprüfung der rechtlichen Qualifizierung des nationalen Rechts durch das Gericht anhand einer Bestimmung des Unionsrechts, da sie eine Rechtsfrage darstellt, in die Zuständigkeit des Gerichtshofs.

    (vgl. Rn. 77, 78)

  3.  Bei der Beurteilung der Voraussetzung der Selektivität einer Maßnahme ist zu klären, ob die fragliche nationale Maßnahme im Rahmen einer konkreten rechtlichen Regelung geeignet ist, bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige gegenüber anderen Unternehmen oder Produktionszweigen zu begünstigen, die sich im Hinblick auf das mit der betreffenden Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und somit eine unterschiedliche Behandlung erfahren, die im Wesentlichen als diskriminierend eingestuft werden kann. Ist die in Rede stehende Maßnahme als Beihilferegelung und nicht als Einzelbeihilfe beabsichtigt, obliegt es der Kommission, darzutun, dass die Maßnahme, obwohl sie einen allgemeinen Vorteil vorsieht, diesen allein bestimmten Unternehmen oder Branchen verschafft.

    Die Kommission muss, um eine nationale steuerliche Maßnahme als selektiv einzustufen, in einem ersten Schritt die im betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder normale Steuerregelung ermitteln und in einem zweiten Schritt dartun, dass die in Rede stehende steuerliche Maßnahme insofern vom allgemeinen System abweicht, als sie Differenzierungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern schafft, die sich im Hinblick auf das mit der allgemeinen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden.

    Der Begriff „staatliche Beihilfe“ erfasst jedoch nicht die Maßnahmen, mit denen eine Differenzierung zwischen Unternehmen geschaffen wird, die sich im Hinblick auf das mit der in Rede stehenden rechtlichen Regelung verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden und damit a priori selektiv sind, sofern der betreffende Mitgliedstaat in einem dritten Schritt nachweisen kann, dass diese Differenzierung gerechtfertigt ist, weil sie sich aus der Natur oder dem Aufbau des Systems ergibt, in das sich die Maßnahmen einfügen.

    Die Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Selektivität impliziert somit grundsätzlich in einem ersten Schritt die Bestimmung des Referenzsystems, in das sich die betreffende Maßnahme einfügt. Ihr kommt im Fall von steuerlichen Maßnahmen erhöhte Bedeutung zu, da das tatsächliche Vorliegen einer Vergünstigung nur im Verhältnis zu einer sogenannten „normalen“ Besteuerung festgestellt werden kann.

    Somit hängt die Bestimmung aller Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, von der vorherigen Definition der rechtlichen Regelung ab, anhand von deren Ziel gegebenenfalls die Vergleichbarkeit der jeweiligen tatsächlichen und rechtlichen Situation der durch die fragliche Maßnahme begünstigten Unternehmen und der durch sie nicht begünstigten Unternehmen zu prüfen ist.

    Die Einstufung eines Steuersystems als „selektiv“ ist jedoch nicht davon abhängig, dass es so konzipiert ist, dass die Unternehmen, denen möglicherweise eine selektive Begünstigung zugutekommt, im Allgemeinen denselben steuerlichen Belastungen unterliegen wie die übrigen Unternehmen, aber von Ausnahmevorschriften profitieren, so dass die selektive Begünstigung im Unterschied zwischen der normalen steuerlichen Belastung und der Belastung der erstgenannten Unternehmen erblickt werden kann.

    Ein solches Verständnis des Kriteriums der Selektivität würde nämlich voraussetzen, dass eine Steuerregelung, um als „selektiv“ eingestuft werden zu können, mittels einer bestimmten Regelungstechnik konzipiert ist, was dazu führen würde, dass nationale Steuervorschriften der Kontrolle auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen von vornherein allein deshalb entzogen sind, weil sie auf einer anderen Regelungstechnik beruhen, obwohl sie rechtlich und/oder tatsächlich durch die Anpassung oder Verknüpfung verschiedener Steuervorschriften dieselben Wirkungen entfalten. Daher kann die verwendete Regelungstechnik kein für die Bestimmung des Referenzsystems ausschlaggebender Gesichtspunkt sein.

    Nach alledem kann die Selektivität einer steuerlichen Maßnahme anhand eines Referenzsystems, das aus einigen Bestimmungen besteht, die aus einem breiteren rechtlichen Rahmen künstlich herausgelöst wurden, nicht zutreffend beurteilt werden.

    (vgl. Rn. 83, 84, 86-92, 103, 104)

  4.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 85)

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