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Document 62013CJ0220

    Nikolaou / Cour des Comptes

    Rechtssache C‑220/13 P

    Kalliopi Nikolaou

    gegen

    Rechnungshof der Europäischen Union

    „Rechtsmittel — Außervertragliche Haftung — Unterlassungen des Rechnungshofs — Schadensersatzklage — Grundsatz der Unschuldsvermutung — Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit — Befugnisse — Ablauf der Voruntersuchungen“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 10. Juli 2014

    1. Rechnungshof – Pflichten der Mitglieder – Verstoß – Die betroffene Person von allen Anklagevorwürfen freisprechendes Urteil eines nationalen Gerichts – Verpflichtung des Rechnungshofs, eine entlastende Entscheidung zu erlassen und sie zu veröffentlichen – Fehlen – Das Organ nicht bindende rechtliche Würdigung des Sachverhalts durch das nationale Gericht

      (Art. 247 Abs. 7 EG)

    2. Schadensersatzklage – Selbständigkeit – Klage in Bezug auf bereits von einem nationalen Gericht gewürdigte Tatsachen – Den Unionsrichter nicht bindende rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen – Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Verhältnis zu den nationalen Gerichten – Fehlen

      (Art. 10 EG, 235 EG und 288 EG)

    3. Rechnungshof – Pflichten der Mitglieder – Verstoß – Übermittlung von im Rahmen einer Untersuchung gesammelten Informationen an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Unterrichtungspflicht gegenüber einer in eine Untersuchung verwickelten Person – Bedeutung

      (Beschluss 99/50 des Rechnungshofs, Art. 4 Abs. 1)

    1.  Da es zum einen ausschließlich Sache der nationalen Justizbehörden ist, die gegen ein ehemaliges Mitglied des Rechnungshofs erhobenen Vorwürfe in strafrechtlicher Hinsicht zu prüfen, und es zum anderen Sache des Gerichtshofs ist, sie in disziplinarischer Hinsicht nach Art. 247 Abs. 7 EG zu prüfen, ist der Rechnungshof selbst im Rahmen der institutionellen Struktur der Union nicht befugt, in disziplinarischer oder strafrechtlicher Hinsicht eine förmliche, den Betroffenen von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen entlastende Entscheidung zu erlassen oder eine Veröffentlichung seines Freispruchs in der Presse zu veranlassen. Da der Rechnungshof als zur Anrufung des Gerichtshofs zuständige Stelle nach Art. 247 Abs. 7 EG überdies nicht an die rechtliche Würdigung des Sachverhalts im Rahmen eines nationalen Strafverfahrens gebunden ist, ist er nicht verpflichtet, im Anschluss an ein in einem Mitgliedstaat ergangenen freisprechenden Urteil in der von dem Betroffenen geforderten Weise tätig zu werden oder sich zu verhalten.

      (vgl. Rn. 39, 40)

    2.  Die Klage auf Schadensersatz im Zusammenhang mit einer außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ist für Handlungen oder Unterlassungen ihrer Organe als ein gegenüber anderen Klagen selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion im System der Klagemöglichkeiten geschaffen und von Voraussetzungen abhängig gemacht worden, die ihrem besonderen Zweck angepasst sind.

      Folglich ist das angerufene Gemeinschaftsgericht – obschon die in einem Strafverfahren getroffenen Feststellungen zu Tatsachen, die mit den im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 235 EG geprüften Tatsachen identisch sind, von ihm berücksichtigt werden können – nicht an die vom Strafrichter vorgenommene rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen gebunden, sondern es hat sie nach seinem freien Ermessen eigenständig zu untersuchen, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, von deren Vorliegen die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft abhängt. Daher kann dem Gemeinschaftsrichter nicht vorgeworfen werden, gegen den in Art. 10 EG enthaltenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen zu haben, indem er bestimmte tatsächliche Umstände in einer Weise gewürdigt hat, die von den Erwägungen des nationalen Gerichts abweicht.

      (vgl. Rn. 54-56)

    3.  Ohne nähere Angaben zur Art der beabsichtigten Untersuchung, sieht Art. 4 Abs. 1 Satz 1 des Beschlusses 99/50 des Rechnungshofs über die Bedingungen und Modalitäten der internen Untersuchungen zur Bekämpfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften lediglich vor, dass ein Mitglied, ein Beamter oder ein Bediensteter des Rechnungshofs, dessen persönliche Implikation möglich erscheint, hierüber „rasch“ zu unterrichten ist, sofern dies nicht die Untersuchung beeinträchtigen kann. Daraus folgt, dass diese Bestimmung zum einen keine Pflicht zur sofortigen Unterrichtung gleich zu Beginn der Untersuchung vorsieht und zum anderen diese Pflicht durch das Erfordernis, die Effizienz der Untersuchung zu schützen, relativiert.

      (vgl. Rn. 87, 88)

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    Rechtssache C‑220/13 P

    Kalliopi Nikolaou

    gegen

    Rechnungshof der Europäischen Union

    „Rechtsmittel — Außervertragliche Haftung — Unterlassungen des Rechnungshofs — Schadensersatzklage — Grundsatz der Unschuldsvermutung — Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit — Befugnisse — Ablauf der Voruntersuchungen“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 10. Juli 2014

    1. Rechnungshof – Pflichten der Mitglieder – Verstoß – Die betroffene Person von allen Anklagevorwürfen freisprechendes Urteil eines nationalen Gerichts – Verpflichtung des Rechnungshofs, eine entlastende Entscheidung zu erlassen und sie zu veröffentlichen – Fehlen – Das Organ nicht bindende rechtliche Würdigung des Sachverhalts durch das nationale Gericht

      (Art. 247 Abs. 7 EG)

    2. Schadensersatzklage – Selbständigkeit – Klage in Bezug auf bereits von einem nationalen Gericht gewürdigte Tatsachen – Den Unionsrichter nicht bindende rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen – Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Verhältnis zu den nationalen Gerichten – Fehlen

      (Art. 10 EG, 235 EG und 288 EG)

    3. Rechnungshof – Pflichten der Mitglieder – Verstoß – Übermittlung von im Rahmen einer Untersuchung gesammelten Informationen an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Unterrichtungspflicht gegenüber einer in eine Untersuchung verwickelten Person – Bedeutung

      (Beschluss 99/50 des Rechnungshofs, Art. 4 Abs. 1)

    1.  Da es zum einen ausschließlich Sache der nationalen Justizbehörden ist, die gegen ein ehemaliges Mitglied des Rechnungshofs erhobenen Vorwürfe in strafrechtlicher Hinsicht zu prüfen, und es zum anderen Sache des Gerichtshofs ist, sie in disziplinarischer Hinsicht nach Art. 247 Abs. 7 EG zu prüfen, ist der Rechnungshof selbst im Rahmen der institutionellen Struktur der Union nicht befugt, in disziplinarischer oder strafrechtlicher Hinsicht eine förmliche, den Betroffenen von allen gegen ihn erhobenen Vorwürfen entlastende Entscheidung zu erlassen oder eine Veröffentlichung seines Freispruchs in der Presse zu veranlassen. Da der Rechnungshof als zur Anrufung des Gerichtshofs zuständige Stelle nach Art. 247 Abs. 7 EG überdies nicht an die rechtliche Würdigung des Sachverhalts im Rahmen eines nationalen Strafverfahrens gebunden ist, ist er nicht verpflichtet, im Anschluss an ein in einem Mitgliedstaat ergangenen freisprechenden Urteil in der von dem Betroffenen geforderten Weise tätig zu werden oder sich zu verhalten.

      (vgl. Rn. 39, 40)

    2.  Die Klage auf Schadensersatz im Zusammenhang mit einer außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft ist für Handlungen oder Unterlassungen ihrer Organe als ein gegenüber anderen Klagen selbständiger Rechtsbehelf mit eigener Funktion im System der Klagemöglichkeiten geschaffen und von Voraussetzungen abhängig gemacht worden, die ihrem besonderen Zweck angepasst sind.

      Folglich ist das angerufene Gemeinschaftsgericht – obschon die in einem Strafverfahren getroffenen Feststellungen zu Tatsachen, die mit den im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 235 EG geprüften Tatsachen identisch sind, von ihm berücksichtigt werden können – nicht an die vom Strafrichter vorgenommene rechtliche Qualifizierung dieser Tatsachen gebunden, sondern es hat sie nach seinem freien Ermessen eigenständig zu untersuchen, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, von deren Vorliegen die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft abhängt. Daher kann dem Gemeinschaftsrichter nicht vorgeworfen werden, gegen den in Art. 10 EG enthaltenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstoßen zu haben, indem er bestimmte tatsächliche Umstände in einer Weise gewürdigt hat, die von den Erwägungen des nationalen Gerichts abweicht.

      (vgl. Rn. 54-56)

    3.  Ohne nähere Angaben zur Art der beabsichtigten Untersuchung, sieht Art. 4 Abs. 1 Satz 1 des Beschlusses 99/50 des Rechnungshofs über die Bedingungen und Modalitäten der internen Untersuchungen zur Bekämpfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften lediglich vor, dass ein Mitglied, ein Beamter oder ein Bediensteter des Rechnungshofs, dessen persönliche Implikation möglich erscheint, hierüber „rasch“ zu unterrichten ist, sofern dies nicht die Untersuchung beeinträchtigen kann. Daraus folgt, dass diese Bestimmung zum einen keine Pflicht zur sofortigen Unterrichtung gleich zu Beginn der Untersuchung vorsieht und zum anderen diese Pflicht durch das Erfordernis, die Effizienz der Untersuchung zu schützen, relativiert.

      (vgl. Rn. 87, 88)

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