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Document 62011CJ0329
Leitsätze des Urteils
Leitsätze des Urteils
1. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Gegenstand – Vollständige Harmonisierung der nationalen Vorschriften über den Aufenthalt von Ausländern – Nichteinbeziehung
(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates)
2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Rückkehrverfahren im Sinne der Richtlinie 2008/115 anhängig ist – Nationale Regelung, die den illegalen Aufenthalt mit Freiheitsstrafe ahndet – Unzulässigkeit
(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 8)
3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Rückkehrverfahren im Sinne der Richtlinie 2008/115 anhängig war – Nationale Regelung, die den illegalen Aufenthalt im Fall der Erfolglosigkeit des Rückkehrverfahrens mit Freiheitsstrafe ahndet – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Beachtung der Grundrechte
(Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates)
1. Die Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bezieht sich nur auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die sich illegal in einem Mitgliedstaat aufhalten, und insbesondere auf den Erlass von Rückkehrentscheidungen und deren Vollstreckung. Sie hat somit nicht zum Ziel, die nationalen Rechtsvorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren.
Folglich steht die Richtlinie dem Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße gegen die nationalen aufenthaltsrechtlichen Vorschriften abzuschrecken und sie zu ahnden. Sie steht auch einer Inhaftierung zur Ermittlung, ob der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen illegal ist oder nicht, nicht entgegen. Das Ziel der Richtlinie 2008/115, d. h. die wirksame Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, wäre nämlich gefährdet, wenn es den Mitgliedstaaten nicht möglich wäre, durch einen Freiheitsentzug wie den Polizeigewahrsam zu verhindern, dass ein des illegalen Aufenthalts Verdächtiger flieht, noch bevor seine Situation geklärt werden kann.
(vgl. Randnrn. 28-30)
2. Die Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung noch nicht die höchstzulässige Dauer erreicht hat.
Die Verhängung und Vollstreckung einer Freiheitsstrafe während des von der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rückkehrverfahrens trägt nämlich nicht zur Verwirklichung der mit diesem Verfahren verfolgten Abschiebung bei, d. h. zur tatsächlichen Verbringung des Betroffenen aus dem entsprechenden Mitgliedstaat. Eine derartige Strafe stellt somit keine „Maßnahme“ oder „Zwangsmaßnahme“ im Sinne von Art. 8 der genannten Richtlinie dar.
(vgl. Randnrn. 37, 50 und Tenor)
3. Die Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaat aufhält.
Zwar dürfen die durch die Richtlinie 2008/115 gebundenen Mitgliedstaaten für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in den Fällen keine Freiheitsstrafe vorsehen, in denen diese nach den in dieser Richtlinie festgelegten gemeinsamen Normen und Verfahren abzuschieben sind und zur Vorbereitung oder Durchführung dieser Abschiebung höchstens in Abschiebehaft genommen werden dürfen, doch schließt dies nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten aus, Vorschriften – gegebenenfalls strafrechtlicher Art – zu erlassen oder beizubehalten, die unter Beachtung der Grundsätze und des Ziels der genannten Richtlinie den Fall regeln, dass Zwangsmaßnahmen es nicht ermöglicht haben, einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen abzuschieben.
Insoweit müssen im Rahmen der Anwendung der nationalen strafrechtlichen Vorschriften bei der Verhängung der strafrechtlichen Sanktionen die Grundrechte, insbesondere diejenigen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährleistet sind, in vollem Umfang gewahrt bleiben.
(vgl. Randnrn. 46, 49-50 und Tenor)