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Document 62011CJ0256

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Begünstigte – Familienangehörige eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind – Voraussetzung – Unionsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat

    (Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Nr. 2 und Art. 3 Abs. 1; Richtlinie 2003/86 des Rates, Art. 3 Abs. 3)

    2. Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Geltungsbereich – Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – Voraussetzung für die Einbeziehung – Anwendung von Maßnahmen, die bewirken, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird

    (Art. 20 AEUV und 21 AEUV)

    3. Grundrechte – Achtung des Privat- und Familienlebens – Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7)

    4. Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Weigerung eines Mitgliedstaats, den einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen eines Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht zuzuerkennen

    (Art. 20 AEUV und 21 AEUV)

    5. Völkerrechtliche Verträge – Assoziierungsabkommen EWG–Türkei – Freizügigkeit – Niederlassungsfreiheit – Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls – Tragweite

    (Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei, Art. 41 Abs. 1)

    Leitsätze

    1. Die Richtlinien 2003/86 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung und 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sind nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht begehren, um zu Familienangehörigen zu ziehen, die Unionsbürger sind, aber nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

    Zum einen findet nämlich die Richtlinie 2003/86 nach ihrem Art. 3 Abs. 3 auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung. Zum anderen ergibt sich aus der Richtlinie 2004/38 nicht für alle Drittstaatsangehörigen das Recht, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur für diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat.

    (vgl. Randnrn. 47, 56, 58)

    2. Die Lage eines Unionsbürgers, der vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, kann nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden. Da der Unionsbürgerstatus nämlich dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird.

    Dieses Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes.

    In Bezug auf das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, kommt diesem Kriterium somit insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen – obwohl das das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen betreffende abgeleitete Recht nicht anwendbar ist – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Staatsbürgers eines Mitgliedstaats ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde. Die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde.

    (vgl. Randnrn. 61-62, 64, 66-68)

    3. Ist ein nationales Gericht im Licht der Umstände eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits der Ansicht, dass die Situation, in der sich die einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen eines Unionsbürgers befinden, unter das Unionsrecht fällt, muss es prüfen, ob die Weigerung, ihnen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, das in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehene Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens beeinträchtigt. Ist es dagegen der Ansicht, dass der Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, muss es eine solche Prüfung im Licht von Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vornehmen. Alle Mitgliedstaaten sind nämlich Vertragsparteien dieser Konvention, in deren Art. 8 das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verankert ist.

    (vgl. Randnrn. 72-73)

    4. Das Unionsrecht und insbesondere dessen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehren, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Unionsbürger ist, sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird; dies zu prüfen, ist Sache des nationalen Gerichts.

    (vgl. Randnr. 74, Tenor 1)

    5. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei ist dahin auszulegen, dass der Erlass einer Neuregelung, die restriktiver ist als die Vorgängerregelung, mit der ihrerseits eine frühere Regelung gelockert wurde, die die Bedingungen für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit türkischer Staatsangehöriger zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betraf, als neue Beschränkung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist.

    Die Tragweite der Stillhalteverpflichtung erstreckt sich nämlich auf sämtliche neuen Hindernisse für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit, des freien Dienstleistungsverkehrs oder der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die eine Verschärfung der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden Bedingungen darstellen, so dass gewährleistet sein muss, dass sich die Mitgliedstaaten nicht von dem mit den Stillhalteklauseln verfolgten Ziel entfernen, indem sie Bestimmungen ändern, die sie nach Inkrafttreten des Zusatzprotokolls oder des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG–Türkei in ihrem Gebiet zugunsten der genannten Freiheiten türkischer Staatsangehöriger erlassen haben.

    (vgl. Randnrn. 94, 101, Tenor 2)

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