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Document 62008CJ0089

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Nichtigkeitsklage – Gründe – Verletzung wesentlicher Formvorschriften – Gerichtliche Prüfung von Amts wegen

(Art. 230 EG)

2. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens – Beachtung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens

(Verfahrensordnung des Gerichts, Art. 62)

3. Staatliche Beihilfen – Bestehende und neue Beihilfen – Entwicklung des Gemeinsamen Marktes

(Art. 253 EG)

Leitsätze

1. Eine fehlende oder unzureichende Begründung stellt eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften im Sinne des Art. 230 EG dar und ist ein Gesichtspunkt zwingenden Rechts, den der Gemeinschaftsrichter von Amts wegen prüfen kann und muss. Der Gemeinschaftsrichter geht nicht über die Grenzen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits hinaus, indem er einen solchen Gesichtspunkt von Amts wegen prüft, und verstößt in keiner Weise gegen die verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Darstellung des Streitgegenstands und der Klagegründe in der Klageschrift.

(vgl. Randnrn. 34-35)

2. Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, ein elementarer Rechtsgrundsatz, ist Bestandteil der Verteidigungsrechte. Er gilt für jedes Verfahren, das zu einer Entscheidung eines Gemeinschaftsorgans führen kann, durch die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden. Die Gemeinschaftsgerichte tragen dafür Sorge, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens vor ihnen und von ihnen selbst beachtet wird.

Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens muss jeder Partei eines Verfahrens, mit dem der Gemeinschaftsrichter befasst wird, unabhängig von ihrer rechtlichen Eigenschaft zugutekommen. Die Gemeinschaftsorgane können sich daher ebenfalls darauf berufen, wenn sie Parteien in einem solchen Verfahren sind.

Das Gemeinschaftsrichter selbst muss den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens vor allem dann wahren, wenn er einen Rechtsstreit auf der Grundlage eines von Amts wegen berücksichtigten Gesichtspunkts entscheidet.

Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verleiht im Allgemeinen nicht nur jedem Verfahrensbeteiligten das Recht, die Schriftstücke und Erklärungen, die sein Gegner dem Gemeinschaftsrichter vorgelegt hat, zur Kenntnis zu nehmen und zu erörtern, und steht nicht nur dem entgegen, dass dieser seine Entscheidung auf Tatsachen oder Schriftstücke gründet, die die Beteiligten – oder einer von ihnen – nicht zur Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten. Er umfasst im Allgemeinen auch das Recht der Beteiligten, die Gesichtspunkte zur Kenntnis zu nehmen, die er von Amts wegen berücksichtigt hat und auf die er seine Entscheidung gründen möchte, und sie zu erörtern.

Das Ermessen, über das das Gericht hinsichtlich der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach Art. 62 seiner Verfahrensordnung verfügt, kann nicht ausgeübt werden, ohne die Pflicht zur Beachtung des kontradiktorischen Verfahrens zu berücksichtigen.

Ein Urteil, mit dem eine streitige Entscheidung auf der Grundlage des von Amts wegen geprüften Gesichtspunkts eines Verstoßes gegen Art. 253 EG für nichtig erklärt wurde, ohne dass die Beteiligten im schriftlichen oder im mündlichen Verfahren aufgefordert worden wären, sich zu diesem Gesichtspunkt zu äußern, missachtet den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens. Denn ein Begründungsmangel ist zwar ein Mangel, der grundsätzlich nicht geheilt werden kann, doch beruht die Feststellung eines solchen Mangels auf einer Würdigung, die eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen hat. Eine solche Beurteilung kann Anlass zu einer Erörterung geben, insbesondere wenn sie nicht das völlige Fehlen einer Begründung, sondern die Begründung eines konkreten tatsächlichen und rechtlichen Punkts betrifft.

(vgl. Randnrn. 50-57, 59-61)

3. Nach Art. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 659/1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 88 EG gilt als bestehend eine Beihilfe, die zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurde, keine Beihilfe war und später aufgrund der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu einer Beihilfe wurde, ohne dass sie eine Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat erfahren hat. Der Begriff der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes kann dahin verstanden werden, dass es sich um eine Änderung der wirtschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten in dem von der fraglichen Maßnahme betroffenen Sektor handelt, und betrifft z. B. nicht den Fall, dass die Kommission ihre Beurteilung aufgrund einer strengeren Anwendung der Beihilfevorschriften ändert. Allgemein entspricht der Begriff der staatlichen Beihilfe, sei sie eine bestehende oder eine neue, einer objektiven Situation. Dieser Begriff kann nicht vom Verhalten oder von den Erklärungen der Organe abhängen.

Folglich muss zwar die nach Art. 253 EG geforderte Begründung eines Rechtsakts der Gemeinschaft dessen Natur angepasst sein, es ist aber nicht geboten, der Kommission die Angabe der Gründe vorzuschreiben, aus denen sie eine Maßnahme in ihren früheren Entscheidungen anders beurteilt hat.

Demnach können Umstände wie hauptsächlich zum einen, dass die Kommission bei der Annahme der Entscheidungen des Rates, die streitigen Befreiungen zu genehmigen, der Ansicht gewesen war, dass diese nicht zu einer Wettbewerbsverfälschung führten und dass sie das Funktionieren des Binnenmarkts nicht behinderten, und zum anderen, dass diese Entscheidungen zu der Annahme führen konnten, dass diese Befreiungen nicht als staatliche Beihilfen einzustufen seien, die Kommission grundsätzlich nicht dazu verpflichten, eine streitige Entscheidung über die Nichtanwendung von Art. 1 Buchst. b Ziff. v der Verordnung Nr. 659/1999 zu begründen.

(vgl. Randnrn. 70-73, 75)

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