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Document 62006CJ0341

    Leitsätze des Urteils

    Schlüsselwörter
    Leitsätze

    Schlüsselwörter

    1. Gemeinschaftsrecht – Grundsätze – Grundrechte – Wahrung durch den Gerichtshof – Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention – Recht eines jeden auf ein faires Verfahren

    (Art. 6 Abs. 2 EU)

    2. Verfahren – Streithilfe – Vom Beklagten nicht geltend gemachte Einrede der Unzulässigkeit – Unzulässigkeit

    (Satzung des Gerichtshofs, Art. 40 Abs. 4)

    3. Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung darüber, ob die logistische und kommerzielle Unterstützung, die eine auf einem vorbehaltenen Markt tätige Muttergesellschaft ihrer nicht auf einem vorbehaltenen Markt tätigen Tochtergesellschaft leistet, eine staatliche Beihilfe darstellt

    (EG-Vertrag, Art. 92 [nach Änderung jetzt Art. 87 EG] und Art. 93 und 190 [jetzt Art. 88 EG und 253 EG])

    4. Staatliche Beihilfen – Begriff – Übergabe des Kundenstamms eines Dienstes, den eine auf einem vorbehaltenen Markt tätige Muttergesellschaft geschaffen hat, an ihre nicht auf einem vorbehaltenen Markt tätige privatrechtliche Tochtergesellschaft

    (EG-Vertrag, Art. 92 Abs. 1 [nach Änderung jetzt Art. 87 Abs. 1 EG])

    5. Staatliche Beihilfen – Begriff – Logistische und kommerzielle Unterstützung, die ein mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrautes Unternehmen seiner Tochtergesellschaft leistet

    (EG-Vertrag, Art. 92 Abs. 1 [nach Änderung jetzt Art. 87 Abs. 1 EG])

    Leitsätze

    1. Das Recht auf ein faires Verfahren, wie es sich u. a. aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, ist ein Grundrecht, das die Europäische Union als allgemeinen Grundsatz nach Art. 6 Abs. 2 EU achtet und das bedeutet, dass jeder die Möglichkeit haben muss, von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist gehört zu werden.

    Im Rahmen eines Rechtsmittels ist ein Rechtsmittelgrund, mit dem die nicht ordnungsgemäße Zusammensetzung des Gerichts erster Instanz geltend gemacht wird, als ein Gesichtspunkt anzusehen, den der Gemeinschaftsrichter von Amts wegen zu prüfen hat.

    Der Umstand, dass ein Richter, der in der gleichen Sache nacheinander in zwei Spruchkörpern mitwirkte, jeweils als Berichterstatter fungierte, ist für sich genommen für die Beurteilung der Frage, ob das Unparteilichkeitsgebot gewahrt wurde, unerheblich, weil diese Aufgabe in einem Spruchkörper mit mehreren Richtern ausgeübt wird.

    Darüber hinaus deckt das Unparteilichkeitsgebot zwei Aspekte ab. Zum einen muss das Gericht subjektiv unparteiisch sei, d. h. keines seiner Mitglieder darf Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile an den Tag legen, wobei die persönliche Unparteilichkeit bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird. Zum anderen muss es objektiv unparteiisch sein, d. h. hinreichende Garantien bieten, um jeden berechtigten Zweifel in dieser Hinsicht auszuschließen. In diesem Zusammenhang genügt der Umstand, dass ein bestimmter Richter in zwei Spruchkörpern mitgewirkt hat, die nacheinander in der gleichen Sache zu entscheiden hatten, für sich genommen und ohne jeden sonstigen objektiven Anhaltspunkt nicht, um Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts zu wecken.

    (vgl. Randnrn. 44-45, 48, 53-54, 56)

    2. Ein Streithelfer ist nicht zur Erhebung einer Einrede der Unzulässigkeit befugt, die der Beklagte in seinen Anträgen nicht geltend gemacht hat.

    (vgl. Randnr. 67)

    3. Wird mit einer Entscheidung der Kommission verneint, dass es sich bei einer von einem Beschwerdeführer gerügten Maßnahme um eine staatliche Beihilfe handelt, so hat die Kommission dem Beschwerdeführer zumindest in hinreichender Weise die Gründe darzulegen, aus denen die in der Beschwerde angeführten rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkte nicht zum Nachweis des Vorliegens einer staatlichen Beihilfe genügt haben. Die Kommission braucht jedoch nicht zu Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, die offensichtlich neben der Sache liegen oder keine oder eindeutig untergeordnete Bedeutung haben. Außerdem ist die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung im Bereich staatlicher Beihilfen aufgrund der Informationen zu beurteilen, über die die Kommission bei Erlass der Entscheidung verfügte.

    Der Umstand, dass es sich bei einer Entscheidung der Kommission um eine der ersten gehandelt haben soll, die die komplexe beihilferechtliche Frage der Berechnung der Kosten der Unterstützung, die eine auf einem vorbehaltenen Markt tätige Muttergesellschaft ihrer nicht auf einem vorbehaltenen Markt tätigen Tochtergesellschaft gewährt, für sich genommen keine zwingend in die Einzelheiten der Berechnung dieser Kosten gehende Begründung, wenn die Kommission der Ansicht ist, dass die Gründe des Beschwerdeführers insoweit schon im Ansatz verfehlt sind. Sollte diese Auffassung der Kommission selbst unzutreffend sein, könnte sich dies auf die materielle, nicht aber auf die formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung auswirken. Der erforderliche Zusammenhang zwischen den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Gründen und der Begründung der Entscheidung der Kommission kann nicht dazu führen, dass die Kommission jedes einzelne für die Beschwerdegründe vorgebrachte Argument widerlegen muss. Es genügt, wenn sie die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen anführt, denen nach dem Aufbau der Entscheidung wesentliche Bedeutung zukommt. Bei den von der Kommission verwendeten wirtschaftlichen und buchhalterischen Begriffen, der Art der untersuchten Kosten und den einzelnen Schritten der durchgeführten finanziellen Berechnungen handelt es sich um komplexe technische Beurteilungen; da die streitige Entscheidung die Erwägungen der Kommission klar zum Ausdruck bringt und es so ermöglicht, deren Stichhaltigkeit später vor dem zuständigen Gericht in Frage zu stellen, wäre es übertrieben, eine besondere Begründung für jede der fachlichen Entscheidungen oder der Zahlen zu verlangen, auf die sich diese Erwägungen stützen.

    (vgl. Randnrn. 89-90, 94, 96, 108)

    4. Der Begriff der stattlichen Beihilfe erfasst nicht nur positive Leistungen wie Subventionen, Darlehen oder Beteiligungen am Kapital von Unternehmen, sondern auch Maßnahmen, die in verschiedener Form die Lasten verringern, die ein Unternehmen sonst zu tragen hätte, und die somit, ohne Subventionen im strengen Sinne des Wortes zu sein, diesen nach Art und Wirkung gleichstehen. Zu den indirekten Vorteilen, die die gleichen Wirkungen wie staatliche Beihilfen haben, gehört die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen zu günstigen Bedingungen.

    Jedoch dürfen im Rahmen der Übergabe des Kundenstamms eines von einer auf einem vorbehaltenen Markt tätigen Muttergesellschaft geschaffenen Dienstes, der nicht zum vorbehaltenen Sektor gehört, an eine privatrechtliche Tochtergesellschaft die rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen dieser Übergabe nicht vollständig außer Betracht bleiben, wenn sich bereits aus diesen selbst eine Gegenleistung für den durch diese Übergabe entstandenen Vorteil ergeben kann. Darüber hinaus ist eine solche Qualifizierung als staatliche Beihilfe nur zulässig, wenn die Übergabe des Kundenstamms als solche alle Voraussetzungen des Art. 92 Abs. 1 des Vertrags (nach Änderung jetzt Art. 87 Abs. 1 EG) erfüllt. Was die Frage angeht, ob eine solche Übergabe, wie es sich aus der vierten dieser Voraussetzungen ergibt, den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht, so kann dies jedenfalls nur dann der Fall sein, wenn diese Übergabe die Struktur des betreffenden Marktes verändert und die Lage der auf diesem Markt bereits tätigen Konkurrenzunternehmen berührt.

    (vgl. Randnrn. 123, 128-130)

    5. Bei einer Entscheidung der Kommission, mit der festgestellt wird, dass die von einem mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmen seiner Tochtergesellschaft gewährte logistische und kommerzielle Unterstützung keine staatliche Beihilfe darstellt, hat der Gemeinschaftsrichter zu prüfen, ob die von der Kommission angeführten Tatsachen sachlich richtig und zum Nachweis dafür geeignet sind, dass sämtliche Voraussetzungen für die Einstufung als Beihilfe im Sinne des Vertrags erfüllt sind. Dabei geht es um die Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten, so dass die gerichtliche Kontrolle einer Handlung der Kommission, die eine solche Würdigung einschließt, auf die Prüfung der Fragen zu beschränken ist, ob die Verfahrens- und Begründungsvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt, der der getroffenen Entscheidung zugrunde gelegt wurde, zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen. Da der Begriff der staatlichen Beihilfe einem objektiven Sachverhalt entspricht, der zu dem Zeitpunkt zu beurteilen ist, zu dem die Kommission ihre Entscheidung trifft, sind für diese gerichtliche Kontrolle die zu diesem Zeitpunkt vorgenommenen Beurteilungen zu berücksichtigen.

    Da es unmöglich ist, die Situation eines mit einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrauten Unternehmens mit der einer privaten Unternehmensgruppe zu vergleichen, die keine Monopolstellung hat, sind die zwangsläufig hypothetischen „normalen Marktbedingungen“ anhand der objektiven und nachprüfbaren Faktoren zu ermitteln, die verfügbar sind.

    Unter diesen Umständen durfte die Kommission ihre Entscheidung auf die einzigen Angaben stützen, die ihr damals zur Verfügung standen, nämlich die sich aus dem Bericht einer Beratungsgesellschaft ergebenden, anhand deren sich die Kosten dieses Unternehmens rekapitulieren ließen. Der Rückgriff auf diese Angaben wäre nur dann zu beanstanden, wenn nachgewiesen wäre, dass sie auf offensichtlich irrigen Erwägungen beruhten.

    (vgl. Randnrn. 142-145, 148-149)

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