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Document 62023CJ0119

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2024.
    Virgilijus Valančius gegen Lietuvos Republikos Vyriausybė.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV – Art. 254 Abs. 2 AEUV – Ernennung von Richtern des Gerichts der Europäischen Union – Gewähr für Unabhängigkeit – Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten – Nationales Verfahren für den Vorschlag eines Bewerbers für das Amt eines Richters des Gerichts der Europäischen Union – Gruppe unabhängiger Sachverständiger, die mit der Beurteilung der Bewerber beauftragt ist – Rangliste der Bewerber, die die in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV genannten Anforderungen erfüllen – Vorschlag eines Bewerbers, der auf der Rangliste steht und nicht der bestplatzierte Bewerber ist – Stellungnahme des in Art. 255 AEUV vorgesehenen Ausschusses zur Eignung der Bewerber.
    Rechtssache C-119/23.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:653

    Rechtssache C‑119/23

    Virgilijus Valančius

    gegen

    Lietuvos Republikos Vyriausybė

    (Vorabentscheidungsersuchen des Vilniaus apygardos administracinis teismas)

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 29. Juli 2024

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV – Art. 254 Abs. 2 AEUV – Ernennung von Richtern des Gerichts der Europäischen Union – Gewähr für Unabhängigkeit – Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten – Nationales Verfahren für den Vorschlag eines Bewerbers für das Amt eines Richters des Gerichts der Europäischen Union – Gruppe unabhängiger Sachverständiger, die mit der Beurteilung der Bewerber beauftragt ist – Rangliste der Bewerber, die die in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV genannten Anforderungen erfüllen – Vorschlag eines Bewerbers, der auf der Rangliste steht und nicht der bestplatzierte Bewerber ist – Stellungnahme des in Art. 255 AEUV vorgesehenen Ausschusses zur Eignung der Bewerber“

    1. Vorlagefragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Umfang – Verfahren zur Ernennung von Unionsrichtern – Nationales Verfahren für den Vorschlag eines Bewerbers für das Amt eines Richters des Gerichts der Europäischen Union – Ersuchen um Auslegung der Anforderungen, die in den Verträgen für die Ernennung von Richtern des Gerichts vorgesehen sind – Einbeziehung

      (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV; Art. 254 Abs. 2 AEUV)

      (vgl. Rn. 28-34)

    2. Unionsrecht – Grundsätze – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Bedeutung – Zusammenspiel mit dem Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht

      (Art. 2 und Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV)

      (vgl. Rn. 46-50)

    3. Gerichtshof der Europäischen Union – Ernennung von Richtern des Gerichts der Europäischen Union – Im Unionsrecht vorgesehene Erfordernisse der Unabhängigkeit und der fachlichen Eignung – Auswirkung auf das nationale Verfahren für den Vorschlag eines Bewerbers für das Amt eines Richters des Gerichts – Nationale Regelung, die die Beteiligung einer Gruppe unabhängiger Sachverständiger am Auswahlverfahren vorsieht, deren Auftrag darin besteht, die Bewerber zu beurteilen und eine Rangliste zu erstellen – Vorschlag der nationalen Regierung, einen Bewerber zu billigen, der auf der Rangliste steht und nicht der bestplatzierte Bewerber ist – Zulässigkeit – Garantien für die Einhaltung dieser Erfordernisse

      (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV; Art. 254 Abs. 2 AEUV)

      (vgl. Rn. 53, 54, 56-60, 62, 63, 65, 66 und Tenor)

    Zusammenfassung

    Auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) hin entscheidet die Große Kammer des Gerichtshofs über die Auswirkungen der Bestimmungen der Verträge über die Ernennung von Richtern des Gerichts der Europäischen Union ( 1 ) auf das nationale Verfahren für den Vorschlag eines Bewerbers für dieses Amt.

    2016 wurde Herr Valančius zum Richter des Gerichts ernannt. Nach dem Ende seiner Amtszeit im August 2019 übte er sein Amt weiterhin aus ( 2 ). 2021 wurde ein Verfahren zur Auswahl eines Bewerbers für das Amt eines Richters des Gerichts festgelegt ( 3 ). Nach diesem Verfahren erstellte eine Arbeitsgruppe, die mehrheitlich aus unabhängigen Sachverständigen bestand, eine Rangliste der Bewerber, die in absteigender Reihenfolge nach der erreichten Punktzahl geordnet war. Herr Valančius war auf dieser Liste der höchstplatzierte Bewerber.

    2022 entschied die litauische Regierung, die zweitplatzierte Person auf der Rangliste als Bewerber für das Amt eines Richters des Gerichts vorzuschlagen. Nach einer ablehnenden Stellungnahme des in Art. 255 AEUV vorgesehenen Ausschusses betreffend diesen Bewerber entschied die Regierung, die Bewerbung der drittplatzierten Person auf der Rangliste vorzuschlagen. 2023 wurde diese Person zum Richter des Gerichts ernannt.

    Herr Valančius stellte vor dem vorlegenden Gericht die Rechtmäßigkeit der von der litauischen Regierung getroffenen Vorschlagsentscheidungen in Abrede und beantragte u. a., der litauischen Regierung aufzugeben, das Vorschlagsverfahren wieder aufzunehmen und den Namen des auf der Rangliste am höchsten eingestuften Bewerbers vorzulegen.

    In diesem Kontext hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersucht, sich zur Auslegung der Bestimmungen der Verträge über die Ernennung der Richter des Gerichts zu äußern.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Zu seiner Zuständigkeit für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen stellt der Gerichtshof fest, dass nach dem Unionsrecht ( 4 ) das Verfahren zur Ernennung eines Richters des Gerichts in drei Stufen gegliedert ist. Auf der ersten Stufe schlägt die Regierung des betreffenden Mitgliedstaats einen Bewerber für das Amt eines Richters des Gerichts vor, indem sie diesen Vorschlag dem Generalsekretariat des Rates übermittelt. Auf der zweiten Stufe gibt der in Art. 255 AEUV vorgesehene Ausschuss mit Blick auf die in Art. 254 Abs. 2 AEUV aufgestellten Anforderungen eine Stellungnahme zur Eignung dieses Bewerbers für die Ausübung des Amts eines Richters des Gerichts ab. Auf der dritten Stufe, die nach der Anhörung dieses Ausschusses erfolgt, ernennen die Regierungen der Mitgliedstaaten über ihre Vertreter den betreffenden Bewerber durch einen Beschluss, der auf Vorschlag der Regierung des betreffenden Mitgliedstaats im gegenseitigen Einvernehmen gefasst wird, zum Richter des Gerichts. Somit stellt die Entscheidung der Regierung eines Mitgliedstaats, einen Bewerber für das Amt eines Richters des Gerichts vorzuschlagen, die erste Stufe des Ernennungsverfahrens nach Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV dar und fällt daher in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen. Unter diesen Umständen fällt die Auslegung dieser Bestimmungen offenkundig in die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Vorabentscheidung.

    In Bezug auf den Inhalt der gestellten Vorlagefragen weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte einen der in Art. 2 EUV verankerten Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten konkretisiert, die der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge geben und sowohl von der Union als auch von den Mitgliedstaaten zu beachten sind. Da dieses Erfordernis, das zwei Aspekte umfasst, die Unabhängigkeit im engeren Sinne und die Unparteilichkeit, dem Auftrag des Richters inhärent ist und Art. 19 EUV die Aufgabe, in der Rechtsordnung der Union die gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, dem Gerichtshof der Europäischen Union und den nationalen Gerichten gemeinsam überträgt, gilt es sowohl auf der Ebene der Union, insbesondere für die Richter des Gerichts, als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten für die nationalen Gerichte

    Im Übrigen hängt das Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts u. a. eng mit dem Erfordernis der Unabhängigkeit in dem Sinne zusammen, dass beide auf die Wahrung der grundlegenden Prinzipien des Primats des Rechts und der Gewaltenteilung abzielen, die für den Rechtsstaat wesentlich sind und deren Wert in Art. 2 EUV bekräftigt wird. Das Erfordernis eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts umfasst schon seinem Wesen nach das Verfahren zur Ernennung der Richter, wobei die Unabhängigkeit eines Gerichts u. a. an der Art und Weise der Ernennung seiner Mitglieder gemessen wird.

    Insoweit müssen die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für die Ernennung der Richter des Gerichts es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel daran auszuschließen, dass sie die in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Anforderungen erfüllen, die sich sowohl auf die „Gewähr für Unabhängigkeit“ als auch auf die „Befähigung zur Ausübung hoher richterlicher Tätigkeiten“ beziehen. Zu diesem Zweck ist es u. a. erforderlich, die Integrität des gesamten Verfahrens zur Ernennung der Richter des Gerichts und damit des Ergebnisses dieses Verfahrens auf jeder Stufe, aus der es besteht, zu gewährleisten.

    Was zunächst die nationale Stufe des Vorschlags eines Bewerbers für das Amt eines Richters des Gerichts betrifft, stellt der Gerichtshof zum einen fest, dass es in Ermangelung einer besonderen Vorschrift hierzu im Unionsrecht der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zukommt, die Verfahrensmodalitäten für den Vorschlag eines solchen Bewerbers zu regeln, sofern diese Modalitäten bei den Rechtsuchenden keine berechtigten Zweifel daran aufkommen lassen können, dass der vorgeschlagene Bewerber die in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Anforderungen erfüllt. Insoweit ist der Umstand, dass Vertreter der Legislative oder der Exekutive am Verfahren zur Ernennung von Richtern beteiligt sind, für sich genommen nicht geeignet, bei den Rechtsuchenden solche berechtigten Zweifel aufkommen zu lassen. Allerdings können die Beteiligung unabhängiger beratender Einrichtungen und eine Begründungspflicht im nationalen Recht dadurch zu einer größeren Objektivität des Ernennungsverfahrens beitragen, dass der Entscheidungsspielraum des ernennungsbefugten Organs eingeschränkt wird.

    Was zum anderen die materiellen Voraussetzungen für die Auswahl und den Vorschlag der Bewerber für das Amt eines Richters des Gerichts betrifft, müssen die Mitgliedstaaten, auch wenn sie bei der Festlegung dieser Voraussetzungen über einen weiten Gestaltungsspielraum verfügen, unabhängig von den hierfür bestimmten Verfahrensmodalitäten dafür sorgen, dass die vorgeschlagenen Bewerber die in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Anforderungen an die Unabhängigkeit und die fachliche Eignung erfüllen.

    Anschließend weist der Gerichtshof darauf hin, dass auch der in Art. 255 AEUV vorgesehene Ausschuss dafür zuständig ist, die Eignung der von den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Bewerber für die Ausübung des Amts eines Richters des Gerichts mit Blick auf diese Anforderungen zu überprüfen. Dieser Ausschuss muss nämlich für die Zwecke der Abgabe seiner Stellungnahme zu dieser Eignung prüfen, ob der vorgeschlagene Bewerber die Anforderungen an die Unabhängigkeit und die fachliche Eignung erfüllt, die gemäß den Verträgen erforderlich sind, um das Amt eines Richters des Gerichts auszuüben.

    Zwar ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass es ein offenes, transparentes und gründliches Auswahlverfahren gibt, ein maßgeblicher Gesichtspunkt im Rahmen der Prüfung, ob der vorgeschlagene Bewerber diese Anforderungen erfüllt, doch rechtfertigt das Fehlen eines solchen Verfahrens es als solches nicht, die Erfüllung dieser Anforderungen anzuzweifeln. Für die Zwecke einer solchen Prüfung kann der in Art. 255 AEUV vorgesehene Ausschuss die Regierung, von der der Vorschlag stammt, ersuchen, ihm zusätzliche Informationen oder andere Angaben zu übermitteln, die ihm für seine Beratungen erforderlich erscheinen.

    Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass es auch Aufgabe der Regierungen der Mitgliedstaaten ist, durch ihre Vertreter die Einhaltung der in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV festgelegten Anforderungen zu gewährleisten, wenn sie mit Blick auf die Stellungnahme des in Art. 255 AEUV vorgesehenen Ausschusses beschließen, den Bewerber, der von einer dieser Regierungen vorgeschlagen wurde, zum Richter des Gerichts zu ernennen. Sobald dieser Bewerber ernannt ist, wird er nämlich Richter der Union und vertritt nicht den Mitgliedstaat, der ihn vorgeschlagen hat.

    In Anbetracht dieser Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass, wenn ein Mitgliedstaat ein Verfahren zur Auswahl der Bewerber für das Amt eines Richters des Gerichts festgelegt hat, in dessen Rahmen eine mehrheitlich aus unabhängigen Sachverständigen bestehende Gruppe beauftragt wurde, diese Bewerber zu beurteilen, eine Rangliste derjenigen unter ihnen zu erstellen, die die in Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV genannten Anforderungen erfüllen, und als Empfehlung den auf dieser Liste bestplatzierten Bewerber anzugeben, die bloße Tatsache, dass die Regierung dieses Mitgliedstaats entschieden hat, einen anderen auf dieser Rangliste stehenden Bewerber als den am höchsten eingestuften vorzuschlagen, für sich genommen nicht für die Feststellung ausreicht, dass dieser Vorschlag geeignet ist, berechtigte Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass der vorgeschlagene Bewerber diese Anforderungen erfüllt. Im Übrigen kann die Tatsache, dass der in Art. 255 AEUV vorgesehene Ausschuss eine positive Stellungnahme zu dem von der nationalen Regierung vorgeschlagenen Bewerber, der auf dieser Liste an dritter Stelle stand, abgegeben hat, bestätigen, dass die Entscheidung der Regierungen der Mitgliedstaaten, diesen Bewerber zu ernennen, den vorgenannten Anforderungen entspricht.


    ( 1 ) Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV und Art. 254 Abs. 2 AEUV.

    ( 2 ) Gemäß Art. 5 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union.

    ( 3 ) Pretendento į Europos Sąjungos Bendrojo Teismo teisėjus atrankos tvarkos aprašas (Beschreibung des Auswahlverfahrens für einen Bewerber für das Amt eines Richters des Gerichts der Europäischen Union) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung, der mit Erlass Nr. 1R‑65 der Justizministerin der Republik Litauen vom 9. März 2021 verabschiedet wurde.

    ( 4 ) Insbesondere gemäß Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 EUV, Art. 254 Abs. 2 AEUV und Art. 255 AEUV.

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