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Document 62022CJ0771

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Juli 2024.
    Bundesarbeitskammer u. a. gegen HDI Global SE und MS Amlin Insurance SE.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Art. 12 – Recht auf Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag – Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen – Unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände – Covid-19-Pandemie – Art. 17 – Insolvenz des Reiseveranstalters – Sicherheit für die Erstattung aller geleisteten Zahlungen – Hohes Verbraucherschutzniveau – Grundsatz der Gleichbehandlung.
    Verbundene Rechtssachen C-771/22 und C-45/23.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:644

    Verbundene Rechtssachen C‑771/22 und C‑45/23

    Bundesarbeitskammer

    gegen

    HDI Global SE

    und

    A,
    B,
    C,
    D

    gegen

    MS Amlin Insurance SE

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien und der Nederlandstalige Ondernemingsrechtbank Brussel)

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Juli 2024

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Art. 12 – Recht auf Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag – Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen – Unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände – Covid-19-Pandemie – Art. 17 – Insolvenz des Reiseveranstalters – Sicherheit für die Erstattung aller geleisteten Zahlungen – Hohes Verbraucherschutzniveau – Grundsatz der Gleichbehandlung“

    Rechtsangleichung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Schutz gegen das Risiko der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses des Veranstalters – Sicherheit für die Erstattung der aufgrund des Vertrags geleisteten Zahlungen – Begriff – Vor der Zahlungsunfähigkeit des Veranstalters erklärter Rücktritt vom Vertrag aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände – Einbeziehung

    (Richtlinie 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 12 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 56-64, 67, 68, 71, 74, 75, 81-91 und Tenor)

    Zusammenfassung

    Der mit Vorabentscheidungsersuchen ( 1 ) befasste Gerichtshof präzisiert den Umfang der den Reisenden für den Fall der Insolvenz eines Pauschalreiseveranstalters gewährten Sicherheit ( 2 ) und stellt fest, dass sie für einen Reisenden gilt, der aufgrund außergewöhnlicher Umstände ( 3 ) wie der Covid-19-Pandemie von seinem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist, wenn der Reiseveranstalter nach diesem Rücktritt insolvent geworden ist und dem Reisenden vor dem Eintritt der Insolvenz nicht alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstattet wurden.

    In den beiden in Rede stehenden Rechtsstreitigkeiten stehen sich eine Stelle, die u. a. im Verbraucherschutz tätig ist und der ein Verbraucher seinen Anspruch auf Erstattung des Preises seiner Pauschalreise, den er einem Pauschalreiseveranstalter gezahlt hat, abgetreten hat (Rechtssache C‑771/22), bzw. Reisende, die Pauschalreiseverträge mit einem Reiseveranstalter geschlossen haben (C‑45/23), und Versicherungsunternehmen gegenüber, bei denen diese Reiseveranstalter für den Fall der Insolvenz versichert waren. Die Versicherungsunternehmen weigerten sich, den Verbrauchern den Preis zu erstatten, den diese aufgrund der geschlossenen Verträge, von denen sie dann wegen der Covid-19-Pandemie zurückgetreten waren, gezahlt hatten, mit dem Argument, dass nur das Risiko der Nichterfüllung des Pauschalreisevertrags wegen Insolvenz der Veranstalter von der Versicherung gedeckt sei.

    Die vorlegenden Gerichte befragen den Gerichtshof zum Umfang der in Art. 17 der Pauschalreiserichtlinie vorgesehenen Sicherheit, die einem Reisenden für den Fall der Insolvenz des Pauschalreiseveranstalters gewährt wird. Insbesondere möchten sie wissen, ob diese Sicherheit die Erstattungen erfasst, auf die der Reisende Anspruch hat, wenn er aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände wie der Covid-19-Pandemie von seinem Pauschalreisevertrag zurücktritt, bevor der Reiseveranstalter für insolvent erklärt wird.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass der Sinn von Art. 17 Abs. 1 der Pauschalreiserichtlinie nicht eindeutig aus seinem Wortlaut hervorgeht und dass daher sein Kontext, die Ziele dieser Richtlinie sowie gegebenenfalls deren Entstehungsgeschichte zu untersuchen sind.

    Was als Erstes den Kontext dieses Artikels betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass in Anbetracht der Wendungen „[w]ird die Erbringung der vertraglichen Pauschalreiseleistungen durch die Insolvenz des Veranstalters beeinträchtigt“ und „nicht erbrachte Reiseleistungen“ in Art. 17 Abs. 4 bzw. Abs. 5 dieser Richtlinie diese Bestimmungen eine Auslegung von Art. 17 Abs. 1 dieser Richtlinie stützen können, wonach der Begriff der „betreffenden Leistungen“ nur Reiseleistungen erfasst. So würde die in diesem Artikel vorgesehene Absicherung nur dann gelten, wenn zwischen der Nichterbringung dieser Leistungen und der Insolvenz des Reiseveranstalters ein Kausalzusammenhang besteht.

    Allerdings sieht Art. 17 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie vor, dass die entsprechende Sicherheit wirksam sein und die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten abdecken muss. Sie muss insbesondere die Beträge der Zahlungen abdecken, die von Reisenden oder in ihrem Namen geleistet wurden, sowie die geschätzten Kosten einer Rückbeförderung im Fall der Insolvenz des Veranstalters.

    Jede Erstattung, die der Reiseveranstalter infolge eines von ihm oder von dem Reisenden erklärten Rücktritts von dem Pauschalreisevertrag vornehmen muss, ist ein vorhersehbarer Zahlungsbetrag, der von der Insolvenz des Reiseveranstalters betroffen sein kann.

    Aufgrund der vorstehenden Erwägungen kann Art. 17 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie für eine Auslegung von Abs. 1 dieses Artikels sprechen, wonach die von der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Sicherheit für jede Erstattung gilt, die der Reiseveranstalter dem Reisenden schuldet, wenn der Pauschalreisevertrag in einem der in dieser Richtlinie behandelten Fälle vor dem Eintritt der Insolvenz des Veranstalters beendet wurde.

    Was als Zweites das Ziel dieser Richtlinie betrifft, soll mit ihr der den Reisenden mit der Richtlinie 90/314 ( 4 ) eingeräumte Schutz den Marktentwicklungen angepasst werden, und sie soll einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus ( 5 ) leisten. Eine Auslegung von Art. 17 Abs. 1 der Pauschalreiserichtlinie, die von der Absicherung gegen die Insolvenz des Reiseveranstalters die Erstattungen ausschließt, die den Reisenden infolge eines vor dem Eintritt dieser Insolvenz erklärten Rücktritts geschuldet werden, würde jedoch darauf hinauslaufen, deren Schutz im Vergleich zu demjenigen, den ihnen die Richtlinie 90/314 vermittelte, zu schmälern.

    Aufgrund der vorstehenden Erwägungen hebt der Gerichtshof hervor, dass der Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 der Pauschalreiserichtlinie sowohl eine Auslegung zulässt, die von ihrem Anwendungsbereich die Erstattungsforderungen ausnimmt, die aufgrund eines Rücktritts vom Pauschalreisevertrag entstanden sind, der in einer der in dieser Richtlinie genannten Situationen vor dem Eintritt der Insolvenz des Reiseveranstalters erklärt wurde, als auch eine Auslegung, die diese Forderungen in ihren Anwendungsbereich einschließt. Lässt eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrechts mehr als eine Auslegung zu, so ist die Auslegung vorzuziehen, bei der die betreffende Bestimmung mit dem Primärrecht, u. a. mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, vereinbar ist. Für die Prüfung, ob dieser Grundsatz beachtet wurde, ist die Vergleichbarkeit der Situationen anhand des Ziels zu beurteilen, das mit dem fraglichen Rechtsakt verfolgt wird.

    Im vorliegenden Fall wird mit der Pauschalreiserichtlinie das Ziel verfolgt, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu verwirklichen, und Art. 17 dieser Richtlinie trägt zur Erreichung dieses Ziels bei, indem der Reisende vor dem finanziellen Risiko geschützt werden soll, das die Insolvenz des Reiseveranstalters mit sich bringt. In Anbetracht dieses Ziels muss der Maßstab für den Vergleich der Situation des Reisenden, der nach der vollständigen oder teilweisen Zahlung des Preises für seine Pauschalreise von seinem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist, aber keine Erstattung erhalten hat, weil der Reiseveranstalter nach diesem Rücktritt insolvent geworden ist, mit der Situation des Reisenden, dessen Reise nicht durchgeführt wurde und der wegen der Insolvenz des Reiseveranstalters keine Erstattung erhalten hat, das vom betreffenden Reisenden eingegangene Risiko finanzieller Verluste sein. Folglich ist die Situation der beiden oben genannten Reisenden vergleichbar. In beiden Fällen ist der Reisende nämlich dem finanziellen Risiko ausgesetzt, wegen der Insolvenz des Reiseveranstalters keine Erstattung der Beträge erhalten zu können, die er dem Reiseveranstalter gezahlt hat.

    Infolgedessen muss nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung sowohl dem Reisenden, dessen Pauschalreise wegen der Insolvenz des Reiseveranstalters nicht durchgeführt werden kann, als auch dem Reisenden, der von seinem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist ( 6 ), die Absicherung gegen die Insolvenz des Reiseveranstalters zugutekommen, was die ihnen geschuldeten Erstattungen betrifft, es sei denn, eine Ungleichbehandlung dieser beiden Kategorien von Reisenden ist objektiv gerechtfertigt. Im vorliegenden Fall scheint kein Gesichtspunkt eine solche Ungleichbehandlung zwischen diesen Kategorien von Reisenden rechtfertigen zu können.


    ( 1 ) Eingereicht vom Bezirksgericht für Handelssachen Wien (Österreich) in der Rechtssache C‑771/22 und von der Nederlandstalige Ondernemingsrechtbank Brussel (niederländischsprachiges Unternehmensgericht von Brüssel, Belgien) in der Rechtssache C‑45/23.

    ( 2 ) Wie sie in Art. 17 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1, im Folgenden: Pauschalreiserichtlinie) vorgesehen ist.
    Diese Vorschrift sieht vor: „(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassene Reiseveranstalter Sicherheit für die Erstattung aller von Reisenden oder in deren Namen geleisteten Zahlungen leisten, sofern die betreffenden Leistungen infolge der Insolvenz des Reiseveranstalters nicht erbracht werden. Soweit die Beförderung von Personen im Pauschalreisevertrag inbegriffen ist, leisten die Reiseveranstalter auch Sicherheit für die Rückbeförderung der Reisenden. Eine Fortsetzung der Pauschalreise kann angeboten werden.

    (2) Die Sicherheit gemäß Absatz 1 muss wirksam sein und die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten abdecken. Sie muss die Beträge der Zahlungen abdecken, die von Reisenden oder in ihrem Namen in Bezug auf Pauschalreisen geleistet wurden, unter Berücksichtigung der Dauer des Zeitraums zwischen den Anzahlungen und endgültigen Zahlungen und der Beendigung der Pauschalreisen sowie der geschätzten Kosten einer Rückbeförderung im Fall der Insolvenz des Veranstalters.“

    ( 3 ) Im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Pauschalreiserichtlinie.

    ( 4 ) Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (ABl. 1990, L 158, S. 59).

    ( 5 ) Wie in Art. 169 AEUV gefordert.

    ( 6 ) Unter anderem gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302.

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