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Document 62022CJ0402

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 6. Juli 2023.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen M. A.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Rechtssache C-402/22.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:543

Rechtssache C‑402/22 P

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

M. A.

(Vorabentscheidungsersuchen
des Raad van State [Niederlande])

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 6. Juli 2023

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung“

  1. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95 – Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft – Besonders schwere Straftat – Begriff – Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist und zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen – Kriterien für die Beurteilung der Schwere

    (Richtlinie 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates, zwölfter Erwägungsgrund und Art. 1, Art. 12 Abs. 2 Buchst. b, Art. 14 Abs. 4 Buchst. b, Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 sowie Art. 21 Abs. 2 Buchst. b)

    (vgl. Rn. 24-26, 29, 31, 33-45, 48, Tenor 1)

  2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95 – Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft – Gefahr für die Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats – Gefahr, die allein aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung der betreffenden Person wegen einer besonders schweren Straftat festgestellt wird – Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 4 Buchst. b)

    (vgl. Rn. 50-52, Tenor 2)

  3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95 – Aberkennung, Beendigung oder Ablehnung der Verlängerung der Flüchtlingseigenschaft – Anwendungsvoraussetzungen – Gefahr für die Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats – Gefahr, die tatsächlich, gegenwärtig und erheblich sein muss – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, die eine in Bezug auf die Gefahr verhältnismäßige Maßnahme sein muss

    (Richtlinie 2011/95 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14 Abs. 4 Buchst. b)

    (vgl. Rn. 54-56, Tenor 3)

Zusammenfassung

In der Rechtssache Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑663/21) wurde AA im Dezember 2015 in Österreich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Zwischen März 2018 und Oktober 2020 wurde er wegen verschiedener Straftaten mehrfach zu Gefängnisstrafen und zur Zahlung von Geldstrafen verurteilt, u. a. wegen gefährlicher Drohung, Sachbeschädigung, unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften, Suchtgifthandels, Körperverletzung und aggressiven Verhaltens gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht.

Mit im September 2019 erlassenem Bescheid entzog die zuständige österreichische Behörde AA die Flüchtlingseigenschaft, erließ gegen ihn eine mit einem Aufenthaltsverbot einhergehende Rückkehrentscheidung und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest, stellte jedoch fest, dass seine Abschiebung nicht zulässig sei.

Auf die Beschwerde von AA hob das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit im Mai 2021 ergangenem Erkenntnis den vorgenannten Bescheid aus September 2019 auf. Dieses Gericht stellte fest, dass AA wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden sei und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Dennoch war es der Ansicht, dass die Interessen des Aufnahmemitgliedstaats und die des Betroffenen, internationalen Schutz zu genießen, gegeneinander abgewogen werden müssten, wobei die Maßnahmen zu berücksichtigen seien, denen er im Fall der Aberkennung dieses Schutzes ausgesetzt wäre. Da AA bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland einem Folter- und Todesrisiko ausgesetzt wäre, überwögen seine Interessen gegenüber denen Österreichs. Die zuständige österreichische Behörde legte gegen dieses Erkenntnis Revision beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) ein.

In der Rechtssache Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C‑8/22) wurde XXX im Februar 2007 in Belgien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Mit im Dezember 2010 ergangenem Urteil wurde er zu einer 25‑jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, u. a. wegen Raubes mehrerer beweglicher Sachen und eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, das zur Erleichterung dieses Raubes bzw. zur ihn betreffenden Strafvereitelung begangen wurde.

Mit im Mai 2016 erlassenem Bescheid entzog ihm die zuständige belgische Behörde die Flüchtlingseigenschaft. Gegen diesen Bescheid erhob XXX Klage beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien), der die Klage mit im August 2019 ergangenem Urteil abwies. Dieses Gericht war der Ansicht, dass sich die Gefahr, die XXX für die Allgemeinheit darstelle, aus seiner Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ergebe, so dass die zuständige Behörde nicht habe nachzuweisen brauchen, dass dieser eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Vielmehr hätte XXX nachweisen müssen, dass er trotz dieser Verurteilung keine solche Gefahr mehr darstelle. XXX legte beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) Kassationsbeschwerde ein.

In der Rechtssache Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Besonders schwere Straftat) (C‑402/22) stellte M. A. im Juli 2018 in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Juni 2020 lehnte die zuständige niederländische Behörde diesen Antrag ab und führte zur Begründung aus, dass der Antragsteller im Jahr 2018 wegen sexueller Nötigung in drei Fällen, versuchter sexueller Nötigung in einem Fall und Diebstahls eines Mobiltelefons, wobei diese Straftaten am selben Abend begangen worden seien, zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt worden sei.

Auf eine von M. A. erhobene Klage hin wurde der Bescheid aus Juni 2020 von einem erstinstanzlichen Gericht wegen unzureichender Begründung aufgehoben. Die zuständige niederländische Behörde legte gegen dieses Urteil Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein. Sie macht zum einen geltend, dass die M. A. zur Last gelegten Taten als eine einzige Straftat anzusehen seien, die besonders schwer wiege, und führt zum anderen aus, dass die Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat grundsätzlich belege, dass M. A. eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.

In diesen drei Rechtssachen möchten die vorlegenden Gerichte vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, von welchen Voraussetzungen die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ( 1 ) abhängt und wie in diesem Zusammenhang die Interessen des Aufnahmemitgliedstaats gegen die des Betroffenen auf internationalen Schutz abzuwägen sind.

Mit drei Urteilen vom selben Tag beantwortet der Gerichtshof diese Fragen, indem er zum einen die Begriffe „besonders schwere Straftat“ und „Gefahr für die Allgemeinheit“ sowie zum anderen den Umfang der in diesem Rahmen durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung klarstellt. Er erläutert ferner den Zusammenhang zwischen der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und dem Erlass der Rückkehrentscheidung.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass schon bei Erfüllung der ersten dieser beiden Voraussetzungen festgestellt werden kann, dass auch die zweite erfüllt wäre. Dass diese Bestimmung so auszulegen ist, ergibt sich aus ihrem Wortlaut sowie dessen Vergleich mit dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b ( 2 ) und Art. 17 Abs. 1 ( 3 ) der Richtlinie 2011/95.

Was die erste dieser Voraussetzungen angeht, so muss der Begriff „besonders schwere Straftat“ in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten, da für die Ermittlung seiner Bedeutung und Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen wird. Zum einen kennzeichnet der Begriff „Straftat“ nach seinem gewöhnlichen Sinn in diesem Rahmen eine Handlung oder Unterlassung, die einen schweren Verstoß gegen die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft darstellt und deshalb als solche in dieser Gesellschaft strafrechtlich geahndet wird. Zum anderen bezieht sich der Ausdruck „besonders schwer“, da er dem Begriff „Straftat“ zwei Qualifizierungen hinzufügt, auf eine Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist.

Was den Kontext betrifft, in dem der Ausdruck „besonders schwere Straftat“ verwendet wird, so ist zum einen die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, der sich auf eine „schwere nichtpolitische Straftat“ bezieht, und zu Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie, der eine „schwere Straftat“ betrifft, zu berücksichtigen, da diese Artikel ebenfalls darauf abzielen, einen Drittstaatsangehörigen, der eine Straftat mit einem bestimmten Schweregrad begangen hat, vom internationalen Schutz auszuschließen. Zum anderen ergibt sich aus einem Vergleich der Art. 12, 14, 17 und 21 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber an den Schweregrad der Straftaten, die geltend gemacht werden können, um die Anwendung eines Grundes für den Ausschluss bzw. die Aberkennung des internationalen Schutzes oder die Zurückweisung eines Flüchtlings zu rechtfertigen, unterschiedliche Anforderungen gestellt hat. So wird in Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 die Begehung „ein[er] oder mehrere[r] … Straftaten“ genannt, und Art. 12 Abs. 2 Buchst. b und Art. 17 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie beziehen sich auf die Begehung einer „schweren Straftat“. Daraus folgt, dass die Verwendung des Ausdrucks „besonders schwere Straftat“ in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 belegt, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung dieser Bestimmung u. a. von der Erfüllung einer besonders strengen Voraussetzung abhängig machen wollte, nämlich einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, die über die Schwere von Straftaten hinausgeht, die die Anwendung der vorgenannten Bestimmungen dieser Richtlinie rechtfertigen können.

Was die Beurteilung des Schweregrads einer Straftat im Hinblick auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrifft, so ist diese zwar anhand eines gemeinsamen Standards und gemeinsamer Kriterien durchzuführen. Da das Strafrecht der Mitgliedstaaten nicht Gegenstand allgemeiner Harmonisierungsmaßnahmen ist, ist diese Beurteilung jedoch unter Berücksichtigung der Weichenstellungen vorzunehmen, die im Rahmen des Strafrechtssystems des betreffenden Mitgliedstaats in Bezug auf die Bestimmung derjenigen Straftaten erfolgt sind, die aufgrund ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweisen, als sie die Rechtsordnung der Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen.

In Anbetracht dessen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer „besonders schweren Straftat“ im Singular betrifft, kann der Schweregrad einer Straftat jedenfalls nicht durch eine Kumulierung verschiedener Straftaten erreicht werden, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt.

Schließlich sind für die Beurteilung des Schweregrads einer solchen Straftat sämtliche besonderen Umstände des fraglichen Falls zu würdigen. Von erheblicher Bedeutung sind insoweit u. a. die Entscheidungsbegründung der Verurteilung, die Art sowie das Maß der angedrohten und der verhängten Strafe, die Art der begangenen Straftat, alle mit der Begehung der Straftat verbundenen Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, sowie Art und Ausmaß der durch sie verursachten Schäden.

Zur zweiten Voraussetzung, wonach festgestellt worden sein muss, dass ein Drittstaatsangehöriger eine Gefahr für die Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats darstellt, stellt der Gerichtshof erstens fest, dass eine Maßnahme nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt. Insoweit stellt der Gerichtshof u. a. klar, dass sich schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt, dass sie nur dann anwendbar ist, wenn dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit „darstellt“, was darauf hindeutet, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig sein muss. Je später also eine Entscheidung gemäß dieser Bestimmung nach der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat getroffen wird, desto mehr obliegt es der zuständigen Behörde, namentlich die Entwicklungen nach der Begehung einer solchen Straftat zu berücksichtigen, um festzustellen, ob eine tatsächliche und erhebliche Gefahr zu demjenigen Zeitpunkt besteht, zu dem diese Behörde über die etwaige Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu befinden hat. Der Gerichtshof stützt sich insoweit auch darauf, dass sich aus einem Vergleich verschiedener Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 mit deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ergibt, dass dessen Anwendung strengen Voraussetzungen unterliegt.

Was zweitens die jeweiligen Rollen der zuständigen Behörde und des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Beurteilung dessen angeht, ob die Gefahr vorliegt, so hat die zuständige Behörde bei der Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in jedem Einzelfall eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände dieses Falls vorzunehmen. In diesem Zusammenhang muss die zuständige Behörde über alle relevanten Informationen verfügen und ihre eigene Würdigung dieser Umstände vornehmen, um den Inhalt ihrer Entscheidung zu bestimmen und diese umfassend zu begründen.

Drittens und letztens ist von der Möglichkeit des Mitgliedstaats, die in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Maßnahme zu erlassen, insbesondere unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Gebrauch zu machen, der eine Abwägung der Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, gegen die Rechte beinhaltet, die den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen. Im Rahmen dieser Würdigung muss die zuständige Behörde auch den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten Rechnung tragen und insbesondere die Möglichkeit prüfen, andere, die Flüchtlings- und Grundrechte weniger beeinträchtigende Maßnahmen zu ergreifen, die die Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats ebenso wirksam schützen.

Wenn die zuständige Behörde eine solche Maßnahme erlässt, muss sie jedoch darüber hinaus nicht prüfen, ob das öffentliche Interesse an der Rückkehr des Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland in Anbetracht des Ausmaßes und der Art der Maßnahmen, denen er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland ausgesetzt wäre, sein Interesse an der Aufrechterhaltung des internationalen Schutzes überwiegt. Die Folgen, die eine etwaige Rückkehr des Drittstaatsangehörigen in sein Herkunftsland für ihn oder für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats hätte, in dem er sich aufhält, sind nämlich nicht bei Erlass der Entscheidung, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, sondern gegebenenfalls dann zu berücksichtigen, wenn die zuständige Behörde beabsichtigt, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen.

In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 teilweise den Ausschlussgründen in Art. 33 der Genfer Konvention ( 4 ) entspricht. Soweit Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 in den darin genannten Fällen vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft aberkennen können, während Art. 33 der Genfer Konvention die Zurückweisung eines sich in einer solchen Situation befindlichen Flüchtlings in einen Staat, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind, zulässt, sieht das Unionsrecht indessen einen weiter reichenden internationalen Schutz der betreffenden Flüchtlinge vor, als er durch die Genfer Konvention gewährleistet wird. Folglich kann nach dem Unionsrecht die zuständige Behörde berechtigt sein, nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 die einem Drittstaatsangehörigen zuerkannte Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, ohne jedoch zwangsläufig die Abschiebung in sein Herkunftsland vornehmen zu dürfen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht würde eine solche Abschiebung außerdem den Erlass einer Rückkehrentscheidung unter Beachtung der in der Richtlinie 2008/115 ( 5 ) vorgesehenen materiellen und verfahrensrechtlichen Garantien voraussetzen, die u. a. in ihrem Art. 5 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, bei der Umsetzung dieser Richtlinie den Grundsatz der Nichtzurückweisung einzuhalten. Somit impliziert die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 keine Stellungnahme zu der gesonderten Frage, ob diese Person in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof ferner klar, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist.


( 1 ) Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9). Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie bestimmt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen [können], wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde“.

( 2 ) Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sieht ausdrücklich vor, dass ein Drittstaatsangehöriger von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen ist, wenn er eine schwere nicht politische Straftat außerhalb des Aufnahmelands begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, ohne in irgendeiner Weise zu verlangen, dass dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

( 3 ) Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 stellt, was die Zuerkennung subsidiären Schutzes anbelangt, der einen geringeren Schutz als die Flüchtlingseigenschaft bieten kann, in seinem Buchst. b auf die Begehung einer schweren Straftat und in seinem Buchst. d auf das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit ab, wobei diese Kriterien ausdrücklich als alternative Voraussetzungen dargestellt werden, die jeweils für sich genommen den Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes zur Folge haben.

( 4 ) Art. 33 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), in Kraft getreten am 22. April 1954 und ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Konvention), sieht vor: „1. Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. 2. Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

( 5 ) Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

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