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Document 62022CJ0184

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 29. Juli 2024.
IK und CM gegen KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Art. 157 AEUV – Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen – Richtlinie 2006/54/EG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 Abs. 1 – Verbot mittelbarer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – Teilzeitbeschäftigung – Richtlinie 97/81/EG – Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit – Paragraf 4 – Verbot, Teilzeitbeschäftigte gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten schlechter zu behandeln – Zahlung von Überstundenzuschlägen für von Teilzeitbeschäftigten geleistete Überstunden nur für die Stunden, die über die regelmäßige Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen.
Verbundene Rechtssachen C-184/22 und C-185/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:637

Verbundene Rechtssachen C‑184/22 und C‑185/22

IK

gegen

KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V.

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht)

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 29. Juli 2024

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Art. 157 AEUV – Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen – Richtlinie 2006/54/EG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 Abs. 1 – Verbot mittelbarer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – Teilzeitbeschäftigung – Richtlinie 97/81/EG – Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit – Paragraf 4 – Verbot, Teilzeitbeschäftigte gegenüber vergleichbaren Vollzeitbeschäftigten schlechter zu behandeln – Zahlung von Überstundenzuschlägen für von Teilzeitbeschäftigten geleistete Überstunden nur für die Stunden, die über die regelmäßige Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen“

  1. Sozialpolitik – EGB-UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit – Richtlinie 97/81 – Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten – Männliche und weibliche Arbeitnehmer – Zugang zur Beschäftigung und Arbeitsbedingungen – Gleichbehandlung – Richtlinie 2006/54 – Nationale Regelung, die die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für die Stunden vorsieht, die über die regelmäßige Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen – Schlechtere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten – Rechtfertigung – Fehlen

    (Art. 157 AEUV; Richtlinie 97/81 des Rates, Anhang, Paragraf 4 Nr. 1)

    (vgl. Rn. 30-38, 40, 42-45, 47, 49-53, Tenor 1)

  2. Sozialpolitik – EGB-UNICE‑CEEP-Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit – Richtlinie 97/81 – Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten – Männliche und weibliche Arbeitnehmer – Zugang zur Beschäftigung und Arbeitsbedingungen – Gleichbehandlung – Richtlinie 2006/54 – Nationale Regelung, die die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für die Stunden vorsieht, die über die regelmäßige Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten hinausgehen – Überwiegend weibliche Teilzeitbeschäftigte – Mittelbare Diskriminierung – Rechtfertigung – Fehlen

    (Art. 157 AEUV; Richtlinie 2006/54 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 Abs. 1)

    (vgl. Rn. 56-61, 63-65, 67, 70-73, Tenor 2)

Zusammenfassung

Der vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) um Vorabentscheidung ersuchte Gerichtshof konkretisiert die Voraussetzungen, unter denen die Zahlung von Überstundenzuschlägen, die für Teilzeitbeschäftigte nur für die Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit von sich in einer vergleichbaren Lage befindenden vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern hinaus gearbeitet werden, eine „schlechtere“ Behandlung und eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt.

IK (Rechtssache C‑184/22) und CM (Rechtssache C‑185/22) sind beim KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e. V., einem Anbieter von Heimdialyse, der im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland tätig ist, als Pflegekräfte in Teilzeit angestellt. Sie sind gemäß ihren jeweiligen Arbeitsverträgen mit einer Arbeitszeit von 40 % bzw. 80 % der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft beschäftigt, die nach dem für den betroffenen Bereich maßgeblichen Manteltarifvertrag 38,5 Stunden beträgt.

Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren erhoben beim Arbeitsgericht (Deutschland) Klage auf Erteilung einer Zeitgutschrift, die den ihnen für die Stunden, die sie über die in ihren Arbeitsverträgen vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistet hätten, zustehenden Zuschlägen entspricht, sowie auf Zahlung einer Entschädigung. Sie machten geltend, aufgrund ihrer Teilzeitbeschäftigung gegenüber Vollzeitbeschäftigten schlechter behandelt worden zu sein und aufgrund ihres Geschlechts mittelbar diskriminiert worden zu sein, da der Beklagte der Ausgangsverfahren überwiegend Frauen in Teilzeit beschäftige.

Nach Abweisung dieser Klagen legten IK und CM beim Landesarbeitsgericht Hessen (Deutschland) Berufung ein. Dieses verurteilte den Arbeitgeber dazu, auf den Arbeitszeitkonten der Klägerinnen Zeitgutschriften vorzunehmen. Der Antrag auf Zahlung einer Entschädigung wurde hingegen abgewiesen.

Das vorlegende Gericht, bei dem Revision eingelegt wurde, hat beschlossen, dem Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob IK und CM als Teilzeitbeschäftigte im Sinne von Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit ( 1 )„schlechter“ behandelt und aufgrund ihres Geschlechts im Sinne der Richtlinie 2006/54 ( 2 ) mittelbar diskriminiert würden.

Würdigung durch den Gerichtshof

Als Erstes stellt der Gerichtshof fest, dass eine nationale Regelung, nach der die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für die Arbeitsstunden vorgesehen ist, die über die regelmäßige Arbeitszeit von sich in einer vergleichbaren Lage befindenden vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern hinaus gearbeitet werden, eine „schlechtere“ Behandlung von Teilzeitbeschäftigten im Sinne des Paragrafen 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung darstellt.

Hierzu weist er zunächst darauf hin, dass diese Bestimmung nicht restriktiv ausgelegt werden darf und dass sie der Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung auf Teilzeitbeschäftigte dient.

Da der Umstand, dass die von den Klägerinnen der Ausgangsverfahren erbrachten Leistungen mit jenen der Vollzeitbeschäftigten vergleichbar sind, im vorliegenden Fall nicht bestritten zu werden scheint, befasst sich der Gerichtshof sodann mit der Frage, ob teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte und vollzeitbeschäftigte Pflegekräfte ungleich behandelt werden.

Hierzu ergibt sich aus den Vorabentscheidungsersuchen, dass eine teilzeitbeschäftigte Pflegekraft die gleiche Anzahl an Stunden arbeiten muss wie eine vollzeitbeschäftigte Pflegekraft, um Überstundenzuschläge zu erhalten, und zwar unabhängig von der individuell im Arbeitsvertrag dieser teilzeitbeschäftigten Pflegekraft vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit. Vollzeitbeschäftigte Pflegekräfte erhalten also ab der ersten Arbeitsstunde, die sie über ihre regelmäßige Arbeitszeit – also 38,5 Wochenarbeitsstunden – hinaus leisten, einen Überstundenzuschlag, während teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte für Arbeitsstunden, die zwar über die in ihren Arbeitsverträgen vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinausgehen, aber unter der regelmäßigen Arbeitszeit von vollzeitbeschäftigten Pflegekräften liegen, keinen Überstundenzuschlag erhalten.

Folglich werden teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte offenbar „schlechter“ behandelt als vollzeitbeschäftigte Pflegekräfte.

Schließlich gibt der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Hinweise, die dieses benötigt, um zu beurteilen, ob diese unterschiedliche Behandlung als im Sinne von Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung durch einen „sachlichen Grund“ gerechtfertigt angesehen werden kann.

Hierzu weist er darauf hin, dass der Begriff „sachlicher Grund“ verlangt, dass die festgestellte unterschiedliche Behandlung durch das Vorhandensein genau bezeichneter, konkreter Umstände gerechtfertigt ist, die die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien kennzeichnen, um sichergehen zu können, dass die unterschiedliche Behandlung einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist.

Was die Frage betrifft, ob das Ziel, den Arbeitgeber davon abzuhalten, für Arbeitnehmer Überstunden anzuordnen, die über ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen, einen „sachlichen Grund“ im Sinne von Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung darstellen kann, so kann das Festlegen einer für Teilzeitbeschäftigte und Vollzeitbeschäftigte einheitlich geltenden Untergrenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags in Bezug auf Teilzeitbeschäftigte nicht zur Erreichung dieses Ziels führen.

Was das Ziel betrifft, eine schlechtere Behandlung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten zu verhindern, so würden Vollzeitbeschäftigte in Bezug auf Überstunden zudem gleich behandelt wie Teilzeitbeschäftigte, vorbehaltlich der Anwendung des Pro‑rata-temporis-Grundsatzes. Dieses zweite Ziel ist also ebenfalls nicht geeignet, die unterschiedliche Behandlung von Teilzeitbeschäftigten und Vollzeitbeschäftigten zu rechtfertigen.

Als Zweites kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die in Rede stehende nationale Regelung auch eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 157 AEUV sowie von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 darstellt.

Obwohl es sich im vorliegenden Fall um eine dem Anschein nach neutrale Maßnahme handelt, ergibt sich nämlich aus den Vorabentscheidungsersuchen, dass diese Maßnahme einen signifikant höheren Anteil von Personen weiblichen Geschlechts als Personen männlichen Geschlechts benachteiligt, und zwar ohne dass die Gruppe der durch diese Regelung nicht benachteiligten Arbeitnehmer – die Vollzeitbeschäftigten – gleichzeitig aus erheblich mehr Männern als Frauen bestehen muss. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, inwieweit die ihm vorliegenden Daten über die Situation bei den Arbeitskräften aussagekräftig sind und ob es sie berücksichtigen kann. Das nationale Gericht muss alle relevanten qualitativen Elemente prüfen, um festzustellen, ob eine solche Benachteiligung vorliegt. Es hat dabei sämtliche Arbeitnehmer zu berücksichtigen, die der nationalen Regelung unterliegen, auf der die betreffende Ungleichbehandlung beruht.

Im Übrigen kann diese mittelbare Diskriminierung ebenso wenig wie eine „schlechtere“ Behandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten und aus den gleichen Gründen nicht dadurch gerechtfertigt werden, dass auf der einen Seite das Ziel verfolgt wird, den Arbeitgeber davon abzuhalten, für Arbeitnehmer Überstunden anzuordnen, die über die individuell in ihren Arbeitsverträgen vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen, und auf der anderen Seite das Ziel, zu verhindern, dass Vollzeitbeschäftigte gegenüber Teilzeitbeschäftigten schlechter behandelt werden.


( 1 ) Am 6. Juni 1997 geschlossene Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (im Folgenden: Rahmenvereinbarung), die im Anhang der Richtlinie 97/81/EG des Rates vom 15. Dezember 1997 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit (ABl. 1998, L 14, S. 9) enthalten ist.

( 2 ) Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23).

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