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Document 62022CJ0167

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 21. Dezember 2023.
Europäische Kommission gegen Königreich Dänemark.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Grenzüberschreitender Güterkraftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 – Art. 8 und 9 – Verordnung (EG) Nr. 561/2006 – Ruhezeiten – Nationale Regelung, die die Höchstparkdauer auf öffentlichen Autobahnrastplätzen eines Mitgliedstaats auf 25 Stunden festlegt – Hindernis für den freien Verkehr von Beförderungsdienstleistungen im Straßenverkehr – Beweislast.
Rechtssache C-167/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:1020

Rechtssache C‑167/22

Europäische Kommission

gegen

Königreich Dänemark

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 21. Dezember 2023

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Grenzüberschreitender Güterkraftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 – Art. 8 und 9 – Verordnung (EG) Nr. 561/2006 – Ruhezeiten – Nationale Regelung, die die Höchstparkdauer auf öffentlichen Autobahnrastplätzen eines Mitgliedstaats auf 25 Stunden festlegt – Hindernis für den freien Verkehr von Beförderungsdienstleistungen im Straßenverkehr – Beweislast“

  1. Freier Dienstleistungsverkehr – Bestimmungen des Vertrags – Anwendungsbereich – Verkehrsdienstleistungen im Sinne von Art. 58 Abs. 1 AEUV – Rechtsakt der Union, der den in Art. 56 AEUV verankerten Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs für auf einen Verkehrssektor anwendbar erklärt hat – Bedeutung

    (Art. 56 und Art. 58 Abs. 1 AEUV; Verordnung Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 2 und 4, Art. 1 Abs. 1 und 4 sowie Art. 2 Nr. 6)

    (vgl. Rn. 39-42)

  2. Vertragsverletzungsklage – Nachweis der Vertragsverletzung – Obliegenheit der Kommission – Vortrag von Tatsachen, die die Vertragsverletzung erkennen lassen – Vermutungen – Unzulässigkeit – Nationale Regelung, die die Höchstparkdauer auf öffentlichen Autobahnrastplätzen des betreffenden Mitgliedstaats auf 25 Stunden festlegt – Einhaltung der in der Verordnung Nr. 561/2006 vorgesehenen Ruhezeiten – Klage auf Feststellung eines Hindernisses für den freien Verkehr von Beförderungsdienstleistungen im Straßenverkehr im Sinne der Verordnung Nr. 1072/2009 – Auf Vermutungen gestützte Klage – Fehlen eines Nachweises – Abweisung der Klage

    (Art. 258 AEUV; Verordnung Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 4, 6 und 8, sowie Verordnung Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 8 und 9)

    (vgl. Rn. 43-57)

Zusammenfassung

Die Verordnung Nr. 1072/2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs ( 1 ) zielt auf die Schaffung einer gemeinsamen Verkehrspolitik ab, was die Beseitigung aller Beschränkungen erfordert, die mit der Staatsangehörigkeit des Erbringers der einschlägigen Verkehrsdienstleistungen oder damit zusammenhängen, dass dieser in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist als dem, in dem die Dienstleistungen erbracht werden sollen.

Am 1. Juli 2018 führte das Königreich Dänemark eine Regel ein, die die Höchstparkdauer auf öffentlichen Autobahnrastplätzen auf 25 Stunden festlegt (im Folgenden: 25‑Stunden-Regel) ( 2 ).

Nachdem die Europäische Kommission das Königreich Dänemark um Auskunft ersucht hatte, leitete sie ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV ein, weil das Königreich Dänemark gegen die Verpflichtung verstoßen habe, den durch die Verordnung Nr. 1072/2009 garantierten freien Verkehr von Beförderungsdienstleistungen zu gewährleisten. Die Europäische Kommission machte im Wesentlichen geltend, dass die 25‑Stunden-Regel zwar keine unmittelbare Diskriminierung bewirke, jedoch eine Beschränkung des freien Verkehrs von Beförderungsdienstleistungen darstelle, da sie in Dänemark niedergelassene und gebietsfremde Verkehrsunternehmer nicht gleichermaßen betreffe. Das Königreich Dänemark bestritt jeglichen derartigen Verstoß und übermittelte die von der Kommission angeforderten zusätzlichen Informationen. Da die Kommission diese Antwort nicht für überzeugend hielt, richtete sie an diesen Mitgliedstaat eine mit Gründen versehene Stellungnahme, auf die dieser antwortete, dass er an seinem Standpunkt festhalte, wonach die 25‑Stunden-Regel mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Da die Kommission von den von der dänischen Regierung vorgebrachten Argumenten immer noch nicht überzeugt war, erhob sie beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage auf Feststellung, dass das Königreich Dänemark dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Bestimmungen über den freien Verkehr von Beförderungsdienstleistungen in den Art. 1, 8 und 9 der Verordnung Nr. 1072/2009 verstoßen hat, dass es die 25‑Stunden-Regel eingeführt hat. Der Kommission zufolge betrifft diese Regel nämlich gebietsfremde Verkehrsunternehmen stärker und ist das sich daraus ergebende Hindernis für den freien Dienstleistungsverkehr durch keinen der vom Königreich Dänemark geltend gemachten zwingenden Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt.

Mit seinem Urteil weist der Gerichtshof die Klage der Kommission ab. Er weist in Anbetracht seiner ständigen Rechtsprechung darauf hin, dass im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage die Beweislast für das Vorliegen einer solchen Vertragsverletzung der Kommission obliegt, ohne dass sie sich hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann. Einen rechtlich hinreichenden Nachweis für ihr Vorbringen hat die Kommission im vorliegenden Fall dem Gerichtshof zufolge aber nicht erbracht.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof weist die vom Königreich Dänemark erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurück und prüft daraufhin die Begründetheit. Insoweit weist er zunächst darauf hin, dass Dienstleistungen, die als „Verkehrsdienstleistungen“ einzustufen sind, unter die Spezialvorschrift des Art. 58 Abs. 1 AEUV fallen, was sie vom Anwendungsbereich des Art. 56 AEUV, der den freien Dienstleistungsverkehr im Allgemeinen betrifft, ausschließt ( 3 ). Dies schließt nicht aus, dass ein auf der Grundlage der verkehrsbezogenen Bestimmungen der Verträge ( 4 ) erlassener Rechtsakt der Union in dem darin festgelegten Umfang den in Art. 56 AEUV verankerten Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs für auf einen Verkehrssektor anwendbar erklärt.

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass die Verordnung Nr. 1072/2009 für den grenzüberschreitenden gewerblichen Güterkraftverkehr auf den im Gebiet der Union zurückgelegten Wegstrecken sowie für die Kabotage, d. h. den innerstaatlichen Güterkraftverkehr, der von einem gebietsfremden Verkehrsunternehmer zeitweilig durchgeführt wird, gilt ( 5 ). Insoweit stellt Art. 9 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1072/2009 u. a. klar, dass die in Abs. 1 dieses Artikels genannten innerstaatlichen Vorschriften auf gebietsfremde Verkehrsunternehmer in derselben Weise angewandt werden wie auf im Aufnahmemitgliedstaat ansässige Verkehrsunternehmern, damit jede Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Niederlassungsorts ausgeschlossen wird.

Sodann weist der Gerichtshof zum Vorbringen des Königreichs Dänemark, dass die Zuständigkeit für die Festlegung von Vorschriften über die Parkdauer auf öffentlichen Rastplätzen bei den Mitgliedstaaten liege, darauf hin, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung ihre Zuständigkeit unter Wahrung des Unionsrechts und damit im vorliegenden Fall der einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1072/2009 ausüben müssen. In diesem Zusammenhang müssen die Mitgliedstaaten außerdem die Vorschriften über Lenkzeiten, Fahrtunterbrechungen und Ruhezeiten berücksichtigen, die gemäß der Verordnung Nr. 561/2006 ( 6 ) von Fahrern, die im Güterverkehr mit Fahrzeugen mit einer zulässigen Höchstmasse von mehr als 3,5 t (im Folgenden: betreffende Fahrzeuge) tätig sind, einzuhalten sind ( 7 ). Ob diese Ruhezeiten eingehalten werden, kann mitunter davon anhängen, wie viele Autobahnrastplätze verfügbar sind. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass eine Regelung wie die 25‑Stunden-Regel naturgemäß zur Folge hat, dass diese Rastplätze für die verschiedenen nach der Verordnung Nr. 561/2006 vorgesehenen Ruhezeiten ( 8 ) nicht zur Verfügung stehen. Dies bedeutet, dass eine solche Regelung an sich konkrete Auswirkungen auf die Ausübung der Verkehrsrechte, insbesondere der Kabotagerechte, durch gebietsfremde Verkehrsunternehmer haben kann und diese stärker betreffen kann als in Dänemark ansässige Verkehrsunternehmer.

Insoweit weist der Gerichtshof jedoch darauf hin, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen und dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte zu liefern, die es diesem ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sich die Kommission hierfür auf irgendeine Vermutung stützen kann. Im vorliegenden Fall hat das Königreich Dänemark im Rahmen des Vorverfahrens und in seiner Klagebeantwortung Daten zur Anzahl der für die betreffenden Fahrzeuge verfügbaren Parkplätze, insbesondere der Parkplätze privater Anbieter, vorgelegt und diese Daten in der mündlichen Verhandlung näher erläutert. In ihrer Klageschrift hat sich die Kommission jedoch auf das Vorbringen beschränkt, dass das dänische Autobahnnetz keine ausreichenden alternativen Parkkapazitäten habe. In ihrer Erwiderung hat sie sich im Übrigen auf den Hinweis beschränkt, dass die vom Königreich Dänemark in seiner Klagebeantwortung vorgelegten Daten ihre Anträge im vorliegenden Fall nicht änderten.

Dagegen hat die Kommission keine objektiven Daten vorgelegt, die belegen würden, dass die alternativen Parkkapazitäten nicht ausreichten, um Ruhezeiten von mehr als 25 Stunden einzuhalten. Ohne solche Daten und sofern man sich nicht auf bloße Vermutungen stützen möchte, lässt sich aber nicht die Feststellung treffen, dass die 25‑Stunden-Regel tatsächlich geeignet ist, die Kabotagetätigkeiten von gebietsfremden Dienstleistern zum Nachteil der in Dänemark ansässigen Dienstleister zu behindern. Somit lassen das bloße Bestehen von Kapazitätsproblemen auf den öffentlichen Rastplätzen des dänischen Autobahnnetzes und die vom Königreich Dänemark getroffene Feststellung der zu bewältigenden Herausforderungen hinsichtlich der Parkkapazität, die einer der Hauptgründe für die Einführung der 25‑Stunden-Regel war, nicht den Schluss zu, dass diese Regel gegen die Verordnung Nr. 1072/2009 verstoße. Dasselbe gilt für den Umstand, dass die Parkkapazitäten privater Anbieter niedriger sind als die öffentlicher Rastplätze, da das Parken dieser Fahrzeuge innerhalb dieser zeitlichen Grenze von 25 Stunden auf den öffentlichen Rastplätzen erlaubt bleibt.

Schließlich hat die Kommission im vorliegenden Fall auch nicht objektiv nachgewiesen, dass die geografische Lage alternativer Plätze privater Anbieter und ihre Verteilung auf das Gebiet oder auch die Entgeltlichkeit einiger dieser Plätze geeignet wären, die Beförderungstätigkeiten zum Nachteil gebietsfremder Dienstleister zu behindern, sondern sich insoweit darauf beschränkt, sich auf Vermutungen zu stützen.

Daher stellt der Gerichtshof fest, dass die Kommission keinen rechtlich hinreichenden Nachweis für ihr Vorbringen erbracht hat, wonach die 25‑Stunden-Regel ein Hindernis für den freien Verkehr von Beförderungsdienstleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 1072/2009 darstelle. Folglich weist er die Vertragsverletzungsklage der Kommission ab.


( 1 ) Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs (ABl. 2009, L 300, S. 72).

( 2 ) Diese Regelung wurde von der Verkehrsbehörde gemäß § 92 Abs. 1 des Færdselslov (dänisches Straßenverkehrsgesetz) umgesetzt.

( 3 ) Urteile vom 20. Dezember 2017, Asociación Profesional Elite Taxi (C‑434/15, EU:C:2017:981, Rn. 44), und vom 8. Dezember 2020, Polen/Parlament und Rat (C‑626/18, EU:C:2020:1000, Rn. 145).

( 4 ) Das sind die Bestimmungen des Titels VI des Dritten Teils des AEU-Vertrags, der die Art. 90 bis 100 AEUV umfasst.

( 5 ) Gemäß Art. 1 Abs. 1 und 4 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 6 der Verordnung Nr. 1072/2009.

( 6 ) Verordnung (EG) Nr. 561/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 zur Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 3821/85 und (EG) Nr. 2135/98 des Rates sowie zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates (ABl. 2006, L 102, S. 1).

( 7 ) Auf diese Vorschriften wird im 13. Erwägungsgrund und in Art. 9 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 1072/2009 ausdrücklich Bezug genommen.

( 8 ) Regelmäßige wöchentliche Ruhezeiten (von mindestens 45 Stunden) und reduzierte wöchentliche Ruhezeiten (von weniger als 45 Stunden, die unter den in Art. 8 Abs. 6 der Verordnung Nr. 561/2006 vorgesehenen Bedingungen auf eine Mindestzeit von 24 aufeinander folgenden Stunden reduziert werden können), mit Ausnahme der reduzierten wöchentlichen Ruhezeiten von 24 bis 25 Stunden.

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