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Document 62021CJ0689

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. September 2023.
    X gegen Udlændinge- og Integrationsministeriet.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen Fehlens einer echten Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn vor diesem Geburtstag kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust des Unionsbürgerstatus – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht – Ausschlussfrist.
    Rechtssache C-689/21.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:626

    Rechtssache C‑689/21

    X

    gegen

    Udlændinge- og Integrationsministeriet

    (Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret)

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. September 2023

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen Fehlens einer echten Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn vor diesem Geburtstag kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust des Unionsbürgerstatus – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht – Ausschlussfrist“

    1. Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Persönlicher Geltungsbereich – Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes verloren hat – Einbeziehung

      (Art. 20 AEUV)

      (vgl. Rn. 30)

    2. Unionsbürgerschaft – Bestimmungen des Vertrags – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit wegen Fehlens einer echten Bindung zu diesem Mitgliedstaat – Verlust, der mit Erreichen eines bestimmten Alters eintritt, wenn nicht zuvor ein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust der Unionsbürgerschaft – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Möglichkeit für die nationalen Behörden und Gerichte, die Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts zu prüfen und die Staatsangehörigkeit der betroffenen Person rückwirkend wiederherzustellen – Einhaltung einer angemessenen Frist, um die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen – Frist, die mit der Unterrichtung der betroffenen Person beginnt

      (Art. 20 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7)

      (vgl. Rn. 35, 40, 41, 43, 48, 50-52, 56, 57, 59 und Tenor)

    Zusammenfassung

    X, die in den Vereinigten Staaten von Amerika als Kind einer dänischen Mutter und eines amerikanischen Vaters geboren wurde, besaß seit ihrer Geburt die dänische und die amerikanische Staatsangehörigkeit. Nach Vollendung des 22. Lebensjahrs beantragte sie beim Udlændinge- og Integrationsministerium (Ministerium für Ausländer und Integration, Dänemark), ihre dänische Staatsangehörigkeit behalten zu dürfen.

    Mit Bescheid vom 31. Januar 2017 teilte das Ministerium für Ausländer und Integration X mit, dass sie mit Vollendung des 22. Lebensjahrs die dänische Staatsangehörigkeit verloren habe und dass die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nicht gewährt werden könne, da sie ihren Antrag nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt habe. Wird ein solcher Antrag nämlich nicht vor diesem Zeitpunkt gestellt, verlieren dänische Staatsangehörige, die im Ausland geboren wurden und nie in Dänemark gewohnt haben und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die eine Bindung zu diesem Mitgliedstaat belegen, nach der dänischen Regelung kraft Gesetzes ihre Staatsangehörigkeit. X hat daher ihre dänische Staatsangehörigkeit und damit auch ihre Unionsbürgerschaft verloren, ohne dass die dänischen Behörden geprüft hätten, ob die Folgen dieses Verlusts für sie aus unionsrechtlicher Sicht verhältnismäßig sind.

    Am 9. Februar 2018 erhob X bei den dänischen Gerichten Klage auf Aufhebung des Bescheids. In diesem Zusammenhang stellt sich dem vorlegenden Gericht, dem Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark) die Frage, ob eine nationale Regelung wie die dänische Regelung über die Staatsangehörigkeit mit Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist.

    Der Gerichtshof (Große Kammer) entscheidet, dass eine solche nationale Regelung dann mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn die betroffene Person die Möglichkeit hat, innerhalb einer angemessenen Frist einen Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu stellen, der eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht und gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit ermöglicht. Diese Frist kann erst dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden die betroffene Person ordnungsgemäß vom Verlust oder unmittelbar drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass das Unionsrecht es einem Mitgliedstaat weder verbietet, im Rahmen der Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit vorzusehen, dass bei der Prüfung der Frage, ob eine echte Bindung zu ihm besteht, Kriterien wie der Geburts- und Wohnort der betroffenen Person und die Umstände ihres Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat berücksichtigt werden, noch diese Prüfung auf einen Zeitraum zu begrenzen, der mit dem 22. Geburtstag dieser Person endet.

    Der Gerichtshof weist allerdings darauf hin, dass die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in dem Fall, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats mit Erreichen eines bestimmten Alters kraft Gesetzes erfolgt und zum Verlust des Unionsbürgerstatus samt der damit verbundenen Rechte führt, in der Lage sein müssen, die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen und der betroffenen Person gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu ermöglichen.

    Was insbesondere die Frist für die Stellung eines Antrags auf eine solche Prüfung im Hinblick auf die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit betrifft, ist es, da das Unionsrecht insoweit keine bestimmte Frist vorsieht, Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Dabei muss aber u. a. der Effektivitätsgrundsatz gewahrt werden, und zwar insoweit, als diese Modalitäten die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen. So können die Mitgliedstaaten gestützt auf den Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, dass ein solcher Antrag bei den zuständigen Behörden innerhalb einer angemessenen Frist gestellt wird.

    In Anbetracht der schwerwiegenden Folgen, die sich aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, mit dem der Verlust des Unionsbürgerstatus verbunden ist, für die wirksame Ausübung der dem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehenden Rechte ergeben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass nationale Vorschriften oder Praktiken, die bewirken können, dass die betroffene Person daran gehindert wird, zu beantragen, dass die Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht geprüft wird, mit dem Grundsatz der Effektivität im Einklang stehen. Wurde diese Person nicht ordnungsgemäß über das Recht, eine solche Prüfung zu beantragen, und die für die Stellung des Antrags geltende Frist unterrichtet, kann ihr Antrag nicht wegen Fristablaufs abgelehnt werden.

    Da sich im vorliegenden Fall eine betroffene Person wie X im Rahmen der von der zuständigen Behörde vorzunehmenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht auf alle relevanten Gesichtspunkte berufen können muss, die bis zur Vollendung ihres 22. Lebensjahrs auftreten konnten, muss die Frist dem Gerichtshof zufolge einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag dieser Person umfassen. Diese angemessene Frist kann außerdem nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden die betroffene Person ordnungsgemäß vom Verlust oder unmittelbar drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben. Andernfalls müssen die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit inzident zu prüfen, wenn die betroffene Person ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt.

    Der bei einer solchen Prüfung zu berücksichtigende Zeitpunkt ist zwangsläufig der Tag, an dem die betroffene Person das 22. Lebensjahr vollendet, da dieser Zeitpunkt zu den von dem Mitgliedstaat festgelegten legitimen Kriterien gehört, von denen die Beibehaltung bzw. der Verlust der Staatsangehörigkeit abhängt.

    Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass die fehlende Möglichkeit nach nationalem Recht, unter mit dem Unionsrecht im Einklang stehenden Voraussetzungen bei den nationalen Behörden und eventuell den nationalen Gerichten eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats aus unionsrechtlicher Sicht zu erwirken, die gegebenenfalls zu einer rückwirkenden Wiedererlangung dieser Staatsangehörigkeit führen kann, nicht durch die Möglichkeit der Einbürgerung ausgeglichen werden kann, und zwar unabhängig von den – möglicherweise erleichterten – Voraussetzungen, unter denen diese Einbürgerung erlangt werden kann.

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