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Document 62021CJ0568

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 21. September 2023.
    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen E. und S.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat – Art. 2 Buchst. l – Begriff ‚Aufenthaltstitel‘ – Von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellter Diplomatenausweis – Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen.
    Rechtssache C-568/21.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:683

    Rechtssache C‑568/21

    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

    gegen

    E.,

    S.

    (Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 21. September 2023

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat – Art. 2 Buchst. l – Begriff ‚Aufenthaltstitel‘ – Von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellter Diplomatenausweis – Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen“

    Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Verordnung Nr. 604/2013 – Begriff ‚Aufenthaltstitel‘ – Gemäß dem Wiener Übereinkommen von 1961 über diplomatische Beziehungen ausgestellter Diplomatenausweis – Einbeziehung

    (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 4 und 5 sowie Art. 2 Buchst. l und Art. 12 bis 14)

    (vgl. Rn. 35-37, 44-48, 53 und Tenor)

    Zusammenfassung

    Ein Drittstaatsangehöriger arbeitete im Mitgliedstaat X in der Botschaft seines Herkunftslandes. Er wohnte mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern im Mitgliedstaat X. Während dieses Aufenthalts wurden der Familie vom Außenministerium dieses Mitgliedstaats Diplomatenausweise im Sinne des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen ( 1 ) ausgestellt. Einige Jahre später verließ die Familie den Mitgliedstaat X und beantragte internationalen Schutz in den Niederlanden.

    Im Januar 2020 lehnte die zuständige Behörde in den Niederlanden die Prüfung der von den Klägern des Ausgangsverfahrens gestellten Anträge auf internationalen Schutz ab, weil gemäß Art. 12 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ( 2 ) der Mitgliedstaat X für die Prüfung dieser Anträge zuständig sei. Bei den von den Behörden dieses Mitgliedstaats ausgestellten Diplomatenausweisen handele es sich nämlich um Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l dieser Verordnung, wodurch der Mitgliedstaat für die Prüfung der Anträge zuständig werden könne.

    Im März 2020 gab die von den Klägern des Ausgangsverfahrens angerufene Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) deren Klagen statt und stellte fest, dass die von den Behörden des Mitgliedstaats X ausgestellten Diplomatenausweise nicht als Aufenthaltstitel anzusehen seien, da die Kläger des Ausgangsverfahrens unabhängig von der Ausstellung von Diplomatenausweisen bereits aufgrund des Wiener Übereinkommens ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat hätten.

    Die zuständige Behörde in den Niederlanden legte gegen das Urteil Rechtsmittel beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein. Zur Bestimmung des für die Prüfung der von den Klägern des Ausgangsverfahrens gestellten Anträge auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats hat dieses Gericht dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob ein von einem Mitgliedstaat gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellter Diplomatenausweis einen „Aufenthaltstitel“ im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung darstellt. Mit seinem Urteil bejaht der Gerichtshof diese Frage.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Zur Begründung dieses Ergebnisses führt der Gerichtshof erstens aus, dass die in Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung verwendete Formulierung „jede … Erlaubnis“ weit gefasst ist. Die in dieser Bestimmung enthaltene Definition des Begriffs „Aufenthaltstitel“ nimmt weder auf einen konstitutiven oder deklaratorischen Charakter der Erlaubnis Bezug noch schließt sie gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellte Diplomatenausweise ausdrücklich aus.

    Zweitens weist der Gerichtshof zum Zusammenhang, in dem diese Bestimmung steht, darauf hin, dass der Begriff „Aufenthaltstitel“ ein entscheidendes Kriterium für die Anwendung von Art. 12 der Dublin‑III-Verordnung ist. Gemäß Art. 12 Abs. 1 dieser Verordnung ist, wenn der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt, der Mitgliedstaat, der diesen ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Anwendung der verschiedenen in den Art. 12 bis 14 dieser Verordnung aufgestellten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats soll es im Allgemeinen ermöglichen, dem Mitgliedstaat, der die Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder dessen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu verantworten hat, die Zuständigkeit für die Prüfung eines von diesem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuzuweisen, und zwar unter Berücksichtigung der Rolle des Mitgliedstaats dabei, dass sich der Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet. Der Gerichtshof führt insoweit aus, dass im Rahmen des Wiener Übereinkommens dem Empfangsstaat in Bezug auf die Zulassung der Einreise von Personen als Mitglieder des diplomatischen Personals einer Mission bestimmte Vorrechte zuerkannt werden – er kann etwa eine Person als non grata oder als nicht genehm erklären, es ablehnen, die betreffende Person als Mitglied der Mission anzuerkennen ( 3 ), oder auch einer als Missionschef vorgesehenen Person das Agrément verweigern ( 4 ). Unter diesen Umständen bringt die Ausstellung eines Diplomatenausweises an eine Person durch einen Mitgliedstaat zum Ausdruck, dass er den Aufenthalt dieser Person in seinem Hoheitsgebiet als Mitglied des diplomatischen Personals einer Mission akzeptiert, und zeigt so die Rolle, die der Mitgliedstaat dabei spielt, dass sich die betreffende Person im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet.

    Was drittens den mit der Dublin III-Verordnung verfolgten Zweck angeht, betonen deren Erwägungsgründe 4 und 5 die Bedeutung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basiert und eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglicht. Die Berücksichtigung der Ausstellung eines Diplomatenausweises trägt zu diesem Ziel einer zügigen Bearbeitung bei, wodurch sich vermeiden lässt, dass Drittstaatsangehörige den Mitgliedstaat wählen können, in dem sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellen.


    ( 1 ) Am 18. April 1961 in Wien geschlossenes und am 24. April 1964 in Kraft getretenes Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (United Nations Treaty Series, Bd. 500, S. 95, im Folgenden: Wiener Übereinkommen).

    ( 2 ) Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung). Art. 12 Abs. 1 dieser Verordnung lautet: „Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“

    ( 3 ) Vgl. Art. 9 des Wiener Übereinkommens.

    ( 4 ) Vgl. Art. 4 des Wiener Übereinkommens.

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