This document is an excerpt from the EUR-Lex website
Document 62021CJ0402
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. Februar 2023.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. gegen S und Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 6 und 7 – Türkische Staatsangehörige, die bereits in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats integriert sind und über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfügen – Entscheidungen der nationalen Behörden, mit denen türkischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, das Aufenthaltsrecht entzogen wird, weil sie eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen – Art. 13 – Stillhalteklausel – Art. 14 – Rechtfertigung – Gründe der öffentlichen Ordnung.
Rechtssache C-402/21.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. Februar 2023.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. gegen S und Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 6 und 7 – Türkische Staatsangehörige, die bereits in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats integriert sind und über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfügen – Entscheidungen der nationalen Behörden, mit denen türkischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, das Aufenthaltsrecht entzogen wird, weil sie eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen – Art. 13 – Stillhalteklausel – Art. 14 – Rechtfertigung – Gründe der öffentlichen Ordnung.
Rechtssache C-402/21.
Court reports – general
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:77
Rechtssache C‑402/21
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a.
gegen
S
und
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State)
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. Februar 2023
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 6 und 7 – Türkische Staatsangehörige, die bereits in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats integriert sind und über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfügen – Entscheidungen der nationalen Behörden, mit denen türkischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, das Aufenthaltsrecht entzogen wird, weil sie eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen – Art. 13 – Stillhalteklausel – Art. 14 – Rechtfertigung – Gründe der öffentlichen Ordnung“
Internationale Übereinkünfte – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Stillhalteklausel gemäß Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates – Anwendungsbereich – Türkische Staatsangehörige mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses – Einbeziehung
(Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei, Art. 6, Art. 7 und Art. 13)
(vgl. Rn. 53-56, 58-60, Tenor 1)
Internationale Übereinkünfte – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind – Umfang – Nationale Regelung, die den Entzug des Aufenthaltsrechts türkischer Staatsangehöriger gestattet, die eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Interesse der Gesellschaft darstellen – Rechtfertigung – Voraussetzungen – Verhältnismäßigkeit – Vorherige und individuelle Prüfung der gegenwärtigen Situation dieser Staatsangehörigen
(Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei, Art. 6, Art. 7, Art. 13 und Art. 14 Abs. 1; Richtlinie 2003/109 des Rates, Art. 12)
(vgl. Rn. 66, 68-73, 75, 77, Tenor 2)
Zusammenfassung
In den Niederlanden kann einem Ausländer die unbefristete Aufenthaltserlaubnis u. a. entzogen werden, wenn er wegen Straftaten verurteilt worden ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht sind, und die Gesamtdauer der verhängten Strafen einen bestimmten Schwellenwert erreicht. Bis 2012 war ein Entzug jedoch untersagt, wenn sich der Staatsangehörige seit mindestens 20 Jahren rechtmäßig in den Niederlanden aufhielt. Dieses Verbot wurde durch eine im Juli 2012 erfolgte Gesetzesänderung aufgehoben, die mit geänderten Anschauungen innerhalb der niederländischen Gesellschaft betreffend den Schutz der öffentlichen Ordnung begründet wurde. ( 1 )
In Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften wurden S, E und C, drei türkischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in den Niederlanden aufhalten, durch Entscheidungen des Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) ihre unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse entzogen. Der Entzug wurde damit begründet, dass sie im Lauf ihres Aufenthalts mehrfach strafrechtlich verurteilt worden seien, wobei die Schwere der Straftaten und die Gesamtdauer der unbedingten Freiheitsstrafen den erforderlichen Schwellenwert erreichten, und dass dieses Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstelle.
Die von S, E und C gegen diese Entscheidungen bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) erhobenen Klagen führten zu unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf die Anwendbarkeit von Art. 13 des seit dem 1. Dezember 1980 anwendbaren Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates ( 2 ) im vorliegenden Fall. Diese Bestimmung enthält eine Stillhalteklausel, die den Mitgliedstaaten die Einführung neuer Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen untersagt, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind. Nach Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 kann die Anwendung der Bestimmungen dieses Beschlusses betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer jedoch Beschränkungen unterworfen werden, die u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sind.
Der mit den Berufungen im Rahmen dieser Klagen befasste Raad van State (Staatsrat, Niederlande) hat beschlossen, den Gerichtshof zum Geltungsbereich der Art. 13 und 14 des Beschlusses Nr. 1/80 und deren Verhältnis zueinander zu befragen.
Der Gerichtshof bestätigt in seinem Urteil, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 für türkische Staatsangehörige gilt, die bereits Rechte in Bezug auf Beschäftigung und Freizügigkeit nach diesem Beschluss besitzen. Außerdem stellt er klar, unter welchen Voraussetzungen eine neue Beschränkung dieser Rechte, gegen die türkische Staatsangehörige Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 einwenden können, durch Anforderungen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 14 dieses Beschlusses gerechtfertigt werden kann.
Würdigung durch den Gerichtshof
Als Erstes prüft der Gerichtshof die Tragweite der in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 enthaltenen Stillhalteklausel. Er weist auf seine Rechtsprechung hin, wonach diese Klausel unmittelbare Wirkung hat und im Hinblick auf das Ziel des Beschlusses Nr. 1/80, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen, weit auszulegen ist. Sowohl eine neue Beschränkung, die die Bedingungen für den erstmaligen Zugang zur Erwerbstätigkeit eines türkischen Arbeitnehmers oder seiner Familienangehörigen verschärft, als auch eine Beschränkung, die, wenn dieser Arbeitnehmer oder seine Familienangehörigen bereits Rechte in Bezug auf Beschäftigung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 ( 3 ) genießen, seinen Zugang zu einer durch diese Rechte garantierten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschränkt, verstoßen nämlich gegen das Ziel des Beschlusses.
Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen die Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Lage der türkischen Staatsangehörigen festgelegt werden sollen, indem u. a. die Voraussetzungen für den Aufenthalt dieser Staatsangehörigen im Gebiet dieses Staates erlassen oder geändert werden, neue Beschränkungen im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellen können.
Folglich schränken nationale Rechtsvorschriften, die den Entzug der Aufenthaltsrechte der Betroffenen aus Art. 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 gestatten, deren Recht auf Freizügigkeit gegenüber demjenigen ein, über das sie bei Inkrafttreten dieses Beschlusses verfügten, und stellen daher eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses dar. Art. 13 kann daher von den betroffenen türkischen Staatsangehörigen geltend gemacht werden.
Als Zweites befasst sich der Gerichtshof mit dem Verhältnis zwischen Art. 13 und Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80. Er führt aus, dass die in Art. 14 wegen Anforderungen der öffentlichen Ordnung vorgesehene Ausnahme vom Verbot, „neue Beschränkungen“ zu erlassen, von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer abweicht und daher eng auszulegen ist. Außerdem müssen in Verfolgung dieser Anforderungen erlassene nationale Maßnahmen geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und dürfen nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehen.
In Bezug auf türkische Staatsangehörige, die sich wie S, E und C seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, verweist der Gerichtshof im Übrigen für die Anwendung von Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 auf Art. 12 der Richtlinie 2003/109 ( 4 ) betreffend den Schutz langfristig Aufenthaltsberechtigter. Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind und solche Aufenthaltsberechtigte betreffen, setzen nämlich voraus, dass die nationalen Behörden unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Grundrechte des Betroffenen im Einzelfall prüfen, ob dessen individuelles Verhalten eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt.
Daher geht der Gerichtshof davon aus, dass die in Rede stehende gesetzliche Maßnahme in den in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gewährten Wertungsspielraum der niederländischen Behörden fällt. Allerdings reichen der Verweis auf die geänderten gesellschaftlichen Anschauungen und die auf die öffentliche Ordnung gestützte Rechtfertigung allein nicht aus, um diese Maßnahme zu rechtfertigen. Es ist zudem Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung der durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehenen Rechte zu beurteilen, ob die nationale Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, ob sie nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht und ob sie eine vorherige und individuelle Prüfung der gegenwärtigen Situation des betroffenen türkischen Arbeitnehmers vorsieht.
( 1 ) Besluit houdende wijziging van het Vreemdelingenbesluit 2000 in verband met aanscherping van de glijdende schaal (Beschluss zur Änderung der Ausländerverordnung im Zusammenhang mit einer Verschärfung der gleitenden Skala) vom 26. März 2012 (Stb. 2012, Nr. 158).
( 2 ) Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei.
( 3 ) Die Art. 6 und 7 des Beschlusses Nr. 1/80 regeln die Rechte der türkischen Arbeitnehmer bzw. ihrer Familienangehörigen, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihnen zu ziehen, in Bezug auf Beschäftigung.
( 4 ) Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).