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Document 62020TJ0275

Urteil des Gerichts (Siebte erweiterte Kammer) vom 23. November 2022.
Westfälische Drahtindustrie GmbH u. a. gegen Europäische Kommission.
Nichtigkeits- und Schadensersatzklage – Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Aussetzung der Verpflichtung zur Stellung einer Bankbürgschaft – Vorläufige Zahlungen in Raten – Urteil, mit dem der Beschluss teilweise für nichtig erklärt wird und eine Geldbuße in Höhe der ursprünglich verhängten Geldbuße festgesetzt wird – Anrechnung der vorläufigen Zahlungen – Verzugszinsen – Art. 266 Abs. 1 AEUV – Ungerechtfertigte Bereicherung – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Rückforderung zu viel gezahlter Beträge – Fehlen einer Rechtsgrundlage – Rechtswidrigkeit.
Rechtssache T-275/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:T:2022:723

Rechtssache T275/20

Westfälische Drahtindustrie u. a.

gegen

Kommission

 Urteil des Gerichts (Siebte erweiterte Kammer) vom 23. November 2022

„Nichtigkeits- und Schadensersatzklage – Wettbewerb – Kartelle – Europäischer Markt für Spannstahl – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Aussetzung der Verpflichtung zur Stellung einer Bankbürgschaft – Vorläufige Zahlungen in Raten – Urteil, mit dem der Beschluss teilweise für nichtig erklärt wird und eine Geldbuße in Höhe der ursprünglich verhängten Geldbuße festgesetzt wird – Anrechnung der vorläufigen Zahlungen – Verzugszinsen – Art. 266 Abs. 1 AEUV – Ungerechtfertigte Bereicherung – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Rückforderung zu viel gezahlter Beträge – Fehlen einer Rechtsgrundlage – Rechtswidrigkeit“

1.      Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Grundsatz des Verbots ungerechtfertigter Bereicherung der Union – Rechtsbehelfe – Schadensersatzklage – Voraussetzung

(Art. 268 und 340 AEUV; Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47)

(vgl. Rn. 48-50)

2.      Schadensersatzklage – Selbständigkeit gegenüber der Nichtigkeitsklage – Grenzen – Antrag auf Ersatz des durch die fehlerhafte Durchführung eines Urteils, mit dem ein Beschluss der Kommission für nichtig erklärt wurde, entstandenen Schadens – Antrag, der nicht auf dasselbe Ergebnis abzielt wie die Klage, wegen derer der Beschluss der Kommission für nichtig erklärt wurde – Zulässigkeit – Verhandlungen über die Durchführung des Urteils, die im Vorfeld stattgefunden haben – Keine Auswirkung

(Art. 263, Art. 268 und Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 57-64)

3.      Außervertragliche Haftung – Voraussetzungen – Rechtswidrigkeit – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Gestaltungsspielraum des Organs bei Erlass des Rechtsakts

(Art. 340 Abs. 2 AEUV)

(vgl. Rn. 67)

4.      Wettbewerb – Geldbußen – Ermessen der Kommission – Umfang – Befugnis zur Festlegung der Zahlungsmodalitäten der Geldbußen – Festsetzung von Verzugszinsen – Umfang

(Verordnung des Rates Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2)

(vgl. Rn. 90)

5.      Wettbewerb – Geldbußen – Höhe – Festsetzung – Ermessen der Kommission – Gerichtliche Überprüfung – Befugnis des Unionsrichters zu unbeschränkter Nachprüfung – Umfang – Urteil, mit dem ein Beschluss der Kommission teilweise für nichtig erklärt und eine Geldbuße in Höhe der ursprünglich verhängten Geldbuße festgesetzt wird – Zinsen auf die vom Unionsrichter festgelegte Geldbuße ab dem Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses der Kommission zu entrichten

(Art. 101, 261 und 263 AEUV; Verordnung des Rates Nr. 1/2003, Art. 23 Abs. 2 und Art. 31)

(vgl. Rn. 98-127)

Zusammenfassung

Mit Beschluss vom 30. Juni 2010(1) in der durch den Beschluss vom 30. September 2010 geänderten Fassung (im Folgenden zusammen: streitiger Beschluss) verhängte die Europäische Kommission gegen die Westfälische Drahtindustrie GmbH (im Folgenden: WDI), die Westfälische Drahtindustrie Verwaltungsgesellschaft mbH & Co. KG und die Pampus Industriebeteiligungen GmbH & Co. KG wegen Beteiligung an geheimen Absprachen mit Wettbewerbern zur Beschränkung des Wettbewerbs auf dem europäischen Markt für Spannstahl eine Geldbuße.

Nach dem streitigen Beschluss war die Geldbuße innerhalb von drei Monaten ab der Zustellung des streitigen Beschlusses zu zahlen und wurden nach Ablauf dieser Frist automatisch Zinsen zu dem Zinssatz fällig, der von der Europäischen Zentralbank für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte angewandt wird, zuzüglich 3,5 Prozentpunkte. Im streitigen Beschluss wurde ferner verfügt, dass, wenn ein Unternehmen, gegen das eine Geldbuße verhängt worden ist, Klage erhebt, das Unternehmen die Geldbuße spätestens bis zum Fälligkeitsdatum entweder durch Bereitstellung einer Bankgarantie oder durch eine vorläufige Zahlung der Geldbuße decken muss.

Nachdem sie Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses erhoben hatten, reichten die Klägerinnen einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ein. Sie beantragten im Wesentlichen, die Vollziehung des streitigen Beschlusses bis zur Verkündung des Urteils in der Hauptsache auszusetzen.

Mit Beschluss vom 13. April 2011(2) gab der Präsident des Gerichts dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz teilweise statt. Die Obliegenheit der Klägerinnen, zugunsten der Kommission eine Bankbürgschaft zu stellen, um die sofortige Beitreibung der Geldbuße zu vermeiden, wurde unter der Bedingung ausgesetzt, dass die Klägerinnen an die Kommission vorläufig zum einen 2 000 000 Euro entrichten und zum anderen bis zur Verkündung des Urteils in der Hauptsache monatliche Raten in Höhe von 300 000 Euro zahlen.

Mit Urteil vom 15. Juli 2015(3) erklärte das Gericht den streitigen Beschluss, soweit gegen die Klägerinnen eine Geldbuße verhängt wurde, mit der Begründung für nichtig, dass der Kommission bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Rechtsmittelführerinnen Fehler unterlaufen seien. In Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung verurteilte es die Klägerinnen jedoch zur Zahlung einer Geldbuße in gleicher Höhe, die auf der Grundlage von Gesichtspunkten, die nach dem Erlass des streitigen Beschlusses aufgetreten sind, festgesetzt wurde.

Sofort nach Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015 ergaben sich zwischen der Kommission und den Rechtsanwälten der Klägerinnen Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt, ab dem auf die Geldbußen Zinsen zu zahlen seien. Die Klägerinnen vertraten die Auffassung, dass Zinsen erst ab Verkündung des Urteils zu zahlen seien, während sich die die Kommission auf den Standpunkt stellte, dass Zinsen ab dem in dem streitigen Beschluss festgesetzten Zeitpunkt zu zahlen seien.

Die Kommission übermittelte WDI am 27. November 2015 einen Plan für die Zahlung der Geldbuße in Raten bis zum 15. März 2030. In dem Plan wurde davon ausgegangen, dass Zinsen ab dem in dem streitigen Beschluss festgesetzten Zeitpunkt zu zahlen waren. Nach diesem Plan wurden bis zum 16. Oktober 2019 Raten auf die Geldbuße gezahlt. Am 16. Oktober 2019 teilte WDI der Kommission mit, dass sie nunmehr den gesamten noch ausstehenden Betrag der Geldbuße samt Zinsen zahlen werde. Bei dieser Berechnung berücksichtigte WDI die seit dem 15. Oktober 2015, d. h. drei Monate nach der Verkündung des Urteils vom 15. Juli 2015, angefallenen Zinsen.

Mit Schreiben vom 2. März 2020 forderte die Kommission WDI auf, Verzugszinsen ab dem in dem streitigen Beschluss festgesetzten Zeitpunkt, dem 4. Januar 2011, zu zahlen.

Die Klägerinnen erhoben daraufhin beim Gericht eine weitere Klage u. a. auf Nichtigerklärung des Schreibens vom 2. März 2020 und, hilfsweise, Ersatz des durch die Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Kommission bei der Durchführung des Urteils vom 15. Juli 2015 entstandenen Schadens.

Die Siebte erweiterte Kammer des Gerichts weist die Klage in vollem Umfang ab. Sie zeigt dabei auf, auf welche Kriterien es bei der Bestimmung der Fälligkeit einer Geldbuße ankommt, deren Höhe vom Unionsrichter in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung im Hinblick auf die Umstände des konkreten Falles festgesetzt worden ist.

Würdigung durch das Gericht

Aus prozessökonomischen Gründen prüft das Gericht zunächst den auf mehrere Verstöße gegen Art. 266 Abs. 1 AEUV gestützten Schadensersatzantrag der Klägerinnen. Die Rechtsfehler, die gerügt wurden, beruhten nämlich allesamt auf der Annahme, dass die im streitigen Beschluss verhängte Geldbuße vom Gericht nicht „aufrechterhalten“ oder „bestätigt“, sondern für nichtig erklärt und durch eine „gerichtliche Geldbuße“ ersetzt worden sei.

Das Gericht stellt fest, dass der Schadensersatzantrag zulässig ist. Sodann weist es darauf hin, dass die vom Unionsrichter in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung festgesetzte Geldbuße nach der Rechtsprechung keine neue Geldbuße darstellt, die sich rechtlich von der von der Kommission verhängten unterscheide. Ersetzt der Unionsrichter die Würdigung der Kommission durch seine eigene und setzt er die Geldbuße im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung herab, ersetzt er in dem Beschluss der Kommission den dort ursprünglich festgesetzten Betrag durch denjenigen, der sich nach seiner eigenen Würdigung ergibt. Aufgrund der ersetzenden Wirkung des Urteils des Unionsrichters ist daher davon auszugehen, dass der Beschluss der Kommission schon immer derjenige gewesen ist, der sich aus der Würdigung durch den Unionsrichter ergibt. Der Umstand, dass das Gericht in seinem Urteil vom 15. Juli 2015 im Ergebnis die Beibehaltung des im streitigen Beschluss festgesetzten Betrags der Geldbuße für angemessen hielt, steht der Anwendung der genannten Grundsätze im vorliegenden Fall nicht entgegen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen der Klägerinnen, die insbesondere geltend gemacht hatten, dass das Gericht die ursprünglich festgesetzte Geldbuße für nichtig erklärt habe, bevor es deren Höhe auf der Grundlage von Gesichtspunkten, die nach dem streitigen Beschluss aufgetreten seien, neu festgesetzt habe, und dass der Präsident des Gerichts mit Beschluss vom 13. April 2011 die Aussetzung der Obliegenheit zur Stellung einer Bankbürgschaft angeordnet habe. Was diesen letztgenannten Gesichtspunkten angeht, stellt das Gericht fest, dass der Erlass des Beschlusses über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht die Aussetzung der Fälligkeit der Forderung bedingte, auf die während des Gerichtsverfahrens weiter Verzugszinsen anfielen.

Das Gericht stellt weiter fest, dass wenn der Unionsrichter die Geldbuße in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ganz oder teilweise aufrechterhält, die Verpflichtung, von Anfang an Verzugszinsen zu zahlen, keine Sanktion darstellt, die zu der ursprünglich von der Kommission festgesetzten Geldbuße hinzukäme. Da die Änderung der Geldbuße durch den Unionsrichter deren Rechtsnatur nicht ändert und da Klagen keine aufschiebende Wirkung haben, darf die Kommission Unternehmen, die die Geldbuße nicht sofort bezahlt haben und deren Klage teilweise stattgegeben wurde, nämlich nicht von ihrer Verpflichtung freistellen, ab Fälligkeit der von der Kommission verhängten Geldbuße Zinsen auf den vom Unionsrichter festgesetzten Betrag der Geldbuße zu zahlen.

Das Gericht gelangt deshalb zu dem Schluss, dass kein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die Verpflichtungen der Kommission aus Art. 266 AEUV vorliegt. Es weist den Schadensersatzantrag der Klägerinnen zurück. Da die übrigen Klageanträge im Wesentlichen ebenfalls auf der Annahme beruhten, dass die Kommission gegen Art. 266 AEUV verstoßen habe, weist das Gericht die Klage in vollem Umfang ab, ohne auf die von der Kommission hinsichtlich des Antrags auf Nichtigerklärung des Schreibens vom 2. März 2020 erhobene Einrede der Unzulässigkeit einzugehen.


1      Beschluss K(2010) 4387 endgültig vom 30. Juni 2010 in einem Verfahren nach Artikel 101 [AEUV] und Artikel 53 des EWR-Abkommens (COMP/38.344 – Spannstahl).


2      Beschluss vom 13. April 2011, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission (T‑393/10 R, EU:T:2011:178).


3      Urteil vom 15. Juli 2015, Westfälische Drahtindustrie u. a./Kommission (T‑393/10, EU:T:2015:515, im Folgenden: Urteil vom 15. Juli 2015). Das gegen dieses Urteil eingelegte Rechtsmittel wurde mit Beschluss vom 7. Juli 2016, Westfälische Drahtindustrie und Pampus Industriebeteiligungen/Kommission (C‑523/15 P, EU:C:2016:541), zurückgewiesen.

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