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Document 62020CJ0501

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 1. August 2022.
    M P A gegen LC D N M T.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 3, 6 bis 8 und 14 – Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt‘ – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Zusammenarbeit in Unterhaltssachen – Verordnung (EG) Nr. 4/2009 – Art. 3 und 7 – Staatsangehörige zweier verschiedener Mitgliedstaaten, die sich als Vertragsbedienstete der Delegation der Europäischen Union in einem Drittstaat in diesem Drittstaat aufhalten – Bestimmung der Zuständigkeit – Notzuständigkeit (forum necessitatis).
    Rechtssache C-501/20.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:619

    Rechtssache C‑501/20

    MPA

    gegen

    LCDNMT

    (Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Provincial de Barcelona)

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 1. August 2022

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Art. 3, 6 bis 8 und 14 – Begriff ‚gewöhnlicher Aufenthalt‘ – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Zusammenarbeit in Unterhaltssachen – Verordnung (EG) Nr. 4/2009 – Art. 3 und 7 – Staatsangehörige zweier verschiedener Mitgliedstaaten, die sich als Vertragsbedienstete der Delegation der Europäischen Union in einem Drittstaat in diesem Drittstaat aufhalten – Bestimmung der Zuständigkeit – Notzuständigkeit (forum necessitatis)“

    1. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit, anwendbares Recht sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Unterhaltssachen – Verordnung Nr. 4/2009 – Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts – Beurteilungskriterien – Ehegatten, die als bei einer Delegation der Union in einem Drittstaat beschäftigte Vertragsbedienstete Diplomatenstatus haben sollen – Keine Auswirkung

      (Haager Protokoll vom 23. November 2007, Art. 3; Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Verordnung Nr. 4/2009 des Rates, achter Erwägungsgrund sowie Art. 3 Buchst. a und b)

      (vgl. Rn. 41-47, 49, 53, 66, Tenor 1)

    2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Zuständigkeit in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes – Beurteilungskriterien – Staatsangehörigkeit und Aufenthalt der Mutter vor der Eheschließung im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts – Keine Auswirkung – Minderjährige Kinder, die in diesem Mitgliedstaat geboren wurden und seine Staatsangehörigkeit besitzen – Nicht ausreichender Umstand

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, zwölfter Erwägungsgrund und Art. 8 Abs. 1)

      (vgl. Rn. 71, 72, 75-78, Tenor 2)

    3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Restzuständigkeit – Umfang – Antragsgegner des Ausgangsverfahrens, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats als dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts ist – Ausschluss einer Restzuständigkeit dieses Gerichts in Ehesachen – Keine Auswirkung in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 3 bis 6, Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 bis 14)

      (vgl. Rn. 81-85, 89-91, 96, Tenor 3)

    4. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, anwendbares Recht sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Unterhaltssachen – Verordnung Nr. 4/2009 – Zuständigkeit in Unterhaltssachen – Notzuständigkeit (forum necessitatis) – Anwendbarkeit – Voraussetzungen

      (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 24 Abs. 2; Haager Übereinkommen vom 23. November 2007; Verordnung Nr. 4/2009 des Rates, 16. Erwägungsgrund und Art. 3 bis 7)

      (vgl. Rn. 99, 101, 105-111, 113, Tenor 4)

    Zusammenfassung

    Der Gerichtshof macht nähere Ausführungen zur gerichtlichen Zuständigkeit in Scheidungssachen, in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und in Unterhaltssachen

    Er spezifiziert auch das Kriterium „gewöhnlicher Aufenthalt “, anhand dessen das in Zivilsachen zuständige Gericht bestimmt wird

    Im Jahr 2015 zogen zwei Vertragsbedienstete der Europäischen Kommission, die zuvor in Guinea-Bissau gewohnt hatten, mit ihren minderjährigen Kindern nach Togo, weil sie bei der Delegation der Europäischen Union in diesem Drittstaat beschäftigt waren. Die Mutter ist spanische Staatsangehörige, der Vater portugiesischer Staatsangehöriger. Die in Spanien geborenen Kinder besitzen sowohl die spanische als auch die portugiesische Staatsangehörigkeit. Seit der faktischen Trennung des Ehepaars im Jahr 2018 wohnen die Mutter und die Kinder weiterhin in der Ehewohnung in Togo, und der Vater wohnt in diesem Staat in einem Hotel.

    Im Jahr 2019 stellte die Mutter bei einem spanischen Gericht einen Antrag auf Ehescheidung, u. a. verbunden mit Anträgen betreffend die Modalitäten der Ausübung des Sorgerechts und der elterlichen Verantwortung für die Kinder sowie über den Kindesunterhalt. Dieses Gericht erklärte sich jedoch für örtlich nicht zuständig, da die Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Spanien hätten.

    Die im Wege eines von der Mutter eingelegten Rechtsmittels angerufene Audiencia Provincial de Barcelona (Provinzgericht Barcelona, Spanien) beschloss, dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um in Anbetracht der besonderen Situation der Ehegatten und ihrer Kinder darüber entscheiden zu können, ob die spanischen Gerichte nach den Verordnungen Nr. 2201/2003 ( 1 ) und Nr. 4/2009 ( 2 ) zuständig sind.

    In seinem Urteil präzisiert der Gerichtshof die Merkmale, die für den in diesen Verordnungen als Zuständigkeitskriterium genannten gewöhnlichen Aufenthalt maßgeblich sind. Ferner spezifiziert er die Voraussetzungen, unter denen ein angerufenes Gericht seine Zuständigkeit für die Entscheidung in Scheidungssachen, in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und in Unterhaltssachen anerkennen kann, wenn kein Gericht eines Mitgliedstaats normalerweise zuständig ist.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ der Ehegatten, der sich in den alternativen zuständigkeitsbegründenden Tatbeständen des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 2201/2003 findet, ist autonom und einheitlich auszulegen. Er ist nicht nur durch den Willen des Betroffenen, an einem bestimmten Ort den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen zu begründen, gekennzeichnet, sondern auch durch eine Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweist. Dieselbe Definition gilt auch für den Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ in Unterhaltssachen im Sinne der Zuständigkeitskriterien des Art. 3 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 4/2009, wobei dieser von denselben Grundsätzen geleitet und durch dieselben Merkmale geprägt werden muss wie im Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht. Die Eigenschaft der betroffenen Ehegatten als bei einer Delegation der Union in einem Drittstaat beschäftigte Vertragsbedienstete, von denen wie im vorliegenden Fall behauptet wird, dass sie dort Diplomatenstatus hätten, kann auf die Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ im Sinne der vorgenannten Bestimmungen keinen Einfluss haben.

    Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung stellt ebenfalls einen autonomen Begriff dar. Er erfordert zumindest eine physische Anwesenheit in einem bestimmten Mitgliedstaat, bei der es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt; sie muss Ausdruck einer gewissen Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld sein. Insoweit ist der Anknüpfungspunkt, der sich aus der Staatsangehörigkeit der Mutter sowie aus ihrem Aufenthalt vor ihrer Eheschließung in dem Mitgliedstaat des mit einem Antrag betreffend die elterliche Verantwortung befassten Gerichts ergibt, für die Anerkennung der Zuständigkeit dieses Gerichts nicht relevant, wohingegen der Umstand, dass die minderjährigen Kinder in diesem Mitgliedstaat geboren wurden und seine Staatsangehörigkeit besitzen, nicht hinreichend ist.

    Diese Auslegung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ könnte dazu führen, dass in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falles kein Gericht eines Mitgliedstaats nach den allgemeinen Zuständigkeitsregeln der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung über einen Antrag auf Auflösung der Ehe und in Bezug auf die elterliche Verantwortung zuständig ist. In einem solchen Fall könnten die Art. 7 und 14 dieser Verordnung ein angerufenes Gericht dazu ermächtigen, in dem einen bzw. dem anderen Bereich die nationalen Zuständigkeitsregeln anzuwenden, allerdings mit einer unterschiedlichen Tragweite. In Ehesachen ist eine solche Restzuständigkeit des angerufenen Gerichts des Mitgliedstaats ausgeschlossen, wenn der Antragsgegner Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, ohne aber der Zuständigkeit der Gerichte dieses anderen Mitgliedstaats nach dessen nationalem Recht entgegenzustehen. In Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung stellt dagegen der Umstand, dass der Antragsgegner Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, kein Hindernis dafür da, dass das angerufene Gericht des Mitgliedstaats seine Zuständigkeit anerkennt.

    Ein anderer Rahmen ist in Unterhaltssachen vorgesehen, wenn sich alle Parteien des Rechtsstreits nicht gewöhnlich in einem Mitgliedstaat aufhalten. In diesem Fall stellt Art. 7 der Verordnung Nr. 4/2009 vier kumulative Voraussetzungen auf, damit ein Gericht eines Mitgliedstaats ausnahmsweise seine Notzuständigkeit (forum necessitatis) feststellen kann. Erstens muss das angerufene Gericht überprüfen, dass sich keine Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats gemäß den Art. 3 bis 6 der Verordnung Nr. 4/2009 ergibt. Zweitens muss der betreffende Rechtsstreit einen engen Bezug zu einem Drittstaat aufweisen, was der Fall ist, wenn alle Parteien dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Drittens verlangt die Voraussetzung, dass es nicht zumutbar sein oder sich als unmöglich erweisen muss, ein Verfahren in diesem Drittstaat einzuleiten oder zu führen, dass sich in Anbetracht des Einzelfalls der Zugang zu den Gerichten in dem Drittstaat als rechtlich oder tatsächlich eingeschränkt erweisen muss, insbesondere durch Verfahrensbedingungen, die diskriminierend sind oder die gegen ein faires Verfahren verstoßen. Schließlich muss der Rechtsstreit einen ausreichenden Bezug zu dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts aufweisen; dieser Bezug kann dabei insbesondere auf die Staatsangehörigkeit einer der Parteien gestützt werden.


    ( 1 ) Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. 2003, L 338, S. 1).

    ( 2 ) Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1).

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