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Document 62020CJ0331

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 17. November 2022.
    Volotea SA und easyJet Airline Co. Ltd. gegen Europäische Kommission.
    Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Beschluss der Europäischen Kommission betreffend Ausgleichsleistungen für sardische Flughäfen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen – Vorliegen rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, die von der Italienischen Republik über Flughafenbetreiber an Luftverkehrsunternehmen gewährt wurden – Begriff der staatlichen Beihilfe – Nachweis des Vorliegens eines Vorteils – Bestimmung seiner Höhe – Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers – Anwendbarkeit und Anwendung – Kriterium des privaten Erwerbers von Waren oder Dienstleistungen – Voraussetzungen – Beweislast.
    Verbundene Rechtssachen C-331/20 P und C-343/20 P.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:886

    Verbundene Rechtssachen C‑331/20 P und C‑343/20 P

    Volotea, SA
    und
    easyJet Airline Co. Ltd

    gegen

    Europäische Kommission

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 17. November 2022

    „Rechtsmittel – Staatliche Beihilfen – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Beschluss der Europäischen Kommission betreffend Ausgleichsleistungen für sardische Flughäfen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen – Vorliegen rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, die von der Italienischen Republik über Flughafenbetreiber an Luftverkehrsunternehmen gewährt wurden – Begriff der staatlichen Beihilfe – Nachweis des Vorliegens eines Vorteils – Bestimmung seiner Höhe – Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers – Anwendbarkeit und Anwendung – Kriterium des privaten Erwerbers von Waren oder Dienstleistungen – Voraussetzungen – Beweislast“

    1. Rechtsmittel – Gründe – Erfordernis einer konkreten Kritik an einem Bestandteil der Argumentation des Gerichts – Notwendigkeit, die rechtlichen Argumente genau anzugeben, die die geltend gemachten Rechtsmittelgründe tragen

      (Art. 256 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 58 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 168 Abs. 1 Buchst. d und Art. 169 Abs. 2)

      (vgl. Rn. 86, 87, 94, 95)

    2. Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Staatliche Maßnahme, die die Belastungen vermindert, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat – Einbeziehung

      (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

      (vgl. Rn. 102-104, 107, 138)

    3. Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – Vertragsbeziehungen zwischen den Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunternehmen – Durchführung einer Beihilferegelung durch einen nicht vom Staat gehaltenen Flughafenbetreiber – Die Anwendbarkeit des Grundsatzes des privaten Wirtschaftsteilnehmers nicht ausschließender Umstand

      (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

      (vgl. Rn. 105, 119)

    4. Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – Zur wirtschaftlichen Entwicklung einer Region eingeführte Beihilferegelung – Ausübung hoheitlicher Befugnisse – Die Anwendbarkeit des Grundsatzes des privaten Wirtschaftsteilnehmers nicht ausschließender Umstand

      (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

      (vgl. Rn. 106-108, 120)

    5. Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – Erwerb von Dienstleistungen bei einem Unternehmen über Einrichtungen, die nicht den Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe unterliegen – Unmöglichkeit, aus der fehlenden Durchführung eines Vergabeverfahrens auf das Vorliegen eines Vorteils zu schließen

      (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

      (vgl. Rn. 109, 110, 123, 125-128, 131, 132, 135-137, 152, 153)

    6. Staatliche Beihilfen – Begriff – Gewährung eines Vorteils für die Begünstigten – Nachweispflicht der Kommission hinsichtlich des Vorliegens eines Vorteils – Ermittlungspflichten der Kommission

      (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

      (vgl. Rn. 111, 112, 129, 157)

    7. Staatliche Beihilfen – Begriff – Beurteilung nach dem Grundsatz des privaten Wirtschaftsteilnehmers – Beurteilung unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte des streitigen Vorgangs und seines Kontexts – Der Kommission obliegende Beweislast – Umfang

      (Art. 107 Abs. 1 AEUV)

      (vgl. Rn. 113, 114, 128, 132)

    Zusammenfassung

    Am 13. April 2010 erließ die Autonome Region Sardinien (Italien, im Folgenden: Region) das Gesetz Nr. 10/2010 über die Genehmigung einer finanziellen Unterstützung für sardische Flughäfen zur Entwicklung des Luftverkehrs. Dieses Gesetz wurde durch eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt, die von der Regierung der Region erlassen wurden (im Folgenden zusammen mit den einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes Nr. 10/2010: streitige Maßnahmen).

    Die streitigen Maßnahmen zielten u. a. darauf ab, den Abschluss von Verträgen zwischen den Flughafenbetreibern und den Luftverkehrsunternehmen zu fördern, um die Flugverbindungen von oder nach Sardinien zu verbessern und die Förderung Sardiniens als touristisches Ziel sicherzustellen. Zu diesem Zweck sahen sie im Wesentlichen vor, dass die Region die von Flughafenbetreibern an Luftverkehrsunternehmen aufgrund dieser Verträge gezahlten Beträge zurückzahlen muss, sofern bestimmte Bedingungen und Modalitäten, insbesondere hinsichtlich der Rentabilität dieser Verträge, eingehalten werden.

    Mit ihrem Beschluss vom 29. Juli 2016 ( 1 ) (im Folgenden: streitiger Beschluss) stufte die Europäische Kommission die streitigen Maßnahmen als teilweise mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfen ein und ordnete ihre Rückforderung von den Fluggesellschaften an, die als deren einzige Begünstigte angesehen wurden.

    Die Fluggesellschaften Volotea SA und easyJet Airline Co. Ltd (im Folgenden: easyJet), die im Rahmen der streitigen Maßnahmen Dienstleistungsverträge mit den Betreibern der Flughäfen Olbia (Italien) und Cagliari-Elmas (Italien) geschlossen hatten, erhoben beim Gericht zwei Klagen auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses. Diese Klagen wurden mit Urteilen vom 13. Mai 2020 ( 2 ) (im Folgenden: angefochtene Urteile) abgewiesen.

    Auf zwei Rechtsmittel von Volotea und easyJet hin hebt der Gerichtshof die angefochtenen Urteile insoweit auf und erklärt den streitigen Beschluss insoweit für nichtig, als er diese beiden Gesellschaften betrifft. In diesem Rahmen weist der Gerichtshof auf die Rolle und die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers im Bereich staatlicher Beihilfen hin und erläutert anschließend die anzuwendende Methode, um anhand von Art. 107 Abs. 1 AEUV zu prüfen, ob ein Vorteil vorliegt, der sich daraus ergibt, dass ein Mitgliedstaat privaten Wirtschaftsteilnehmern öffentliche Mittel zukommen lässt, um Dienstleistungsverträge zu finanzieren, die diese mit anderen privaten Wirtschaftsteilnehmern geschlossen haben.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Als Erstes stellt der Gerichtshof fest, dass das Gericht Art. 107 Abs. 1 AEUV rechtsfehlerhaft ausgelegt hat, als es in den angefochtenen Urteilen befunden hat, dass die Frage, ob Volotea und easyJet einen von der Region gewährten Vorteil erhalten hatten, nicht anhand des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers zu prüfen sei.

    Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass für die Feststellung, ob ein Vorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt, die Auswirkungen der geprüften Maßnahme auf die dadurch begünstigten Unternehmen zu berücksichtigen sind, unabhängig von den vom betreffenden Mitgliedstaat verfolgten Zielen oder davon, ob dieser Vorteil unmittelbar vom Staat oder von einer von ihm zu diesem Zweck errichteten oder bestimmten öffentlichen oder privaten Einrichtung gewährt wird. Folglich ist jede Maßnahme als eine solche zu betrachten, die unabhängig von ihrer Form und ihren Zielen ein oder mehrere Unternehmen unmittelbar oder mittelbar begünstigt oder ihnen einen Vorteil gewährt, den sie unter normalen Marktbedingungen nicht hätten erhalten können.

    Außerdem erfolgt die Feststellung des Vorliegens eines solchen Vorteils grundsätzlich durch Anwendung des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers, es sei denn, dass es nicht möglich ist, das in Rede stehende staatliche Verhalten in einem bestimmten Fall mit dem eines privaten Wirtschaftsteilnehmers zu vergleichen, z. B. weil dieses Verhalten untrennbar mit dem Bestehen einer Infrastruktur verbunden ist, die kein privater Wirtschaftsteilnehmer jemals hätte errichten können, oder der Staat in seiner Eigenschaft als Träger hoheitlicher Gewalt gehandelt hat.

    Folglich konnten im vorliegenden Fall entgegen dem, was das Gericht in den angefochtenen Urteilen befunden hat, weder die mit den streitigen Maßnahmen verfolgten Ziele der öffentlichen Politik noch die Tatsache, dass es sich bei den Betreibern der Flughäfen von Olbia und Cagliari um private Unternehmen handelt, noch der Umstand, dass diese Unternehmen im Rahmen der Durchführung dieser Maßnahmen gegenüber der Region über keine nennenswerte Selbständigkeit verfügten, die Anwendbarkeit des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers ausschließen.

    Als Zweites prüft der Gerichtshof in Anbetracht dessen, dass das Gericht trotz seiner Schlussfolgerung der Unanwendbarkeit des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers gleichwohl geprüft hat, ob sich die Region wie ein privater Erwerber von Waren oder Dienstleistungen verhalten hat, und es anschließend das Vorliegen eines durch die streitigen Maßnahmen gewährten Vorteils bejaht hat, ob diese zusätzliche Argumentation des Gerichts trotz der zuvor festgestellten Rechtsfehler geeignet ist, den Tenor der angefochtenen Urteile zu stützen.

    Nach der Klarstellung, dass das Kriterium des privaten Erwerbers ebenso wie das des privaten Verkäufers, dessen Gegenstück es ist, eines der verschiedenen Kriterien darstellt, die den Grundsatz des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers konkretisieren, stellt der Gerichtshof insbesondere fest, dass das Gericht in Anwendung dieses Kriteriums befunden hat, dass Volotea und easyJet aufgrund der mit den Flughafenbetreibern geschlossenen Verträge über Luftverkehrs‑, Marketing- und Werbedienstleistungen einen Vorteil erlangt hätten, weil vor Abschluss dieser Verträge kein Ausschreibungsverfahren oder gleichwertiges Verfahren durchgeführt worden sei.

    Zwar ergibt sich aus einer gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass in dem Fall, in dem ein Mitgliedstaat beschließt, Waren oder Dienstleistungen entweder unmittelbar an ein oder mehrere private Unternehmen zu verkaufen oder sie bei ihm bzw. ihnen zu erwerben, die Durchführung eines Ausschreibungsverfahrens unter bestimmten Voraussetzungen die Vermutung zulässt, dass die zu diesem Zweck nach Abschluss dieses Verfahrens abgeschlossenen Verträge oder sonstigen Rechtsakte normale Marktbedingungen widerspiegeln, doch ergibt sich daraus auch, dass die Durchführung eines Ausschreibungsverfahrens nicht das einzige Mittel zum Ausschluss des Vorliegens eines Vorteils im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV ist und dass dies insbesondere dann gilt, wenn der Staat Waren oder Dienstleistungen nicht unmittelbar, sondern über andere private Unternehmen verkauft oder erwirbt, die nicht verpflichtet sind, ein Ausschreibungsverfahren durchzuführen. Zudem ist bei der Frage, ob ein solcher Vorteil zu verneinen oder im Gegenteil zu bejahen ist, unabhängig davon, welches Mittel eingesetzt wird, zu prüfen, ob die Verträge oder sonstigen Rechtsakte, die diesen Verkauf oder diesen Erwerb vorsehen, normale Marktbedingungen widerspiegeln.

    In Anbetracht dieser Erwägungen stellt der Gerichtshof fest, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, indem es befunden hat, dass ein Vorteil zugunsten von Volotea und easyJet vorliege, weil vor Abschluss der mit den Flughafenbetreibern geschlossenen Verträge weder ein Ausschreibungsverfahren noch ein gleichwertiges Verfahren durchgeführt worden sei. Desgleichen stellt der Gerichtshof fest, dass die Frage, ob diese Verträge normale Marktbedingungen widerspiegeln, vom Gericht nicht angemessen geprüft worden ist.

    Aus diesen Gründen gibt der Gerichtshof den Rügen von Volotea und easyJet, mit denen ein Verstoß gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV geltend gemacht wird, statt und hebt die angefochtenen Urteile auf.

    Da die Rechtsstreitigkeiten zur Entscheidung reif sind, zieht sie der Gerichtshof an sich und prüft an dritter und letzter Stelle die Rügen, die Volotea und easyJet zur Stützung ihrer jeweiligen Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses geltend gemacht haben.

    Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass die Kommission einen ersten Rechtsfehler begangen hat, indem sie aus Gründen, die sich auf die von der Region verfolgten Ziele der öffentlichen Politik, die private Rechtsnatur der Flughafenbetreiber und die Form der streitigen Maßnahmen stützen, bei der Prüfung, ob ein Vorteil im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV vorliegt, die Anwendbarkeit des Grundsatzes des marktwirtschaftlich handelnden privaten Wirtschaftsteilnehmers verneint hat. Sodann stellt er fest, dass die Kommission einen zweiten Rechtsfehler begangen hat, indem sie das Vorliegen eines solchen Vorteils bejaht hat, ohne eine umfassende und konkrete Beurteilung vorgenommen zu haben, ob die Region und die Flughafenbetreiber versucht hätten, die fraglichen Dienstleistungen unter normalen Marktbedingungen zu erwerben.

    In Anbetracht dieser Erwägungen erklärt der Gerichtshof auch den streitigen Beschluss wegen Verstoßes gegen Art. 107 Abs. 1 AEUV insoweit für nichtig, als er Volotea und easyJet betrifft.


    ( 1 ) Beschluss (EU) 2017/1861 der Kommission vom 29. Juli 2016 über die staatliche Beihilfe SA 33983 (2013/C) (ex 2012/NN) (ex 2011/N) – Italien – Ausgleichsleistungen für sardische Flughäfen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen (DAWI) (ABl. 2017, L 268, S. 1).

    ( 2 ) Urteile vom 13. Mai 2020, Volotea/Kommission (T‑607/17, EU:T:2020:180), und vom 13. Mai 2020, easyJet Airline/Kommission (T‑8/18, EU:T:2020:182).

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