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Document 62020CJ0151

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. März 2022.
Bundeswettbewerbsbehörde gegen Nordzucker AG u. a.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 101 AEUV – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-151/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:203

Rechtssache C151/20

Bundeswettbewerbsbehörde

gegen

Agrana Zucker GmbH,
Nordzucker AG
und
Südzucker AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs)

 Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. März 2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 101 AEUV – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Verhältnismäßigkeit“

1.        Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur – Kriterien für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur – Rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, Art der Zuwiderhandlung und Schweregrad der drohenden Sanktion

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)

(vgl. Rn. 30, 31)

2.        Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur – Begriff – Kumulierung wettbewerbsrechtlicher Verfahren, die auf die Verhängung von Geldbußen oder auf die bloße Feststellung einer Zuwiderhandlung gerichtet sind – Einbeziehung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)

(vgl. Rn. 32, 60-67)

3.        Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Vorliegen einer früheren endgültigen Entscheidung – Beurteilungskriterien – Nach einer Prüfung in der Sache ergangene endgültige Entscheidung

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)

(vgl. Rn. 34, 35)

4.        Grundrechte – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungsvoraussetzungen – Vorliegen derselben Straftat – Beurteilungskriterium – Identität der materiellen Tat – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell – Beurteilung der Identität der Tat im Hinblick auf das Gebiet, den Produktmarkt und den Zeitraum, die Gegenstand der von den genannten Behörden eingeleiteten Verfahren sind

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50)

(vgl. Rn. 38-48)

5.        Grundrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Einschränkung der Ausübung der in der Charta niedergelegten Rechte und Freiheiten – Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen – Verfolgung einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung – Von zwei nationalen Wettbewerbsbehörden verfolgtes Kartell – Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen, die die gleichen Aspekte ein und derselben Zuwiderhandlung betreffen – Unzulässigkeit

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 und 52 Abs. 1)

(vgl. Rn. 49-57)

Zusammenfassung

Die Nordzucker AG und die Südzucker AG sind zwei deutsche Zuckerherstellerinnen, die zusammen mit einem dritten großen Hersteller den Zuckermarkt in Deutschland beherrschen. Dieser Markt war räumlich seit jeher in drei Kerngebiete aufgeteilt, von denen jedes von einem dieser drei großen Hersteller kontrolliert wurde.

Die Agrana Zucker GmbH (im Folgenden: Agrana), eine Tochtergesellschaft von Südzucker, ist die Hauptzuckerherstellerin in Österreich.

Spätestens ab 2004 verständigten sich Nordzucker und Südzucker darauf, sich keine gegenseitige Konkurrenz durch ein Eindringen in ihre angestammten Kernabsatzgebiete zu machen. In diesem Zusammenhang rief der Vertriebsleiter von Südzucker Anfang 2006 den Vertriebsleiter von Nordzucker an, um sich über Zuckerlieferungen auf dem österreichischen Markt durch eine slowakische Tochtergesellschaft von Nordzucker zu beschweren, wobei er zu verstehen gab, dass dies Konsequenzen für den deutschen Zuckermarkt haben könnte (im Folgenden: Telefonat von 2006).

Um von den nationalen Kronzeugenprogrammen zu profitieren, teilte Nordzucker in der Folge sowohl dem Bundeskartellamt (Deutschland) als auch der Bundeswettbewerbsbehörde (Österreich) ihre Teilnahme an einem Kartell auf dem deutschen und dem österreichischen Zuckermarkt mit. Diese beiden Behörden leiteten zeitgleich Ermittlungsverfahren ein.

Im Jahr 2014 stellte das Bundeskartellamt mit rechtskräftigem Bescheid fest, dass Nordzucker, Südzucker und der dritte deutsche Hersteller unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des deutschen Rechts an einem wettbewerbswidrigen Kartell teilgenommen hätten, und verhängte u. a. gegen Südzucker eine Geldbuße von 195 500 000 Euro. In diesem Bescheid wird auch der Inhalt des Telefonats von 2006 zum österreichischen Zuckermarkt wiedergegeben.

Dagegen wurde der Antrag der Bundeswettbewerbsbehörde auf Feststellung einer Zuwiderhandlung von Nordzucker, Südzucker und Agrana gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden österreichischen Rechtsvorschriften sowie auf Verhängung von zwei Geldbußen gegen Südzucker, darunter eine gesamtschuldnerisch mit Agrana, vom Oberlandesgericht Wien (Österreich) zurückgewiesen.

Die Bundeswettbewerbsbehörde erhob gegen diese Entscheidung Rekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich), der das vorlegende Gericht ist. Dieser sieht sich vor die Frage gestellt, ob der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Grundsatz ne bis in idem es ihm verwehrt, das Telefonat von 2006 in dem bei ihm anhängigen Verfahren zu berücksichtigen, weil dieses Telefonat im Bescheid des Bundeskartellamts von 2014 ausdrückliche Erwähnung gefunden hat. Er wirft außerdem die Frage auf, ob angesichts der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Grundsatz ne bis in idem in einem Verfahren zur Feststellung einer Zuwiderhandlung Anwendung findet, das wegen der Teilnahme eines Unternehmens an einem nationalen Kronzeugenprogramm nicht zur Verhängung einer Geldbuße führt.

In Beantwortung dieser Fragen stellt der Gerichtshof (Große Kammer) klar, wie sich der Grundsatz ne bis in idem im Rahmen paralleler oder aufeinanderfolgender wettbewerbsrechtlicher Verfahren, die dasselbe wettbewerbswidrige Verhalten in mehreren Mitgliedstaaten betreffen, darstellt.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet.

Im Bereich speziell des Wettbewerbsrechts hindert dieser Grundsatz daran, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut mit einer Sanktion belegt oder verfolgt wird. Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen von wettbewerbsrechtlichen Verfahren setzt somit zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf dasselbe Verhalten abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).

Da die Entscheidung des Bundeskartellamts von 2014 eine endgültige frühere Entscheidung darstellt, die nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist, ist die Voraussetzung „bis“ in Bezug auf das von der Bundeswettbewerbsbehörde geführte Verfahren erfüllt.

Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, so ist für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, unabhängig von der rechtlichen Einordnung der Tat nach nationalem Recht und dem geschützten Rechtsgut. Die Identität wettbewerbswidriger Praktiken ist im Hinblick auf das betroffene Gebiet und den betroffenen Produktmarkt sowie auf den Zeitraum zu prüfen, in dem mit ihnen eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wurde.

Das vorlegende Gericht hat daher auf der Grundlage einer Würdigung aller relevanten Umstände zu prüfen, ob das in Rede stehende Kartell mit der Entscheidung des Bundeskartellamts von 2014 nicht nur insoweit festgestellt und geahndet wurde, als es im deutschen Hoheitsgebiet einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, sondern auch insoweit, als es im österreichischen Hoheitsgebiet einen solchen Zweck verfolgte oder eine solche Wirkung hatte. Wäre dies der Fall, würden weitere Verfolgungsmaßnahmen und gegebenenfalls weitere Sanktionen wegen Verstoßes gegen Art. 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des österreichischen Rechts aus dem Grund, dass das Kartell im österreichischen Hoheitsgebiet stattgefunden hat, eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundrechts darstellen.

Eine solche Einschränkung kann auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden. Diese Bestimmung sieht u. a. vor, dass jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen muss.

Da mit dem Kartellverbot in Art. 101 AEUV die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt wird, einen unverfälschten Wettbewerb im Binnenmarkt zu gewährleisten, kann zwar die Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur durch zwei nationale Wettbewerbsbehörden ergibt, nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt sein, wenn mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen. Sollten jedoch zwei nationale Wettbewerbsbehörden denselben Sachverhalt verfolgen und ahnden, um die Beachtung des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV und den entsprechenden Bestimmungen ihres jeweiligen nationalen Rechts zum Verbot von Kartellen, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 101 AEUV beeinträchtigen können, sicherzustellen, würden diese beiden Behörden dieselbe Zielsetzung verfolgen, zu gewährleisten, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen entspräche nicht einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, so dass sie auch nicht nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.

Was das von der Bundeswettbewerbsbehörde geführte Verfahren gegen Nordzucker betrifft, bestätigt der Gerichtshof letztlich, dass dieses Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts, in dem wegen der Teilnahme von Nordzucker am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann, ebenfalls dem Grundsatz ne bis in idem unterliegen kann.

Als Ausfluss des Grundsatzes res iudicata soll der Grundsatz ne bis in idem nämlich Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gewährleisten, indem er sicherstellt, dass eine natürliche oder juristische Person, wenn sie einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, dass sie für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt wird. Daraus folgt, dass die Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen strafrechtlicher Natur als solche unabhängig davon, ob diese Verfolgungsmaßnahmen tatsächlich zur Verhängung einer Sanktion führen, in den Anwendungsbereich des Grundsatzes ne bis in idem fallen kann.

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