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Document 62019CJ0656

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 17. Dezember 2020.
    BAKATI PLUS Kereskedelmi és Szolgáltató Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Art. 146 Abs. 1 Buchst. b – Gegenstände, die durch einen nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ansässigen Erwerber nach Orten außerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert werden – Art. 147 – ‚Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden‘, die nicht in der Union ansässig sind – Begriff – Gegenstände, die das Gebiet der Union tatsächlich verlassen haben – Beweis – Versagung der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit – Betrug.
    Rechtssache C-656/19.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:1045

    Rechtssache C‑656/19

    BAKATI PLUS Kereskedelmi és Szolgáltató Kft.

    gegen

    Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság

    (Vorabentscheidungsersuchen des Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság)

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 17. Dezember 2020

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Art. 146 Abs. 1 Buchst. b – Gegenstände, die durch einen nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ansässigen Erwerber nach Orten außerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert werden – Art. 147 – ‚Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden‘, die nicht in der Union ansässig sind – Begriff – Gegenstände, die das Gebiet der Union tatsächlich verlassen haben – Beweis – Versagung der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit – Betrug“

    1. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Anrufung des Gerichtshofs – Festlegung der vorzulegenden Fragen – Ausschließliche Zuständigkeit des nationalen Gerichts – Möglichkeit für die Parteien, die Fassung der Fragen zu ändern – Fehlen

      (Art. 267 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 23)

      (vgl. Rn. 32, 33)

    2. Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden – Begriff – Autonome und einheitliche Auslegung

      (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 147)

      (vgl. Rn. 38)

    3. Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden – Begriff der Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden, die nicht in der Union ansässig sind – Gegenstände, die von einem solchen Reisenden zum Zweck ihres Weiterverkaufs in einem Drittstaat mitgeführt werden – Ausschluss

      (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und Art. 147)

      (vgl. Rn. 42-53, Tenor 1)

    4. Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Festlegung der Voraussetzungen – Befugnis der Mitgliedstaaten – Grenzen – Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts – Formale Pflichten und materielle Voraussetzungen – Auswirkungen der Nichteinhaltung formaler Anforderungen – Fehlen – Ausnahmen

      (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 131, 146, 147 und 273)

      (vgl. Rn. 69-74)

    5. Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden – Beweisregelung bezüglich der Ausfuhr von Gegenständen – Beweismodalitäten – Grenzen – Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – Formale Pflichten und materielle Voraussetzungen

      (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b)

      (vgl. Rn. 75-79)

    6. Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit – Gegenstände, die unbestreitbar das Gebiet der Europäischen Union verlassen haben – Nationale Praxis, nach der die Befreiung bei Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen automatisch versagt wird – Unzulässigkeit – Ausnahmen

      (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 131, 146 Abs. 1 Buchst. b, Art. 147 und 273)

      (vgl. Rn. 80, 82, 84, 86-89, Tenor 3)

    7. Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Befreiungen – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden – Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden – Tatsächliche Beförderung nach Orten außerhalb der Europäischen Union – Verpflichtung der Steuerverwaltung, die Anwendbarkeit der Befreiung zu prüfen – Zulässigkeit – Nichtbeachtung der für die Ausfuhr geltenden Zollformalitäten – Absicht, dass die Befreiung für diese Gegenstände zur Mitführung im Gepäck angewandt wird – Keine Auswirkung

      (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und Art. 147)

      (vgl. Rn. 62-64, Tenor 2)

    Zusammenfassung

    Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, BAKATI PLUS (im Folgenden: Bakati), ist ein Unternehmen ungarischen Rechts, dessen Jahresumsatz seit 2015 von 50 Mio. ungarischen Forint (im Folgenden: HUF) (etwa 140000 Euro) auf 1 Mrd. HUF (etwa 2784000 Euro) gestiegen ist. Im Jahr 2016 bestand die Tätigkeit der Klägerin im Wesentlichen aus Lieferungen großer Mengen an Lebensmitteln, Kosmetik- und Reinigungsprodukten an 20 Privatpersonen.

    Die Käufer der Gegenstände beförderten diese von einem in Ungarn nahe der Grenze zu Serbien angemieteten Lager, wo die von Bakati ausgestellten Rechnungen und Antragsformulare zur Erstattung der Umsatzsteuer für ausländische Reisende zusammen mit den betreffenden Gegenständen gegen Zahlung des Kaufpreises ausgehändigt wurden, mit einem Privatfahrzeug als persönliches Gepäck nach Serbien.

    Nach dem ungarischen Umsatzsteuergesetz sind Gegenstände, die von Ungarn aus in ein Drittland außerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert werden, unter bestimmten Voraussetzungen von der Umsatzsteuer befreit. Lieferungen von Gegenständen zur Mitführung im persönlichen Gepäck von ausländischen Reisenden sind darin ausdrücklich steuerbefreit.

    Diese Steuerbefreiung wurde den Käufern gewährt, indem das Antragsformular zur Erstattung der Umsatzsteuer mit dem Sichtvermerk der Ausgangszollstelle, dass die Waren das Gebiet der Europäischen Union verlassen hätten, an Bakati zurückgeschickt wurde. Nach Erhalt dieses Formulars erstattete Bakati den Käufern die beim Kauf entrichtete Umsatzsteuer. In ihren Umsatzsteuererklärungen für das Jahr 2016 gab Bakati als abzugsfähigen Betrag der zu zahlenden Steuer die an die Käufer erstattete Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 339788000 HUF (ungefähr 946000 Euro) an.

    Im Rahmen einer Steuerprüfung stellte die Steuerverwaltung fest, dass die in Rede stehenden Erwerbe über den persönlichen und familiären Bedarf der Erwerber hinausgegangen und zum Zweck des Weiterverkaufs der erworbenen Gegenstände erfolgt seien, was ausschließe, dass diese Gegenstände persönliches Gepäck im Sinne des ungarischen Umsatzsteuergesetzes sein könnten. Bakati könne auch keine Umsatzsteuerbefreiung aufgrund einer anderen Bestimmung dieses Gesetzes in Anspruch nehmen, da sie nicht die entsprechenden Zollformalitäten erledigt habe und nicht über die dafür notwendigen Belege verfüge. Daher verlangte die Behörde mit Bescheid vom 27. Juni 2018 von Bakati die Zahlung der Umsatzsteuerdifferenz, einer Steuergeldbuße und von Verzugszinsen.

    Nachdem dieser Bescheid mit Bescheid der Rechtsbehelfsdirektion der Steuerverwaltung bestätigt worden war, erhob Bakati beim Szegedi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szeged, Ungarn) Klage auf Nichtigerklärung des letzteren Bescheids.

    Für die Zwecke der Anwendung des ungarischen Umsatzsteuergesetzes, dessen Bestimmungen über die Umsatzsteuerbefreiungen bei der Ausfuhr im Wesentlichen denen der Art. 146 und 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie ( 1 ) entsprechen, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mehrere Vorabentscheidungsfragen zur Auslegung der letzteren Bestimmungen vorgelegt.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Erstens prüft der Gerichtshof, ob die Gegenstände, die eine Privatperson, die nicht in der Union ansässig ist, nach Orten außerhalb der Union zu gewerblichen Zwecken mit sich führt, um sie in einem Drittstaat weiterzuverkaufen, unter die in Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung für „Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden“ fallen.

    Unter Verweis darauf, dass die in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen autonome Begriffe des Unionsrechts darstellen, stellt der Gerichtshof insoweit fest, dass die vorstehend genannte Wendung in ihrem üblichen Sinn Gegenstände im Allgemeinen von kleiner Größe oder in kleiner Menge erfasst, die eine Person bei einer Reise mit sich führt oder erwirbt, die sie während der Reise benötigt und die ihrem privaten Gebrauch oder dem ihrer Familie dienen.

    Im Rahmen der Prüfung des Zusammenhangs, in dem diese Wendung verwendet wird, leitet der Gerichtshof aus den Voraussetzungen für die Anwendung der Steuerbefreiung gemäß Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie ab, dass ihr potenziell Begünstigter eine natürliche Person ist, die nicht als Wirtschaftsteilnehmer handelt. Damit ist ausgeschlossen, dass diese Befreiung auf Ausfuhren gewerblicher Art anwendbar ist. In Anbetracht dessen, dass die Mehrwertsteuerbefreiungen eng auszulegen sind, und auch unter Berücksichtigung des spezifischen Ziels der Tourismusförderung, das mit diesem Artikel verfolgt wird, und der gesetzgeberischen Entwicklung der Bestimmung, die nunmehr in Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthalten ist, gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Steuerbefreiung für Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden nicht auf Gegenstände anwendbar ist, die eine Privatperson, die nicht in der Union ansässig ist, zu gewerblichen Zwecken nach Orten außerhalb der Union mit sich führt, um sie in einem Drittstaat weiterzuverkaufen.

    Zweitens erkennt der Gerichtshof für Recht, dass Art. 146 Abs. 1 Buchst. b und Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer nationalen Rechtsprechung nicht entgegenstehen, nach der die Steuerverwaltung, wenn die Voraussetzungen der Mehrwertsteuerbefreiung für Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden nicht erfüllt sind, die betreffenden Gegenstände vom Erwerber aber tatsächlich nach Orten außerhalb der Union befördert wurden, verpflichtet ist, zu prüfen, ob die in Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung auf die in Rede stehende Lieferung Anwendung findet, obwohl die einschlägigen Zollformalitäten nicht durchgeführt wurden und der Erwerber beim Kauf nicht beabsichtigte, dass diese Befreiung angewandt wird.

    Umsätze wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden stellen nämlich Lieferungen von Gegenständen im Sinne von Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dar, wenn sie die objektiven Kriterien erfüllen, die eine solche Lieferung definieren, d. h., wenn das Recht, wie ein Eigentümer über diesen Gegenstand zu verfügen, auf den Erwerber übertragen worden ist, der Lieferant nachweist, dass der Gegenstand an einen Ort außerhalb der Union versandt oder befördert worden ist und der Gegenstand aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung das Hoheitsgebiet der Union physisch verlassen hat. Für die Einstufung als Ausfuhrlieferung ist somit unerheblich, ob die für die Ausfuhr geltenden Zollformalitäten erledigt wurden oder der Erwerber beim Kauf beabsichtigte, dass nicht die in dieser Bestimmung, sondern die in Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Befreiung zur Anwendung kommt.

    Schließlich prüft der Gerichtshof, ob die genannten Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit es der Steuerverwaltung verwehren, einem Steuerpflichtigen automatisch die in diesen Bestimmungen vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung zu versagen, wenn sie feststellt, dass der Steuerpflichtige das Formular bösgläubig ausgestellt hat, auf dessen Grundlage der Erwerber sich auf die in Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung berufen hat, obwohl feststeht, dass die betroffenen Gegenstände das Gebiet der Union verlassen haben.

    Der Gerichtshof stellt fest, dass der Verstoß gegen eine formale Anforderung den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung nur in zwei Fällen nach sich ziehen kann: erstens, wenn dieser Verstoß den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Befreiung erfüllt wurden, oder zweitens, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der fragliche Umsatz in einen Betrug einbezogen war, der das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet.

    Im vorliegenden Fall kann die Nichtbeachtung der Zollformalitäten nicht den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung gemäß Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie nach sich ziehen. Es steht nämlich zum einen fest, dass die Gegenstände tatsächlich ausgeführt wurden, was durch einen von der Ausgangszollstelle angebrachten Sichtvermerk auf den vorgelegten Formularen bestätigt wird, auch wenn diese Formulare für die Anwendung der Steuerbefreiung gemäß Art. 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen waren, und dass diese Lieferung daher durch ihre objektiven Merkmale die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt.

    Zum anderen führt die Beteiligung von Bakati an dem Verstoß gegen Art. 147 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht zu einem finanziellen Verlust für die Union und kann nicht als Gefährdung des Funktionierens des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems angesehen werden. Daher kann ein solcher Verstoß, ohne dass die Möglichkeit der Verhängung verhältnismäßiger Verwaltungssanktionen nach nationalem Recht ausgeschlossen wäre, nicht mit der Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung für die tatsächlich durchgeführten Ausfuhren geahndet werden.


    ( 1 ) Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

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