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Document 62019CJ0620
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 10. Dezember 2020.
Land Nordrhein-Westfalen gegen D.-H. T.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 23 – Beschränkung der Rechte der betroffenen Person – Wichtiges finanzielles Interesse – Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche – Nationale Vorschriften, die auf Bestimmungen des Unionsrechts verweisen – Steuerliche Daten betreffend eine juristische Person – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.
Rechtssache C-620/19.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 10. Dezember 2020.
Land Nordrhein-Westfalen gegen D.-H. T.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 23 – Beschränkung der Rechte der betroffenen Person – Wichtiges finanzielles Interesse – Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche – Nationale Vorschriften, die auf Bestimmungen des Unionsrechts verweisen – Steuerliche Daten betreffend eine juristische Person – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.
Rechtssache C-620/19.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:1011
Rechtssache C‑620/19
Land Nordrhein-Westfalen
gegen
D.‑H. T., handelnd als Insolvenzverwalter über das Vermögen der J & S Service UG
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts)
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 10. Dezember 2020
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 23 – Beschränkung der Rechte der betroffenen Person – Wichtiges finanzielles Interesse – Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche – Nationale Vorschriften, die auf Bestimmungen des Unionsrechts verweisen – Steuerliche Daten betreffend eine juristische Person – Unzuständigkeit des Gerichtshofs“
Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Auslegungsersuchen aufgrund der entsprechenden Anwendbarkeit einer Vorschrift des Unionsrechts, die sich aus einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung ergibt – Nationales Recht, das sich von Zweck und Kontext des Unionsrechts wesentlich unterscheidet – Unzuständigkeit des Gerichtshofs
(Art. 267 AEUV; Verordnung 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 23)
(vgl. Rn. 36, 39, 43‑45, 49‑52 und Tenor)
Zusammenfassung
D.-H. T., handelnd als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Gesellschaft J & S Service, einer Gesellschaft deutschen Rechts, begehrte vom Finanzamt Auskunft über steuerliche Daten betreffend diese Gesellschaft, um im Rahmen des Insolvenzverfahrens etwaige Insolvenzanfechtungsklagen prüfen zu können. Nachdem das Finanzamt diesen Antrag abgelehnt hatte, wandte sich D.‑H. T. an das zuständige Verwaltungsgericht (Deutschland), das seiner Klage im Wesentlichen stattgab. Das zuständige Oberverwaltungsgericht (Deutschland) wies die gegen das erstinstanzliche Urteil eingelegte Berufung des Landes Nordrhein-Westfalen zurück und führte u. a. aus, dass der Informationsanspruch auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (Deutschland) nicht durch bereichsspezifische steuerrechtliche Regelungen verdrängt werde. Obwohl die begehrten Auskünfte unter das Steuergeheimnis fielen, sei D.‑H. T. in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter deshalb berechtigt, von J & S Service alle das Insolvenzverfahren betreffenden Informationen zu verlangen.
Das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), das über die gegen die Entscheidung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts eingelegte Revision zu entscheiden hat, führte aus, dass die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ( 1 ) im vorliegenden Fall nicht unmittelbar anwendbar sei, da der Ausgangsrechtsstreit weder personenbezogene Daten einer natürlichen Person ( 2 ) noch den Auskunftsanspruch der betroffenen Person ( 3 ) betreffe. Dieser Auskunftsanspruch sei ein höchstpersönliches Recht der von der Verarbeitung personenbezogener Daten betroffenen Person, das nicht Teil der Insolvenzmasse werde und daher nicht vom Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter erfasst sei. Das vorlegende Gericht wies allerdings darauf hin, dass der Gerichtshof, um eine einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten, seine Zuständigkeit bereits für solche Vorabentscheidungsersuchen bejaht habe, die Vorschriften des Unionsrechts in rein innerstaatlichen Sachverhalten betroffen hätten, in denen die unionsrechtlichen Vorschriften durch das nationale Recht unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden seien. Diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall erfüllt, da die Abgabenordnung ( 4 ) hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten juristischer Personen auf die Bestimmungen der DSGVO verweise.
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht den Gerichtshof um Klarstellung gebeten, ob eine Finanzbehörde den Zugang zu steuerlichen Daten eines Steuerschuldners auf der Grundlage einer Bestimmung der DSGVO ( 5 ) beschränken darf, auf die die Abgabenordnung ausdrücklich verweist. Für den Fall, dass sich die Finanzbehörden auf diese Bestimmung der DSGVO berufen können, hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof um nähere Ausführungen dazu ersucht, ob der in dieser Bestimmung der DSGVO enthaltene Ausdruck „Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche“ auch die Verteidigung gegen zivilrechtliche Ansprüche erfasst. Schließlich hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung gebeten, ob eine nationale Vorschrift, nach der das Auskunftsrecht nach der DSGVO zur Abwehr möglicher Insolvenzanfechtungsansprüche gegen die Finanzbehörde beschränkt wird, auf diese Verordnung gestützt werden kann.
Nachdem der Gerichtshof die Umstände seiner Anrufung durch das nationale Gericht geprüft hat, stellt er in seinem Urteil fest, dass er für die Beantwortung der vom Bundesverwaltungsgericht gestellten Fragen nicht zuständig ist.
Würdigung durch den Gerichtshof
Einleitend weist der Gerichtshof zu der in Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten darauf hin, dass es allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Allerdings hat der Gerichtshof zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird.
Hinsichtlich der Prüfung seiner Zuständigkeit in Vorabentscheidungsverfahren betont der Gerichtshof, dass er wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht hat, die Unionsvorschriften in Fällen betrafen, in denen der jeweilige Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht unter das Unionsrecht und daher allein in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fiel, aber die betreffenden Unionsvorschriften durch einen Verweis im nationalen Recht auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden waren. Diese Zuständigkeit wird durch das offensichtliche Interesse der Unionsrechtsordnung daran begründet, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu vermeiden.
Unter Hinweis darauf, dass sich seine Zuständigkeit auf die Prüfung der Bestimmungen des Unionsrechts beschränkt, führt der Gerichtshof aus, dass er in seiner Antwort an das vorlegende Gericht nicht die allgemeine Systematik der Vorschriften des nationalen Rechts berücksichtigen kann, die gleichzeitig mit der Verweisung auf das Unionsrecht den Umfang dieser Verweisung festlegen. Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Unionsrechts auf rein interne Sachverhalte, auf die es nur mittelbar kraft des nationalen Gesetzes anwendbar ist, setzen wollte, gilt nämlich das innerstaatliche Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind.
Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Vorlagefragen die Auslegung der DSGVO betreffen, deren Bestimmungen hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten natürlicher Personen über einen Verweis in der Abgabenordnung auf juristische Personen für entsprechend anwendbar erklärt wurden, um für die Informationspflicht der Finanzbehörde und das Auskunftsrecht der betroffenen Person gegenüber dieser Behörde einen Rahmen zu schaffen. Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass die DSGVO Bestimmungen zum Schutz personenbezogener Daten natürlicher Personen enthält und nicht die Daten erfasst, die juristische Personen betreffen. Eine Auslegung von Bestimmungen der DSGVO kann daher hinsichtlich natürlicher Personen und hinsichtlich juristischer Personen nicht in gleicher Weise erfolgen, da das Recht juristischer Personen auf Datenschutz durch die DSGVO nicht definiert wurde.
Da sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften der Abgabenordnung nicht darauf beschränken, die Bestimmungen der DSGVO außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Verordnung für anwendbar zu erklären, sondern deren Ziel und Tragweite verändern, kann nach Ansicht des Gerichtshofs nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorschriften des Unionsrechts als solche durch das betreffende nationale Recht, und sei es auch außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung, für anwendbar erklärt worden sind. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass kein offensichtliches Interesse an der Auslegung der Bestimmungen der DSGVO besteht, um sicherzustellen, dass diese einheitlich erfolgt.
Deshalb stellt der Gerichtshof fest, dass er für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen nicht zuständig ist.
( 1 ) Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (ABl. 2016, L 119, S. 1) (im Folgenden: DSGVO).
( 2 ) Art. 1 Abs. 1 und Art. 4 Nr. 1 der DSGVO.
( 3 ) Art. 15 der DSGVO.
( 4 ) Abgabenordnung (BGBl. 2002 I S. 3866) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Abgabenordnung oder AO).
( 5 ) Art. 23 Abs. 1 Buchst. j der DSGVO.