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Document 62018CJ0546

    Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 9. September 2021.
    FN u. a. gegen Übernahmekommission.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gesellschaftsrecht – Übernahmeangebote – Richtlinie 2004/25/EG – Art. 5 – Pflichtangebot – Art. 4 – Aufsichtsstelle – Rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots festgestellt wird – Bindungswirkung dieser Entscheidung in einem späteren, von derselben Behörde eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahren – Unionsrechtlicher Effektivitätsgrundsatz – Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Verteidigungsrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Aussageverweigerungsrecht – Unschuldsvermutung – Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.
    Rechtssache C-546/18.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:711

    Rechtssache C-546/18

    FN u. a.

    gegen

    Übernahmekommission

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Österreich])

    Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 9. September 2021

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gesellschaftsrecht – Übernahmeangebote – Richtlinie 2004/25/EG – Art. 5 – Pflichtangebot – Art. 4 – Aufsichtsstelle – Rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots festgestellt wird – Bindungswirkung dieser Entscheidung in einem späteren, von derselben Behörde eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahren – Unionsrechtlicher Effektivitätsgrundsatz – Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Verteidigungsrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Aussageverweigerungsrecht – Unschuldsvermutung – Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht“

    Niederlassungsfreiheit – Gesellschaften – Richtlinie 2004/25 – Übernahmeangebote – Aufsichtsstelle – Sanktionen – Rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots festgestellt wird – Bindungswirkung dieser Entscheidung in einem späteren, von derselben Behörde eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahren – Parteien dieses Verfahrens, die im Rahmen des vorangegangenen Feststellungsverfahrens weder die Verteidigungsrechte und das Aussageverweigerungsrecht geltend machen noch die Unschuldsvermutung nutzen konnten – Parteien, die über kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem Verfahren mit unbeschränkter Rechtmäßigkeitskontrolle verfügen – Unzulässigkeit

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 und 48; Richtlinie 2004/25 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 und 17)

    (vgl. Rn. 58-62, 70, 71 und Tenor)

    Zusammenfassung

    Mit Bescheid vom 22. November 2016 stellte die Übernahmekommission (Österreich) fest, dass GM, eine natürliche Person, und vier Gesellschaften gemeinsam vorgegangen seien, um eine andere Gesellschaft zum Abschluss einer Transaktion zu bewegen, die zu einem erheblichen Ausbau der Beteiligung ihres größten Aktionärs geführt hätte. Da die fraglichen Parteien eine kontrollierende Beteiligung im Sinne der österreichischen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2004/25 ( 1 ) an der betreffenden Gesellschaft hielten, vertrat die Übernahmekommission die Ansicht, dass sie ein Übernahmeangebot hätten abgeben müssen.

    Nachdem dieser Bescheid rechtskräftig geworden war, leitete die Übernahmekommission Verwaltungsstrafverfahren gegen GM und zwei weitere natürliche Personen, HL und FN, ein, die als Vorstandsmitglied bzw. Direktor von zwei der vom Bescheid vom 22. November 2016 erfassten Gesellschaften belangt wurden.

    Mit Erkenntnissen vom 29. Januar 2018 verhängte die Übernahmekommission gegen GM, HL und FN Verwaltungssanktionen, die insbesondere auf die Tatsachenfeststellungen im Bescheid vom 22. November 2016 gestützt waren.

    Das Bundesverwaltungsgericht (Österreich), bei dem Beschwerden gegen die Erkenntnisse vom 29. Januar 2018 eingelegt wurden, hegt Zweifel an der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Verwaltungspraxis der Übernahmekommission mit dem Unionsrecht. Nach österreichischem Recht binde ein Bescheid wie der vom 22. November 2016, mit dem ein Verstoß festgestellt worden sei, mit Eintritt der Rechtskraft nicht nur die Behörde, die ihn erlassen habe, sondern auch die anderen Verwaltungsbehörden und Gerichte, die in anderen Verfahren über dieselbe Sach- und Rechtslage zu entscheiden hätten, sofern die betroffenen Parteien identisch seien.

    In Bezug auf HL und FN bezweifelt das Bundesverwaltungsgericht, dass eine solche Identität vorliege, da sie im Verfahren zur Feststellung des Verstoßes nicht als „Partei“ in Erscheinung getreten seien, sondern lediglich als Vertreter von zwei der an diesem Verfahren beteiligten Gesellschaften gehandelt hätten. Dennoch habe die Übernahmekommission im Verwaltungsstrafverfahren dem Bescheid vom 22. November 2016 auch in Bezug auf HL und FN Bindungswirkung beigemessen. Da diesen nicht die Stellung einer „Partei“ im Feststellungsverfahren zuerkannt worden sei, hätten sie sich nicht auf alle einer „Partei“ zustehenden Verfahrensrechte, einschließlich des Aussageverweigerungsrechts, berufen können.

    Mit seinen Fragen möchte das Bundesverwaltungsgericht wissen, ob die Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25 im Licht der durch das Unionsrecht garantierten Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, sowie der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis wie derjenigen der Übernahmekommission entgegenstehen.

    Würdigung durch den Gerichtshof

    Da die Richtlinie 2004/25 keine Vorschriften enthält, die die Wirkungen regeln, die die gemäß dieser Richtlinie erlassenen rechts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen in späteren Verfahren entfalten, fallen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften unter die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, vorbehaltlich der Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Somit steht die Richtlinie 2004/25 grundsätzlich weder der Einrichtung eines Verwaltungsverfahrens, das wie im vorliegenden Fall in zwei verschiedene Phasen gegliedert ist, noch einer Praxis entgegen, die rechts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen in späteren Verfahren Bindungswirkung verleiht. Eine solche Praxis kann nämlich dazu beitragen, die Effizienz der Verwaltungsverfahren sicherzustellen, mit denen die Nichtbeachtung der Vorschriften der Richtlinie 2004/25 festgestellt und geahndet werden soll, und damit deren praktische Wirksamkeit zu gewährleisten. Allerdings müssen die den betroffenen Parteien durch das Unionsrecht, insbesondere durch die Charta der Grundrechte, garantierten Rechte in den beiden Verfahrensphasen gewahrt werden.

    In Bezug auf Personen wie GM, die Partei des Verfahrens waren, das zum Erlass einer Entscheidung geführt hat, mit der ein Verstoß festgestellt wurde, steht es den Mitgliedstaaten frei, einer solchen Entscheidung Bindungswirkung für ein späteres Verfahren zuzuerkennen, das darauf gerichtet ist, gegen die nämlichen Personen wegen dieses Verstoßes eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, sofern diese Personen in dem Feststellungsverfahren ihre Grundrechte wie die Verteidigungsrechte, das Aussageverweigerungsrecht und die Unschuldsvermutung geltend machen konnten.

    Anders verhält es sich angesichts des subjektiven Charakters der Verteidigungsrechte dagegen bei Personen wie HL und FN, die nicht Parteien des Feststellungsverfahrens waren, auch wenn sie sich an diesem Verfahren als vertretungsbefugte Organe einer juristischen Person, gegen die sich dieses Verfahren richtete, beteiligen konnten. Daher muss die Verwaltungsbehörde im Rahmen eines gegen eine natürliche Person gerichteten Verwaltungsstrafverfahrens die Bindungswirkung außer Acht lassen, die mit Beurteilungen verbunden ist, die in einer rechts- bzw. bestandskräftigen Entscheidung enthalten sind, mit der der dieser Person zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, ohne dass diese Person diese Beurteilungen in Wahrnehmung ihrer eigenen Verteidigungsrechte persönlich hätte anfechten können. Ebenso läuft es dem Aussageverweigerungsrecht zuwider, wenn eine solche Person dieses Recht nicht in Bezug auf Tatsachen geltend machen konnte, auf die später der Tatvorwurf gestützt wird und die somit Auswirkungen auf die Verurteilung oder die verhängte Sanktion haben werden. Darüber hinaus steht die Unschuldsvermutung dem entgegen, dass eine natürliche Person im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens für einen Verstoß zur Verantwortung gezogen wird, der durch eine Entscheidung festgestellt wurde, die rechts- bzw. bestandskräftig geworden ist, ohne dass diese Person sie in Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf anfechten konnte, und die von ihr auch nicht mehr vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das zur Entscheidung sowohl in Sach- als auch in Rechtsfragen befugt ist, angefochten werden kann. Dieses Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf muss allen Parteien des Verfahrens zur Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion unabhängig davon zustehen, ob sie Parteien des früheren Feststellungsverfahrens waren oder nicht.


    ( 1 ) Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote (ABl. 2004, L 142, S. 12).

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