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Document 62017CJ0517

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 16. Juli 2020.
    Milkiyas Addis gegen Bundesrepublik Deutschland.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 14 und 34 – Pflicht, der Person, die internationalen Schutz beantragt, vor dem Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben – Verletzung der Pflicht im erstinstanzlichen Verfahren – Folgen.
    Rechtssache C-517/17.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:579

    Rechtssache C517/17

    Milkiyas Addis

    gegen

    Bundesrepublik Deutschland

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts)

     Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 16. Juli 2020

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 14 und 34 – Pflicht, der Person, die internationalen Schutz beantragt, vor dem Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben – Verletzung der Pflicht im erstinstanzlichen Verfahren – Folgen“

    1.        Grundrechte – Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung – Tragweite – Systemische Mängel nach Abschluss des Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensbedingungen der Schutzberechtigten – Verbot für die anderen Mitgliedstaaten, einen Asylantrag mit der Begründung als unzulässig zurückzuweisen, dass in diesem Mitgliedstaat der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde – Voraussetzungen – Würdigung, ob diese Mängel vorliegen – Kriterien – Erfordernis einer Situation extremer materieller Not

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 4; Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 33 Abs. 2 Buchst. a)

    (vgl. Rn. 47-49)

    2.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – Antrag, der von den Mitgliedstaaten als unzulässig betrachtet werden kann – Grund – Zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gewährter internationaler Schutz – Pflicht, vor dem Erlass der Unzulässigkeitsentscheidung Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben – Verletzung – Folgen – Anwendung des nationalen Rechts – Grenzen – Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität

    (Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Erwägungsgründe 16, 18, 22, 29 und 32 sowie Art. 4, 14, 15 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 2 und Art. 34)

    (vgl. Rn. 54-66)

    3.        Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32 – Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz – Antrag, der von den Mitgliedstaaten als unzulässig betrachtet werden kann – Grund – Zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gewährter internationaler Schutz – Pflicht, vor dem Erlass der Unzulässigkeitsentscheidung Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben – Verletzung – Folgen – Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung und Zurückverweisung an die Asylbehörde – Fehlen – Unzulässigkeit – Ausnahme

    (Richtlinie 2013/32 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 14, 33 Abs. 2 Buchst. a und 34)

    (vgl. Rn. 43-46, 51, 67, 68, 70, 71 und Tenor)

    Zusammenfassung

    Im Urteil Addis (C‑517/17) vom 16. Juli 2020 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Art. 14 und 34 der Richtlinie 2013/32 über gemeinsame Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes(1) (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) einer Regelung entgegenstehen, nach der eine Verletzung der Pflicht, der Person, die internationalen Schutz beantragt, vor dem Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben, mit der Begründung, dass ein anderer Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat(2), nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Asylbehörde führt. Anders verhält es sich nur dann, wenn die Person, die internationalen Schutz beantragt, im Rahmen des Verfahrens eines gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelfs in einer die gemäß Art. 15 der Richtlinie geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien wahrenden Anhörung die Möglichkeit hat, persönlich alle gegen die Entscheidung sprechenden Umstände vorzutragen, und trotz dieses Vorbringens keine andere Entscheidung ergehen kann.

    Der Kläger des Ausgangsverfahrens, nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Eritreas, reiste im September 2011 nach Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Da seine Fingerkuppen Verstümmelungen aufwiesen, konnte zunächst keine Identifizierung durchgeführt werden. Erst im Januar 2013 stellte sich heraus, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens bereits zuvor in Italien den Flüchtlingsstatus erhalten hatte. Mit Bescheid vom 18. Februar 2013 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag des Klägers des Ausgangsverfahrens als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Die dagegen erhobene Klage war im ersten Rechtszug erfolglos. Im Berufungsverfahren wurde die Abschiebungsanordnung nach Italien aufgehoben, weil nicht festgestanden habe, ob die Übernahmebereitschaft Italiens fortbestanden habe, nachdem die Gültigkeit der Aufenthaltserlaubnis und des Reiseausweises, die dem Kläger von den italienischen Behörden ausgestellt worden seien, am 5. Februar 2015 abgelaufen sei. Im Übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Der Kläger des Ausgangsverfahrens legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein. Er rügte u. a., das Bundesamt habe vor Erlass des Bescheids vom 18. Februar 2013 nicht von einer persönlichen Anhörung absehen dürfen.

    Der Gerichtshof hat zunächst festgehalten, dass die Verfahrensrichtlinie eindeutig die Pflicht festlegt, der Person, die internationalen Schutz beantragt, Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu geben, bevor eine Entscheidung über ihren Antrag getroffen wird. Diese Pflicht gilt für Entscheidungen sowohl über die Zulässigkeit als auch in der Sache

    Beabsichtigt die Asylbehörde, einen Antrag auf internationalen Schutz mit der Begründung als unzulässig abzulehnen, dass dem Antragsteller dieser Schutz bereits von einem anderen Mitgliedstaat zuerkannt worden sei, soll die persönliche Anhörung über die Zulässigkeit dem Antragsteller vor allem die Möglichkeit geben, sich zu allen Umständen seines spezifischen Falls zu äußern, damit die Asylbehörde die spezifische Situation sowie die Schutzbedürftigkeit des Antragstellers beurteilen und ausschließen kann, dass er im Fall einer Überstellung in diesen anderen Mitgliedstaat ernsthaft Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) ausgesetzt zu werden.

    Verfügen die Behörden eines Mitgliedstaats über Angaben, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen einer solchen Gefahr in dem Mitgliedstaat, der bereits internationalen Schutz zuerkannt hat, nachzuweisen, sind sie verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Im Übrigen ist nicht völlig auszuschließen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, außergewöhnliche Umstände nachweisen kann, die ihr eigen sind und im Fall ihrer Überstellung in den Mitgliedstaat, der ihr bereits internationalen Schutz zuerkannt hat, bedeuten würden, dass sie aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit der Gefahr einer gegen Art. 4 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt wäre.

    Sodann hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Ausnahme vom Grundsatz der persönlichen Anhörung des Antragstellers zur Zulässigkeit seines Antrags auf internationalen Schutz nur dann möglich ist, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, was hier nicht der Fall ist.

    Da die Verfahrensrichtlinie die Rechtsfolgen einer Verletzung der in Rede stehenden Pflicht zur persönlichen Anhörung nicht ausdrücklich regelt, richten diese sich nach nationalem Recht, wobei der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz zu wahren sind. In Bezug auf den Äquivalenzgrundsatz sind für den Gerichtshof keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende diesen Grundsatz verletzt; was den Effektivitätsgrundsatz betrifft, betont der Gerichtshof die grundlegende Bedeutung, die der Unionsgesetzgeber der persönlichen Anhörung für das Asylverfahren bereits im erstinstanzlichen Verfahren vor der Asylbehörde beimisst. Überdies misst der Unionsgesetzgeber nicht nur dem Abhalten der Anhörung als solchen grundlegende Bedeutung bei, sondern auch den Bedingungen, unter denen diese stattzufinden hat und mit denen gewährleistet wird, dass jeder Antragsteller aufgrund seines Geschlechts und seiner besonderen Umstände über angemessene Verfahrensgarantien verfügt.

    Unter diesen Umständen wäre es mit der praktischen Wirksamkeit der Verfahrensrichtlinie unvereinbar, wenn das mit dem Rechtsbehelf befasste Gericht eine von der Asylbehörde unter Verletzung der Pflicht, dem Antragsteller Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz zu geben, erlassene Entscheidung bestätigen könnte, ohne selbst den Antragsteller unter Wahrung der im Einzelfall anwendbaren grundlegenden Bedingungen und Garantien anzuhören. Ohne eine solche Anhörung wäre das Recht des Antragstellers auf eine persönliche Anhörung unter Bedingungen, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten und ihm eine umfassende Darlegung der Gründe seines Antrags gestatten, zu keinem Zeitpunkt des Asylverfahrens gewährleistet.

    Dabei kann die fehlende Anhörung weder durch die Möglichkeit des Antragstellers, in seinem Rechtsbehelf schriftlich die Umstände darzulegen, die die Gültigkeit der über seinen Schutzantrag erlassenen Unzulässigkeitsentscheidung in Frage stellen, noch durch die Pflicht der Asylbehörde und des mit dem Rechtsbehelf befassten Gerichts, alle relevanten Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln, geheilt werden. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob dem Kläger des Ausgangsverfahrens im Rahmen jenes Verfahrens unter uneingeschränkter Beachtung der geltenden grundlegenden Bedingungen und Garantien Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung gegeben wurde oder noch gegeben werden kann, damit er sich persönlich in einer Sprache, die er beherrscht, äußern kann.


    1      Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


    2      Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32.

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