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Document 62017CJ0073

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. Oktober 2018.
    Französische Republik gegen Europäisches Parlament.
    Nichtigkeitsklage – Institutionelles Recht – Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union – Europäisches Parlament – Begriff der ‚Haushaltstagung‘, die in Straßburg (Frankreich) stattfindet – Art. 314 AEUV – Ausübung der Haushaltsbefugnis im Rahmen einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel (Belgien).
    Rechtssache C-73/17.

    Court reports – general

    Rechtssache C‑73/17

    Französische Republik

    gegen

    Europäisches Parlament

    „Nichtigkeitsklage – Institutionelles Recht – Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union – Europäisches Parlament – Begriff der ‚Haushaltstagung‘, die in Straßburg (Frankreich) stattfindet – Art. 314 AEUV – Ausübung der Haushaltsbefugnis im Rahmen einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel (Belgien)“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. Oktober 2018

    1. Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Legislative Entschließung des Parlaments, mit der der gemeinsame Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union in zweiter Lesung gebilligt wird – Einbeziehung

      (Art. 263 AEUV und Art. 314 Abs. 6 AEUV)

    2. Europäische Union – Sitz der Organe – Protokolle über die Sitze der Organe, mit denen der Sitz des Parlaments in Straßburg festgelegt wird – Tragweite – Verpflichtung, dort die Haushaltstagung abzuhalten – Begriff der Haushaltstagung

      (Art. 314 Abs. 4 Buchst. c, 5 und 6 AEUV; Protokoll Nr. 3 zum EAG-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a; Protokoll Nr. 6 zum EU- und zum AEU-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a)

    3. Haushalt der Europäischen Union – Haushaltsverfahren – Annahme des gemeinsamen Entwurfs des Jahreshaushaltsplans, der sich aus dem Vermittlungsverfahren ergeben hat – Verpflichtungen des Parlaments in Bezug auf die Aussprache und die Abstimmung

      (Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV; Art. 314 Abs. 6 und 7 Buchst. a AEUV)

    4. Europäische Union – Sitz der Organe – Protokolle über die Sitze der Organe, mit denen der Sitz des Parlaments in Straßburg festgelegt wird – Tragweite – Zuständigkeit der Mitgliedstaaten – Interne Organisationsgewalt des Parlaments – Voraussetzungen für die Ausübung – Gegenseitige Verpflichtung zur Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten

      (Protokoll Nr. 3 zum EAG-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a; Protokoll Nr. 6 zum EU- und zum AEU-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a)

    5. Europäische Union – Sitz der Organe – Protokolle über die Sitze der Organe, mit denen der Sitz des Parlaments in Straßburg festgelegt wird – Tragweite – Verpflichtung, dort die Haushaltstagung abzuhalten – Tragweite – Grenzen – Ausübung der Haushaltsbefugnis im Rahmen einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel, um die Abstimmung über einen gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union innerhalb der geltenden Frist zu ermöglichen – Zulässigkeit

      (Art. 314 AEUV; Protokoll Nr. 3 zum EAG-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a; Protokoll Nr. 6 zum EU- und zum AEU-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a)

    6. Haushalt der Europäischen Union – Haushaltsverfahren – Feststellung des Parlamentspräsidenten, dass der Haushaltsplan endgültig festgestellt sei – Frist für die Annahme – Fehlen – Pflicht des Präsidenten des Parlaments, vor der Feststellung des Abschlusses des Haushaltsverfahrens die nächste ordentliche Plenartagung in Straßburg abzuwarten – Fehlen

      (Art. 314 Abs. 9 AEUV; Protokoll Nr. 3 zum EAG-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a; Protokoll Nr. 6 zum EU- und zum AEU-Vertrag, einziger Artikel Buchst. a)

    1.  Eine Klage gegen eine legislative Entschließung des Europäischen Parlaments, mit der der gemeinsame Entwurf des Jahreshaushaltsplans der Union in zweiter Lesung gemäß Art. 314 Abs. 6 AEUV gebilligt wird, ist zulässig.

      Nach dieser Bestimmung übt nämlich jedes Organ die ihm im Haushaltsbereich übertragenen Befugnisse unter Beachtung der Vorschriften des Vertrags aus. Wären die verschiedenen Handlungen der Haushaltsbehörde der Überwachung durch den Gerichtshof entzogen, könnten die Organe, die zusammen die Haushaltsbehörde bilden, in die Befugnisse der Mitgliedstaaten oder der anderen Organe eingreifen oder die Grenzen ihrer Befugnisse überschreiten.

      (vgl. Rn. 16)

    2.  Der Begriff „Haushaltstagung“ im einzigen Artikel Buchst. a des Protokolls über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, das dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag und dem EAG-Vertrag beigefügt ist, umfasst nicht nur die ordentliche Plenartagung, die der Prüfung des Entwurfs des Haushaltsplans durch das Parlament in erster Lesung gewidmet ist, sondern auch die zweite Lesung gemäß Art. 314 Abs. 6 AEUV, die eine öffentliche Aussprache und Abstimmung in Plenarsitzung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans, der sich aus dem Vermittlungsverfahren ergeben hat, sicherstellt.

      Die Ausübung der Haushaltsbefugnisse durch das Europäische Parlament in der Plenarsitzung hat eine besondere Bedeutung für die Transparenz und die demokratische Legitimation der Handlungen der Union, die auf ihrem jährlichen Haushaltsplan beruhen. Die Transparenz und die Legitimation können nicht allein durch die erste Lesung des Haushaltsentwurfs im Rahmen des Haushaltsverfahrens nach Art. 314 AEUV gewährleistet werden, wenn das Parlament gemäß Art. 314 Abs. 4 Buchst. c AEUV Abänderungen an diesem Entwurf annimmt. Die Ausübung der Haushaltszuständigkeit durch das Parlament, die es in Plenarsitzung wahrnimmt, stellt ein grundlegendes Element des demokratischen Lebens der Union dar und bedarf insbesondere einer öffentlichen Erörterung in Plenarsitzung, die es den Unionsbürgern ermöglicht, von den unterschiedlichen zum Ausdruck gebrachten politischen Ausrichtungen Kenntnis zu nehmen und sich damit eine politische Meinung über die Handlungen der Union zu bilden. Außerdem ist die Transparenz der parlamentarischen Beratung in Plenarsitzung geeignet, die demokratische Legitimation des Haushaltsverfahrens für die Unionsbürger und die Glaubwürdigkeit der Handlungen der Union zu stärken.

      Das Vermittlungsverfahren nach Art. 314 Abs. 4 Buchst. c und Abs. 5 AEUV kann aber zu wesentlichen Änderungen des Entwurfs des Haushaltsplans führen, die vom Parlament in der ersten Lesung nicht geprüft worden sind und auch nicht Gegenstand einer öffentlichen Erörterung im Vermittlungsausschuss waren. Die Sitzungen dieses Ausschusses sind nicht öffentlich und finden unter der Beteiligung von 28 Mitgliedern des Parlaments statt, was die Mehrheitsverhältnisse im Parlament widerspiegelt, ohne jedoch die politischen Interessen aller Mitglieder dieses Organs vollständig zu vertreten.

      (vgl. Rn. 34-37)

    3.  Dieser Entwurf kann mangels einer Aussprache und einer Abstimmung des Parlaments über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans innerhalb der in Art. 314 Abs. 6 AEUV niedergelegten Frist von 14 Tagen unter den Voraussetzungen des Art. 314 Abs. 7 Buchst. a AEUV durch den Rat allein angenommen werden. Es ist aber von besonderer Bedeutung für die Transparenz und die demokratische Legitimation der Handlungen der Union, die sich im Verfahren über den Erlass des Jahreshaushaltsplans offenbaren, dass das Parlament seine ihm nach Art. 314 Abs. 6 AEUV zustehende Befugnis ausübt und in Plenarsitzung über diesen gemeinsamen Entwurf entscheidet.

      Folglich ist das Parlament gehalten, in diesem Bereich mit größter Aufmerksamkeit, Genauigkeit und allem Einsatz, den eine solche Verantwortung erfordert, zu handeln, was voraussetzt, dass die parlamentarische Aussprache und Abstimmung auf Texten beruhen, die den Abgeordneten rechtzeitig und in alle Amtssprachen der Union übersetzt übermittelt werden. Die Union ist nämlich der Mehrsprachigkeit verbunden, deren Bedeutung in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV hervorgehoben wird.

      (vgl. Rn. 40, 41)

    4.  Siehe Text der Entscheidung.

      (vgl. Rn. 43)

    5.  Das Europäische Parlament ist verpflichtet, seine Haushaltsbefugnisse während einer ordentlichen Plenartagung in Straßburg auszuüben, ohne dass diese Verpflichtung, die sich aus dem einzigen Artikel Buchst. a des Protokolls über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, das dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag und dem EAG-Vertrag beigefügt ist, ergibt, jedoch dem entgegensteht, dass der Jahreshaushaltsplan, wenn es für den reibungslosen Ablauf des Haushaltsverfahrens im Sinne von Art. 314 AEUV erforderlich ist, in einer zusätzlichen Plenartagung in Brüssel erörtert und dort über ihn abgestimmt wird. Ein Ablauf dieses Verfahrens, der der Beachtung des einzigen Artikels Buchst. a des Protokolls über die Sitze der Organe absoluten Vorrang vor der vollständigen Teilnahme des Parlaments an diesem Verfahren gibt, wäre mit diesen Bestimmungen unvereinbar, wonach diese Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Wenn es diese Anforderungen miteinander in Einklang bringt, verfügt das Parlament über einen Ermessensspielraum, der sich aus den Geboten im Zusammenhang mit dem reibungslosen Ablauf des Haushaltsverfahrens ergibt.

      Demnach begeht das Parlament in dem Fall, dass der Entwurf für den Jahreshaushaltsplan der Union Gegenstand eines Vermittlungsverfahrens zwischen dem Parlament und dem Rat ist, keinen Ermessensfehler, indem es die Aussprache und die Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans, der sich aus diesem Verfahren ergeben hat, auf die Tagesordnung der nächsten zusätzlichen Plenartagung in Brüssel setzt und indem es diesen Entwurf durch legislative Entschließung in der gleichen Plenartagung billigt. Vor diesem Hintergrund kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, das Parlament hätte über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans während der ordentlichen Plenartagung in Straßburg entscheiden können, die vier Tage nach der Übermittlung dieses gemeinsamen Entwurfs durch den Rat an das Parlament begonnen hat. Die vollständige Ausschöpfung der in Art. 314 Abs. 6 AEUV vorgesehenen Frist durch das Parlament kann aber die Rechtmäßigkeit der Tagesordnungen der Plenarsitzungen sowie der legislativen Entschließung im Hinblick auf das Protokoll über die Sitze der Organe nicht in Frage stellen. Das Parlament hat das Recht, die ihm durch die Bestimmungen des Art. 314 AEUV gesetzten Fristen vollständig auszuschöpfen. Außerdem nehmen die internen Debatten in den verschiedenen politischen Gruppen und in der Haushaltskommission erhebliche Zeit in Anspruch, die besonders wichtig ist, um die Haushaltsdebatte und ‑abstimmung in Plenarsitzung vorzubereiten und insbesondere, um eine Mehrheit zu bekommen.

      (vgl. Rn. 44, 45, 56, 61)

    6.  Der AEU-Vertrag räumt dem Präsidenten des Europäischen Parlaments keine Frist für die Erlassung der Handlung ein, mit der festgestellt wird, dass der Jahreshaushaltsplan der Union endgültig erlassen ist, da dieser Erlass gemäß Art. 314 Abs. 9 AEUV nach Abschluss des Verfahrens dieses Artikels zu erfolgend hat.

      Diese Handlung steht nämlich in engem Zusammenhang mit der Abstimmung über den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans in zweiter Lesung. Die Handlung des Präsidenten, der nach Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens feststellt, dass der Jahreshaushaltsplan endgültig erlassen ist, stellt den letzten Schritt im Verfahren zum Erlass dieses Haushaltsplans dar und verleiht diesem Bindungswirkung. Da das Parlament in Anbetracht der notwendigen Vermittlung zwischen den Anforderungen des einzigen Artikels Buchst. a des Protokolls über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, das dem EU-Vertrag, dem AEU-Vertrag und dem EAG-Vertrag beigefügt ist, und denjenigen des Art. 314 AEUV das Recht hat, den gemeinsamen Entwurf des Jahreshaushaltsplans in der zusätzlichen Plenartagung in Brüssel zu erörtern und darüber abzustimmen, trifft somit der Präsident dieses Organs diese Feststellung während eben dieser Plenartagung.

      Im Übrigen kann angesichts der Bedeutung des Erlasses des Jahreshaushaltsplans für die Handlungen der Union nicht verlangt werden, dass der Präsident des Parlaments die nächste ordentliche Plenartagung in Straßburg abwartet, um den Abschluss des Haushaltsverfahrens festzustellen und dem Jahreshaushaltsplan der Union Bindungswirkung zu verleihen.

      (vgl. Rn. 62-64)

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