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Document 62016CJ0530

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 13. Juni 2018.
Europäische Kommission gegen Republik Polen.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Eisenbahnsicherheit – Richtlinie 2004/49/EG – Kein Erlass der Vorschriften, die erforderlich sind, um die Unabhängigkeit der Untersuchungsstelle zu gewährleisten.
Rechtssache C-530/16.

Rechtssache C‑530/16

Europäische Kommission

gegen

Republik Polen

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Eisenbahnsicherheit – Richtlinie 2004/49/EG – Kein Erlass der Vorschriften, die erforderlich sind, um die Unabhängigkeit der Untersuchungsstelle zu gewährleisten“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 13. Juni 2018

  1. Vertragsverletzungsklage–Klageschrift–Darlegung der Rügen und Klagegründe–Formerfordernisse–Verpflichtung zur Einreichung einer zusammenhängenden und detaillierten Darlegung der Gründe

    (Art. 258 AEUV; Satzung des Gerichtshofs, Art. 21 Abs. 1; Verfahrensordnung des Gerichtshofs, Art. 120 Buchst. c)

  2. Vertragsverletzungsklage–Streitgegenstand–Bestimmung während des Vorverfahrens–Abweichende Formulierung der Rügen ohne Änderung oder Erweiterung des Streitgegenstands–Zulässigkeit

    (Art. 258 AEUV)

  3. Verkehr–Eisenbahnverkehr–Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft–Richtlinie 2004/49–Untersuchung von Unfällen und Störungen–Untersuchungsstelle–Gebot der Unabhängigkeit–Fehlen oder Unzulänglichkeit des rechtlichen Rahmens–Verstoß

    (Richtlinie 2004/49 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Abs. 1)

  4. Verkehr–Eisenbahnverkehr–Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft–Richtlinie 2004/49–Untersuchung von Unfällen und Störungen–Untersuchungsstelle–Gebot der Unabhängigkeit–Nationale Regelung, nach der eine Behörde, die die Fahrwegbetreiber und Eisenbahnunternehmen kontrolliert, die Mitglieder der Untersuchungsstelle ernennen und abberufen darf–Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2004/49 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Abs. 1)

  5. Verkehr–Eisenbahnverkehr–Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft–Richtlinie 2004/49–Untersuchung von Unfällen und Störungen–Untersuchungsstelle–Gebot der Unabhängigkeit–Eingliederung der Untersuchungsstelle in das für Verkehrsangelegenheiten zuständige Ministerium–Zulässigkeit

    (Richtlinie 2004/49 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Abs. 1)

  6. Verkehr–Eisenbahnverkehr–Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft–Richtlinie 2004/49–Untersuchung von Unfällen und Störungen–Untersuchungsstelle–Gebot der Unabhängigkeit–Grenzen–Personal und Haushalt der Untersuchungsstelle

    (Richtlinie 2004/49 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Abs. 1)

  7. Verkehr–Eisenbahnverkehr–Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft–Richtlinie 2004/49–Untersuchung von Unfällen und Störungen–Untersuchungsstelle–Gebot der Unabhängigkeit–Nationale Regelung, nach der eine Behörde, die die Fahrwegbetreiber und Eisenbahnunternehmen kontrolliert, die Veröffentlichung von Entscheidungen der Untersuchungsstelle verhindern darf–Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2004/49 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 21 Abs. 1)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 28)

  2.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 30)

  3.  Die Kommission ist berechtigt, beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage wegen mangelnder Unabhängigkeit der Untersuchungsstelle im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2004/49 über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft zu erheben, ohne sich auf eine konkrete Situation berufen zu müssen, in der tatsächlich eine Beeinträchtigung dieser Unabhängigkeit eingetreten ist. Die Mitgliedstaaten sind nämlich verpflichtet, die Unabhängigkeit der Untersuchungsstelle durch den Erlass eines Katalogs an Vorschriften zu gewährleisten, die sicherstellen, dass sie ihre Aufgaben wahrnehmen kann, ohne Gefahr zu laufen, den Anordnungen oder dem Einfluss insbesondere von Fahrwegbetreibern oder Eisenbahnunternehmen unterworfen zu sein. Das Fehlen oder die Unzulänglichkeit eines solchen rechtlichen Rahmens kann schon allein einen Verstoß gegen Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie 2004/49 darstellen.

    (vgl. Rn. 32)

  4.  In Bezug auf öffentliche Stellen bezeichnet der Begriff der Unabhängigkeit in der Regel eine Stellung, die garantiert, dass die betreffende öffentliche Stelle völlig frei von Weisungen und Druck der Einrichtungen handeln kann, denen gegenüber ihre Unabhängigkeit zu wahren ist.

    Was insoweit die Unabhängigkeit der in Art. 21 der Richtlinie über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft genannten Untersuchungsstelle anbelangt, verbietet zwar keine Bestimmung dieser Richtlinie, dass der für Verkehrsangelegenheiten zuständige Minister alle Mitglieder der Untersuchungsstelle ernennen und abberufen kann, doch steht Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie, soweit er verlangt, dass die Untersuchungsstelle u. a. von Fahrwegbetreibern und Eisenbahnunternehmen organisatorisch unabhängig ist, dem entgegen, dass die Behörde, die einen Fahrwegbetreiber und ein Eisenbahnunternehmen kontrolliert, alle Mitglieder der Untersuchungsstelle ernennen und abberufen kann, wenn diese Befugnis nicht streng gesetzlich dahin geregelt ist, dass diese Behörde Entscheidungen auf der Grundlage objektiver, klar und abschließend aufgeführter sowie überprüfbarer Kriterien treffen muss.

    Insbesondere dann, wenn der für Verkehrsangelegenheiten zuständige Minister ein Eisenbahnunternehmen und einen Fahrwegbetreiber kontrolliert, ist der Umstand, dass er in Bezug auf die Benennung der Personen, die als nichtständige Mitglieder der Untersuchungsstelle an den Untersuchungen von Eisenbahnunfällen und ‑störungen mitwirken können, und in Bezug auf den Ausschluss anderer Personen von einer solchen Mitwirkung über ein weites Ermessen verfügt, nicht mit dem Erfordernis der organisatorischen Unabhängigkeit der Untersuchungsstelle vereinbar.

    (vgl. Rn. 67, 86, 93)

  5.  Was die Unabhängigkeit der in Art. 21 der Richtlinie über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft genannten Untersuchungsstelle betrifft, verbietet diese Richtlinie nicht die Eingliederung der Untersuchungsstelle in das für Verkehrsangelegenheiten zuständige Ministerium als solche.

    (vgl. Rn. 76)

  6.  Das Erfordernis der organisatorischen Unabhängigkeit der in Art. 21 der Richtlinie über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft genannten Untersuchungsstelle geht nicht so weit, dass ausgeschlossen wäre, dass der Untersuchungsstelle die Dienststellen und das Personal des für Verkehrsangelegenheiten zuständigen Ministeriums zur Verfügung gestellt werden. Dennoch ist es unerlässlich, dass ihr der Zugang zu solchen Ressourcen auf der Grundlage klarer Regeln garantiert wird, die der für Verkehrsangelegenheiten zuständige Minister nicht allein ändern kann. Ebenso ist es für die organisatorische Unabhängigkeit der Untersuchungsstelle nicht erforderlich, dass diese über eine eigene Haushaltslinie verfügt. Die Mitgliedstaaten können somit vorsehen, dass die Untersuchungsstelle haushaltsrechtlich einer bestimmten Abteilung des Ministeriums zugeordnet ist, sofern ihr ein unabhängiger Zugang zu den Finanzmitteln garantiert wird, die ihr zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewähren sind.

    (vgl. Rn. 99, 100)

  7.  Da die Öffentlichkeit der Entscheidungen der in Art. 21 der Richtlinie über Eisenbahnsicherheit in der Gemeinschaft genannten Untersuchungsstelle eine der wesentlichen Zielsetzungen des Verfahrens für die Untersuchung von Eisenbahnunfällen und ‑störungen darstellt, ist es nicht mit der für die Untersuchungsstelle geforderten Unabhängigkeit in ihren Entscheidungen vom Fahrwegbetreiber und vom Eisenbahnunternehmen zu vereinbaren, wenn eine Behörde, die diese beiden Unternehmen kontrolliert, in der Lage ist, die offizielle Veröffentlichung von Berichten zu verhindern, in denen gegebenenfalls diese beiden Unternehmen für den untersuchten Unfall oder die untersuchte Störung verantwortlich gemacht werden.

    (vgl. Rn. 109)

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