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Document 62015CV0003

    Gutachten des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. Februar 2017.
    Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV.
    Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV – Vertrag von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken – Art. 3 AEUV – Ausschließliche Außenzuständigkeit der Europäischen Union – Art. 207 AEUV – Gemeinsame Handelspolitik – Handelsaspekte des geistigen Eigentums – Internationale Übereinkunft, die gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 5 Abs. 3 Buchst. b und Abs. 4 – Ausnahmen und Beschränkungen zugunsten behinderter Personen.
    Rechtssache Gutachten 3/15.

    Court reports – general

    Gutachten 3/15

    Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV

    „Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV – Vertrag von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs blinder, sehbehinderter oder anderweitig lesebehinderter Personen zu veröffentlichten Werken – Art. 3 AEUV – Ausschließliche Außenzuständigkeit der Europäischen Union – Art. 207 AEUV – Gemeinsame Handelspolitik – Handelsaspekte des geistigen Eigentums – Internationale Übereinkunft, die gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 5 Abs. 3 Buchst. b und Abs. 4 – Ausnahmen und Beschränkungen zugunsten behinderter Personen“

    Leitsätze – Gutachten des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. Februar 2017

    1. Gemeinsame Handelspolitik–Internationale Übereinkünfte–Abschluss–Zuständigkeit der Union–Umfang–Vertrag von Marrakesch über den Zugang zu veröffentlichten Werken für sehbehinderte Personen–Ausschluss

      (Art. 3 Abs. 1 Buchst. e AEUV und 207 AEUV)

    2. Internationale Übereinkünfte–Abschluss–Zuständigkeit der Union–Vertrag von Marrakesch über den Zugang zu veröffentlichten Werken für sehbehinderte Personen–Ausschließlichkeit–Grundlage–Beeinträchtigung der in der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Regeln

      (Art. 3 Abs. 2 AEUV; Richtlinie 2001/29 des Europäischen Parlaments und des Rates, siebter Erwägungsgrund und Art. 5 Abs. 3 Buchst. b und Abs. 4)

    3. Internationale Übereinkünfte–Abschluss–Zuständigkeit der Union–Ausschließlichkeit–Grundlage–Beeinträchtigung gemeinsamer Regeln der Union–Beurteilungskriterien

      (Art. 3 Abs. 2 AEUV)

    1.  Der Abschluss des Vertrags von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs zu veröffentlichten Werken für blinde, sehbehinderte oder anderweitig lesebehinderte Personen fällt nicht unter die in Art. 207 AEUV definierte gemeinsame Handelspolitik. Folglich verfügt die Union nicht auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 1 Buchst. e AEUV über eine ausschließliche Zuständigkeit zum Abschluss des Vertrags.

      Der Zweck des Vertrags von Marrakesch besteht im Wesentlichen nämlich darin, die Lage der begünstigten Personen dadurch zu verbessern, dass er mit verschiedenen Mitteln, zu denen ein vereinfachter Verkehr mit Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format gehört, den Zugang dieser Personen zu veröffentlichten Werken erleichtert. Was sodann den Inhalt dieses Vertrags anbelangt, wird in dem Vertrag klargestellt, dass die Vertragsparteien zur Verwirklichung seiner Ziele zwei verschiedene und einander ergänzende Instrumente einsetzen müssen. Erstens bestimmt Art. 4 Abs. 1 des Vertrags, dass die Vertragsparteien eine Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf das Vervielfältigungsrecht, das Verbreitungsrecht und das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung vorsehen, um begünstigten Personen Vervielfältigungsstücke in einem zugänglichen Format leichter verfügbar zu machen. Zweitens stellen die Art. 5 und 6 des Vertrags von Marrakesch bestimmte Verpflichtungen für den grenzüberschreitenden Austausch von Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format auf.

      Was zunächst die Harmonisierung der Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf das Vervielfältigungsrecht, das Verbreitungsrecht und das Recht auf öffentliche Zugänglichmachung anbelangt, steht im zwölften Erwägungsgrund der Präambel des Vertrags ausdrücklich, dass diese Harmonisierung den begünstigten Personen den Zugang zu und die Nutzung von Werken erleichtern soll. Des Weiteren ist Art. 4 des Vertrags von Marrakesch nicht geeignet, eine Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften zu gewährleisten, durch die sich der internationale Handel erheblich erleichtern ließe, da die Vertragsparteien bei der Umsetzung dieses Artikels über ein weites Ermessen verfügen und sich aus Art. 12 des Vertrags ergibt, dass dieser weder bezwecken noch bewirken soll, den Vertragsparteien zu verbieten, in ihrem nationalen Recht andere als die in dem Vertrag vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen zugunsten der begünstigten Personen einzuführen. Im Übrigen kann das Vorbringen, dass von den Bestimmungen über die Rechte des geistigen Eigentums nur diejenigen über das Urheberpersönlichkeitsrecht nicht unter den Begriff „Handelsaspekte des geistigen Eigentums“ im Sinne von Art. 207 AEUV fielen, nicht durchgreifen, da es darauf hinausliefe, den Anwendungsbereich der gemeinsamen Handelspolitik übermäßig auszuweiten, indem mit dieser Politik Regeln verknüpft würden, die keinen spezifischen Bezug zum internationalen Handelsverkehr aufweisen. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Regeln des Vertrags von Marrakesch, die die Einführung einer Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf das Vervielfältigungsrecht, das Verbreitungsrecht und das Recht auf öffentliche Zugänglichmachung vorsehen, einen spezifischen Bezug zum internationalen Handelsverkehr aufweisen, der zur Folge hätte, dass sie die in Art. 207 AEUV genannten Handelsaspekte des geistigen Eigentums betreffen.

      Was sodann die Regeln des Vertrags von Marrakesch anbelangt, die für die Aus- und Einfuhr von Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format gelten, ist festzustellen, dass diese Regeln zweifellos den internationalen Verkehr mit solchen Vervielfältigungsstücken betreffen. Gleichwohl ist das Ziel zu berücksichtigen, das mit solchen Regeln verfolgt wird, um ihre Verknüpfung mit der gemeinsamen Handelspolitik zu beurteilen. Es ist davon auszugehen, dass die Art. 5, 6 und 9 dieses Vertrags nicht speziell den internationalen Handelsverkehr mit Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format fördern, erleichtern oder regeln sollen, sondern tatsächlich die Lage der begünstigten Personen dadurch verbessern sollen, dass sie ihnen den Zugang zu in anderen Vertragsparteien erstellten Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format erleichtern. Daher erweist sich die Erleichterung des grenzüberschreitenden Austauschs von Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format eher als ein Mittel zur Verwirklichung des nicht kommerziellen Ziels des Vertrags denn als ein ihm zugewiesenes eigenständiges Ziel. Zudem kann der vom Vertrag von Marrakesch erfasste Austausch aufgrund seiner Merkmale nicht dem internationalen Warenaustausch zu kommerziellen Zwecken gleichgestellt werden.

      Daher kann der bloße Umstand, dass die vom Vertrag von Marrakesch eingeführte Regelung möglicherweise auf tatsächlich oder potenziell kommerziell genutzte Werke angewandt werden kann und sie sich folglich gegebenenfalls indirekt auf den internationalen Handel mit solchen Werken auswirken kann, nicht bedeuten, dass sie unter die gemeinsame Handelspolitik fällt.

      (vgl. Rn. 70-73, 83-91, 100, 101)

    2.  Nach Art. 3 Abs. 2 AEUV hat die Union die ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluss internationaler Übereinkünfte, wenn der Abschluss einer solchen Übereinkunft in einem Gesetzgebungsakt der Union vorgesehen ist, wenn er notwendig ist, damit sie ihre interne Zuständigkeit ausüben kann, oder soweit er gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte. Eine zur Begründung einer ausschließlichen Außenzuständigkeit der Union geeignete Gefahr, dass durch völkerrechtliche Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gemeinsame Regeln der Union beeinträchtigt oder deren Tragweite verändert werden können, besteht dann, wenn diese Verpflichtungen in den Anwendungsbereich der genannten Regeln fallen. Die Feststellung einer solchen Gefahr setzt keine völlige Übereinstimmung zwischen dem von den völkerrechtlichen Verpflichtungen erfassten Bereich und dem Bereich der Unionsregelung voraus. Solche völkerrechtliche Verpflichtungen können Unionsregeln insbesondere dann beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern, wenn die Verpflichtungen einen Bereich betreffen, der bereits weitgehend von solchen Regeln erfasst ist.

      Der Abschluss des Vertrags von Marrakesch zur Erleichterung des Zugangs zu veröffentlichten Werken für blinde, sehbehinderte oder anderweitig lesebehinderte Personen fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Union, da alle von ihm vorgesehenen Verpflichtungen einen Bereich betreffen, der bereits weitgehend von gemeinsamen Regeln der Union erfasst ist, und der Abschluss dieses Vertrags diese Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern könnte. Die vom Vertrag von Marrakesch vorgesehene Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf die Rechte auf Vervielfältigung und auf öffentliche Wiedergabe muss nämlich im Rahmen des durch die Richtlinie 2001/29 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft harmonisierten Bereichs umgesetzt werden. Gleiches gilt für die von dem Vertrag vorgesehenen Aus- und Einfuhrregelungen, da sie letzten Endes darauf abzielen, im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei die öffentliche Wiedergabe oder Verbreitung von in einer anderen Vertragspartei veröffentlichten Vervielfältigungsstücken in einem zugänglichen Format zu gestatten, ohne die Zustimmung der Rechteinhaber einzuholen.

      Da die Mitgliedstaaten außerhalb des Rahmens der Unionsorgane keine völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen können, die ein Gebiet betreffen, das bereits weitgehend von gemeinsamen Regeln der Union erfasst ist, mag auch kein Widerspruch zwischen diesen Verpflichtungen und diesen Regeln bestehen, kann der Umstand, dass Art. 11 des Vertrags von Marrakesch eine Verpflichtung vorsieht, die der nach Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2001/29 vergleichbar ist, oder dass die in den Art. 4 bis 6 des Vertrags genannten Voraussetzungen als solche nicht mit den in Art. 5 Abs. 3 Buchst. b und Abs. 4 der Richtlinie 2001/29 genannten unvereinbar sind, selbst wenn er erwiesen wäre, jedenfalls nicht entscheidend sein.

      Der Unionsgesetzgeber hat, wie aus dem Titel der Richtlinie 2001/29 und ihrem siebten Erwägungsgrund hervorgeht, zwar nur eine teilweise Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte vorgenommen, doch kann diese Erwägung als solche nicht entscheidend sein. Denn eine internationale Übereinkunft, die einen vollständig harmonisierten Bereich abdeckt, könnte zwar gemeinsame Regeln beeinträchtigen oder deren Tragweite verändern, doch handelt es sich nur um eine der Situationen, in denen die im letzten Satzteil von Art. 3 Abs. 2 AEUV genannte Voraussetzung erfüllt ist. Desgleichen verfügen die Mitgliedstaaten beim Gebrauch der Möglichkeit, eine Ausnahme oder Beschränkung zugunsten behinderter Personen vorzusehen, zwar über ein Ermessen, doch geht dieses Ermessen auf die Entscheidung des Unionsgesetzgebers zurück, den Mitgliedstaaten diese Möglichkeit in dem durch die Richtlinie 2001/29 eingeführten harmonisierten rechtlichen Rahmen einzuräumen, mit dem ein hoher und homogener Schutz der Rechte auf Vervielfältigung, auf öffentliche Wiedergabe und auf Verbreitung gewährleistet wird. In diesem Zusammenhang legt Art. 5 Abs. 3 Buchst. b und Abs. 4 der Richtlinie 2001/29 keine Untergrenze für den Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte fest, da er die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, einen weiter gehenden Schutz dieser Rechte vorzusehen, unangetastet lässt, sondern ermächtigt vielmehr die Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme oder Beschränkung in Bezug auf die durch den Unionsgesetzgeber harmonisierten Rechte vorzusehen. Zudem handelt es sich um eine Möglichkeit, für die die streng geregelten unionsrechtlichen Voraussetzungen gelten.

      (vgl. Rn. 102, 105-107, 112-115, 117-119, 121, 126, 129, 130)

    3.  Siehe Text des Gutachtens.

      (vgl. Rn. 108)

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