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Document 62015CJ0317

    Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 15. Februar 2017.
    X gegen Staatssecretaris van Financiën.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Kapitalverkehr – Art. 64 AEUV – Kapitalverkehr mit Drittstaaten im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen – Auf einem schweizerischen Bankkonto gehaltene finanzielle Vermögenswerte – Nachforderungsbescheid – Nachforderungsfrist – Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats.
    Rechtssache C-317/15.

    Court reports – general

    Rechtssache C‑317/15

    X

    gegen

    Staatssecretaris van Financiën

    (Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Kapitalverkehr – Art. 64 AEUV – Kapitalverkehr mit Drittstaaten im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen – Auf einem schweizerischen Bankkonto gehaltene finanzielle Vermögenswerte – Nachforderungsbescheid – Nachforderungsfrist – Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 15. Februar 2017

    1. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr-Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern-Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten-Begriff der Beschränkungen, die am 31. Dezember 1993 bestehen-Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats-Möglichkeit der Anwendung in Fällen, die nichts mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben

      (Art. 63 Abs. 1 AEUV und Art. 64 Abs. 1 AEUV)

    2. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr-Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern-Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen-Begriff-Eröffnung eines Wertpapierkontos durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person bei einem Bankinstitut außerhalb der Union-Einbeziehung

      (Art. 64 Abs. 1 AEUV)

    3. Freier Kapital- und Zahlungsverkehr-Beschränkungen des Kapitalverkehrs mit dritten Ländern-Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen-Geltungsbereich-Verlängerung der Nachforderungsfrist bei Einkünften außerhalb des Wohnmitgliedstaats-Maßnahme, die weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln-Einbeziehung

      (Art. 64 Abs. 1 AEUV)

    1.  Art. 64 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er auf eine nationale Regelung Anwendung findet, die eine Beschränkung des von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehrs vorschreibt, wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist, selbst wenn diese Beschränkung auch in Fällen angewandt werden kann, die nichts mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten zu tun haben.

      Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus dem Wortlaut von Art. 64 Abs. 1 AEUV hervorgeht, dass diese Vorschrift eine Ausnahme von dem in Art. 63 Abs. 1 AEUV aufgestellten Verbot zugunsten der „Anwendung“ der Beschränkungen vorsieht, die am 31. Dezember 1993 aufgrund einzelstaatlicher Rechtsvorschriften für den Kapitalverkehr im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten bestehen. Die Anwendbarkeit von Art. 64 Abs. 1 AEUV hängt somit nicht vom Gegenstand der nationalen Regelung ab, die solche Beschränkungen enthält, sondern von deren Wirkung. Diese Vorschrift ist anzuwenden, wenn die nationale Regelung den Kapitalverkehr im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, mit der Niederlassung, der Erbringung von Finanzdienstleistungen oder der Zulassung von Wertpapieren zu den Kapitalmärkten beschränkt. Daraus folgt, dass der Umstand, dass diese Regelung auch in anderen Fällen Anwendung finden kann, die Anwendbarkeit von Art. 64 Abs. 1 AEUV unter den darin festgelegten Voraussetzungen nicht behindern kann.

      Zweitens wird diese Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt. Dieser ist nämlich der Auffassung, dass eine Beschränkung des Kapitalverkehrs in Form einer ungünstigeren steuerlichen Behandlung von Dividenden aus ausländischen Quellen unter Art. 64 Abs. 1 AEUV fällt, wenn sie sich auf Beteiligungen bezieht, die zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und unmittelbarer Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Anteilseigner und der betroffenen Gesellschaft erworben wurden und die es dem Anteilseigner ermöglichen, sich tatsächlich an der Verwaltung dieser Gesellschaft oder an deren Kontrolle zu beteiligen (Urteil vom 24. November 2016, SECIL,C‑464/14, EU:C:2016:896, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenso fällt nach Ansicht des Gerichtshofs eine Beschränkung als Beschränkung von Kapitalbewegungen, die mit Direktinvestitionen verbunden sind, unter Art. 64 Abs. 1 AEUV, soweit sie sich auf Investitionen jeder Art durch natürliche oder juristische Personen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen denjenigen, die die Mittel bereitstellen, und den Unternehmen, für die diese Mittel zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmt sind, bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Mai 2008, Orange European Smallcap Fund,C‑194/06, EU:C:2008:289, Rn. 102). Aus diesen Urteilen, insbesondere aus den darin verwendeten Wörtern „wenn“ und „soweit“, geht hervor, dass der Anwendungsbereich von Art. 64 Abs. 1 AEUV nicht vom spezifischen Gegenstand einer nationalen Beschränkung abhängt, sondern von ihrer Auswirkung auf den von dieser Vorschrift erfassten Kapitalverkehr.

      (vgl. Rn. 21, 22, 25, Tenor 1)

    2.  Die Eröffnung eines Wertpapierkontos durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person bei einem Bankinstitut außerhalb der Union wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende fällt unter den Begriff des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Sinne von Art. 64 Abs. 1 AEUV.

      Insoweit ist festzustellen, dass die Kapitalbewegungen, zu denen die Eröffnung eines Wertpapierkontos bei einem Bankinstitut Anlass gibt, mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen im Zusammenhang stehen. Zum einen steht nämlich fest, dass dieses Bankinstitut für den Inhaber dieses Kontos Verwaltungsdienstleistungen bezüglich dieses Kontos erbringt, was als Erbringung von Finanzdienstleistungen einzustufen ist.

      Zum anderen besteht ein Kausalzusammenhang zwischen den betreffenden Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen, da der Inhaber sein Kapital auf einem Wertpapierkonto anlegt, weil er als Gegenleistung vom Bankinstitut Verwaltungsdienstleistungen erhält. Somit besteht in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein hinreichend enger Zusammenhang zwischen den Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen.

      (vgl. Rn. 29-31, Tenor 2)

    3.  Die den Mitgliedstaaten durch Art. 64 Abs. 1 AEUV zuerkannte Möglichkeit, Beschränkungen des Kapitalverkehrs im Zusammenhang mit der Erbringung von Finanzdienstleistungen anzuwenden, gilt auch für Beschränkungen, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende verlängerte Nachforderungsfrist weder für den Dienstleistungserbringer gelten noch die Voraussetzungen oder die Art der Dienstleistungserbringung regeln.

      Hierzu ist festzustellen, dass das entscheidende Kriterium für die Anwendung von Art. 64 Abs. 1 AEUV der Kausalzusammenhang zwischen den Kapitalbewegungen und der Erbringung der Finanzdienstleistungen ist, und nicht der persönliche Anwendungsbereich der streitigen nationalen Maßnahme oder ihr Verhältnis zum Erbringer anstatt zum Empfänger solcher Dienstleistungen. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift wird nämlich durch Bezugnahme auf Kategorien von Kapitalbewegungen definiert, die Gegenstand von Beschränkungen sein können (Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith,C‑560/13, EU:C:2015:347, Rn. 39).

      Der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in erster Linie den Anleger und nicht den Erbringer einer Finanzdienstleistung betrifft, steht folglich der Feststellung, dass diese Maßnahme unter Art. 64 Abs. 1 AEUV fällt, nicht entgegen (Urteil vom 21. Mai 2015, Wagner-Raith,C‑560/13, EU:C:2015:347, Rn. 40). Ebenso wenig steht der Umstand, dass eine nationale Maßnahme in keinem Zusammenhang mit den Voraussetzungen und der Art der Erbringung einer Finanzdienstleistung steht, der Feststellung entgegen, dass diese Maßnahme unter diese Vorschrift fällt.

      (vgl. Rn. 33-35, Tenor 3)

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