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Document 62015CJ0237

    Lanigan

    Rechtssache C‑237/15 PPU

    Minister for Justice and Equality

    gegen

    Francis Lanigan

    (Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom High Court [Irland])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Eilvorabentscheidungsverfahren — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 6 — Recht auf Freiheit und Sicherheit — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Europäischer Haftbefehl — Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls — Art. 12 — Inhafthaltung der gesuchten Person — Art. 15 — Entscheidung über die Übergabe — Art. 17 — Fristen und Modalitäten der Entscheidung über die Vollstreckung — Folgen der Fristüberschreitung“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juli 2015

    Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Umsetzung durch die Mitgliedstaaten – Pflicht zum Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls – Ablauf der im Rahmenbeschluss festgelegten Fristen – Keine Auswirkung – Inhafthaltung der gesuchten Person auch bei einer die genannten Fristen überschreitenden Gesamthaftdauer – Zulässigkeit – Voraussetzung

    (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6; Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 12, 15 Abs. 1 und 17)

    Die Art. 15 Abs. 1 und 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde auch nach Ablauf der in Art. 17 festgelegten Fristen zum Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verpflichtet bleibt.

    Angesichts der zentralen Rolle der Verpflichtung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls in dem durch den Rahmenbeschluss geschaffenen System und des Fehlens jeder ausdrücklichen Beschränkung der zeitlichen Geltungsdauer dieser Verpflichtung im Rahmenbeschluss kann die in dessen Art. 15 Abs. 1 aufgestellte Regel nicht dahin ausgelegt werden, dass sie impliziert, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nicht mehr erlassen kann oder dass der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht mehr verpflichtet wäre, das Verfahren zur Vollstreckung des Haftbefehls fortzusetzen. Eine andere Auslegung wäre geeignet, das mit dem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel einer Beschleunigung und Vereinfachung der justiziellen Zusammenarbeit zu beeinträchtigen, da sie insbesondere den Ausstellungsmitgliedstaat zwingen könnte, einen zweiten Europäischen Haftbefehl zu erlassen, um ein neues Übergabeverfahren innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen zu ermöglichen.

    Überdies ist Art. 12 des Rahmenbeschlusses ist in Verbindung mit dessen Art. 17 im Licht von Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er in einem solchen Fall der Inhafthaltung der gesuchten Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht entgegensteht, auch wenn die gesamte Haftdauer dieser Person die betreffenden Fristen überschreitet, sofern sie nicht in Anbetracht der Merkmale des Verfahrens, das in dem Fall, um den es im Ausgangsverfahren geht, angewandt wurde, übermäßig lang ist.

    Art. 12 des Rahmenbeschlusses sieht nämlich nicht allgemein vor, dass die Inhafthaltung der gesuchten Person nur innerhalb ganz bestimmter zeitlicher Grenzen möglich ist, und insbesondere nicht, dass sie nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen ausgeschlossen ist. Desgleichen ist zwar nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses unter bestimmten Bedingungen eine vorläufige Haftentlassung der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person möglich, doch sieht er nicht vor, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen zu einer solchen bedingten oder gar uneingeschränkten Haftentlassung dieser Person verpflichtet ist.

    Außerdem könnte, da das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls auch nach Ablauf der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen fortgesetzt werden muss, eine allgemeine und unbedingte Verpflichtung zur vorläufigen oder gar uneingeschränkten Haftentlassung der gesuchten Person nach Ablauf dieser Fristen oder bei einer sie überschreitenden Gesamthaftdauer dieser Person die Wirksamkeit des durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Systems beeinträchtigen und damit die Verwirklichung der mit ihm verfolgten Ziele behindern.

    Da die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls als solche keine Inhaftierung der gesuchten Person während eines Zeitraums, dessen Gesamtdauer die für die Vollstreckung dieses Haftbefehls nötige Zeit überschreitet, zu rechtfertigen vermag, steht eine Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde, diese Person in Haft zu halten, jedoch nur dann im Einklang mit Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, wenn das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt wurde und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt. Um sich zu vergewissern, dass dies der Fall ist, muss die vollstreckende Justizbehörde eine konkrete Prüfung der in Rede stehenden Sachlage vornehmen und dabei alle zur Beurteilung der Frage, ob die Verfahrensdauer gerechtfertigt ist, relevanten Gesichtspunkte heranziehen, u. a. die etwaige Passivität der Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten und gegebenenfalls den Beitrag der gesuchten Person zur Verfahrensdauer. Ferner ist zu berücksichtigen, welche Strafe der gesuchten Person in Bezug auf den Sachverhalt, der die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls gegen sie rechtfertigte, droht oder gegen sie verhängt wurde und ob Fluchtgefahr besteht. In diesem Zusammenhang ist auch der Umstand relevant, dass die gesuchte Person während eines Zeitraums in Haft gehalten wurde, dessen Gesamtdauer die in Art. 17 des Rahmenbeschlusses festgelegten Fristen bei Weitem überschreitet, da diese Fristen grundsätzlich, im Hinblick insbesondere auf die wesentliche Rolle des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in dem durch den Rahmenbeschluss geschaffenen System, für die Vornahme der vor der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nötigen Kontrollen und den Erlass der Entscheidung über die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ausreichen.

    Schließlich muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie entscheidet, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, deren vorläufige Freilassung mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist.

    (vgl. Rn. 37, 40, 44, 45, 50, 52, 58-63 und Tenor)

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